Umverteilung des Reichtums

Krisen mit gerechten Steuern und Solidarität begegnen

| 16. Mai 2024
IMAGO / epd

Soll der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden, darf sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht weiter vertiefen. Entsprechend desaströs wäre es, würde der Solidaritätszuschlag abgeschafft.

Das kaskadenhafte Krisengeschehen stellt die Bundesrepublik vor ganz neue Herausforderungen: Hatte die Covid-19-Pandemie erste Preisschübe ausgelöst, etwa bei Nahrungsmitteln und Energie, so verteuerten sich fossile Brenn- und Kraftstoffe infolge des Ukrainekrieges sowie der westlichen Sanktionen gegen Russland noch mehr. Hierdurch gerieten Menschen, die mit ihrem Einkommen ohnehin nicht über den Monat kamen, stark unter Druck.

Umgekehrt profitierten Rüstungskonzerne und ihre (Mit-)Eigentümer nach Beginn des Ukrainekrieges am 24. Februar 2022 von der veränderten Lage, die nicht bloß in Deutschland zu einem Wandel der Sicherheitspolitik führte. Dabei bestätigte sich einmal mehr, dass existenzielle Krisen die Reichen reicher und die Armen zahlreicher machen. Aus diesem Grund muss es neue Instrumente geben, mit denen Spitzenverdiener und Hochvermögende zu mehr finanzieller Verantwortung für das Gemeinwesen herangezogen werden können.

Verteilungskämpfe um den Solidaritätszuschlag

Seitdem die letzte Regierung unter Helmut Kohl die Vermögensteuer 1997 eingefroren und die erste Regierung unter Angela Merkel die Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge 2009 eingeführt hat, ist der Solidaritätszuschlag das steuerpolitische Instrument mit dem größten Umverteilungspotenzial. Durch die beiden genannten (Fehl-)Entscheidungen sind dem Staat nicht bloß präzise Informationen über den Reichtum seiner Bürgerinnen und Bürger entzogen worden, sondern inzwischen auch Hunderte von Milliarden Euro an Einnahmen entgangen.

In der letzten Großen Koalition mit der Union hat die SPD eingewilligt, den im Volksmund liebevoll „Soli“ genannten Solidaritätszuschlag, der für den Bund damals jährliche Einnahmen in Höhe von fast 20 Milliarden Euro erbrachte, schrittweise abzuschaffen und mit einem ersten Schritt im Umfang von 10 Milliarden Euro zu beginnen. Tatsächlich wurden am 1. Januar 2021 auf diese Weise rund 90 Prozent aller „Soli“-Zahler durch eine Freigrenze (mit Gleitzone) vollständig oder teilweise vom Solidaritätszuschlag befreit.

Den nächsten Schritt, die Totalabschaffung des Solidaritätszuschlages, verhinderten in der Ampelkoalition vor allem die Bündnisgrünen. Gleichwohl blieb sie weiter auf der politischen Agenda, denn von mehreren Regierungs- und Oppositionsparteien wurde das „Soli“-Ende immer wieder zum Thema gemacht. Bezeichnenderweise erklärte die sich als Sprachrohr der „kleinen Leute“ inszenierende AfD-Fraktion am 4. Juli 2022 in einem Antrag (BT-Drs. 20/2536, S. 2), die CDU/CSU-Fraktion, die FDP-Fraktion und sie selbst verfügten im Bundestag zusammen über eine Stimmenmehrheit, mit der man die von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gestellte Regierung beauftragen könne, den Solidaritätszuschlags sofort vollständig abzuschaffen. Doch das würde ausschließlich Spitzenverdienern, Kapitaleigentümern und großen Unternehmen nützen.

Friedrich Merz hätte als Einkommensmillionär, der sich zur „gehobenen Mittelschicht“ zählt, obwohl sich zwei Privatflugzeuge und ein schlossähnliches Anwesen am Tegernsee in seinem Besitz befinden, durch die Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlages, für die er gleichfalls plädierte, damals mindestens 24.000 Euro im Jahr sparen können. Verteilungspolitisch wäre die „Soli“-Totalabschaffung aber mehr als fragwürdig gewesen, denn sie würde die Einkommens- und die Vermögensungleichheit in Deutschland durch Entlastung von ausnahmslos wohlhabenden und reichen Bürgern noch verschärfen.

Zur großen Überraschung vieler Beobachter hat der Bundesfinanzhof am 30. Januar 2023 die Klage eines Aschaffenburger Ehepaares gegen den Solidaritätszuschlag negativ beschieden, diesen erneut für rechtmäßig erklärt und den Fall auch nicht ans Verfassungsgericht in Karlsruhe verwiesen. In der Begründung ihres Urteils (Az.: IX R 15/20) konstatierten die Richter: Der Zweck dieser Ergänzungsabgabe – Deckung der Kosten des Vereinigungsprozesses – bestehe zwar noch fort, weil die Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland zumindest noch nicht vollendet sei, aber nach Bewältigung der „Generationenaufgabe“ Deutsche Einheit wegfalle. In diesem Zusammenhang nannte Hans-Josef Thesling, Vorsitzender Richter und Präsident des Bundesfinanzhofes, einen Zeitraum von 30 Jahren, was bedeuten würde, dass der 1995 (wieder)eingeführte Solidaritätszuschlag gegen Mitte der 2020er-Jahre auslaufen müsste.

Auch danach bleibt die Forderung des Grundgesetzes nach Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse freilich aktuell. Dies gilt etwa für rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche, die in „Bürgergeld-Familien“ aufwachsen und sich in bestimmten Regionen (Berlin, Ruhrgebiet/Bremen und Bremerhaven) konzentrieren. Für die Transferleistungsbezieher, Gering- und Normalverdiener wäre der Wegfall des Solidaritätszuschlages ein Danaergeschenk.

Die nicht zufällig vom Bund der Steuerzahler – einer Lobbyeinrichtung von Unternehmen sowie Besser- und Spitzenverdienern – unterstützten Kläger bezweifelten, dass die Ergänzungsabgabe zur Einkommen-, Kapitalertrag- und Körperschaftsteuer nach dem Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 und ihrer Umgestaltung im Jahr 2020 noch erhoben werden darf. Ihr Zweck – die finanzielle Unterstützung des „Aufbaus Ost“ – sei erfüllt und die Konzentration auf Besserverdienende nicht mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz vereinbar. Außerdem sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, weil nicht mehr alle Steuerzahler zu der Ergänzungsabgabe auf die Einkommensteuer herangezogen werden.

Der in Artikel 3 der Verfassung niedergelegte Gleichheitsgrundsatz schließt keineswegs aus, Finanzstarke und -schwache unterschiedlich zu behandeln. Sonst müssten die Steuerprogression und die Gewährung von Freibeträgen ebenfalls für grundgesetzwidrig erklärt werden. Von der Vermögensteuer braucht man in diesem Argumentationszusammenhang gar nicht erst zu sprechen. Sie beweist allerdings, dass der Verfassungsgesetzgeber die Reichen stärker zur Finanzierung der Staatsausgaben heranziehen wollte als weniger Wohlhabende.

Nichts anderes geschieht mittels des Solidaritätszuschlages, insbesondere seitdem ihn bloß noch rund 10 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen und rund 3,5 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen in voller Höhe von 5,5 Prozent auf die Steuerschuld bezahlen müssen. Schließlich macht der Solidaritätszuschlag seinem Namen dadurch alle Ehre, dass er nicht nur auf die Lohn- und Einkommensteuer (von Spitzenverdienern), sondern auch auf die Kapitalertrag- und die Körperschaftsteuer (von Anlegern bzw. Unternehmen) erhoben wird. Wer seine Abschaffung fordert, obwohl ihn bloß noch Spitzenverdiener, Rentiers und Kapitalgesellschaften wie GmbHs und AGs entrichten müssen, während über 90 Prozent aller Steuerzahler davon befreit sind, nimmt eine weitere Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich zumindest billigend in Kauf.

Steuervergünstigungen für Reiche und Konzerne?

Finanzminister Christian Lindner hat den Solidaritätszuschlag, als der Bundesfinanzhof über die Klage verhandelte, demonstrativ nicht wie üblich von Spitzenbeamten seines Hauses verteidigen lassen und damit im Grunde seine Amtspflichten verletzt. Wenn es um die Wiedereinhaltung der Schuldenbremse durch den Bund geht, kehrt Lindner stets seine persönliche Verantwortung für solide Staatsfinanzen heraus. Bietet sich eine Gelegenheit, die Reichsten im Land finanziell noch mehr als bisher zu begünstigen, mutiert der freidemokratische „Sparfuchs“ hingegen zum freigiebigen Geldverschwender. Warum sollten die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag – pro Jahr ca. 13 Milliarden Euro – eigentlich nicht länger zur Haushaltskonsolidierung beitragen?

Vizekanzler Robert Habeck schlug während der Haushaltsdebatte des Bundestages am 1. Februar 2024 vor, ein „Sondervermögen“ für die Industrie aufzulegen. Dies nutzte Christian Lindner für einen neuerlichen Anlauf zur Abschaffung des Solidaritätszuschlages. Nunmehr begründete der Finanzminister seine Forderung damit, die international nicht mehr wettbewerbsfähige deutsche Wirtschaft müsse auf diesem Wege entlastet werden.

Obwohl der Dax im Frühjahr 2024 einen historischen Höchststand nach dem anderen erreicht hat und die 40 gelisteten Konzerne, darunter alle bedeutenden Industrieunternehmen des Landes, ihre (Groß-)Aktionäre durch Ausschüttung der Rekordsumme von fast 55 Milliarden Euro an Dividenden noch reicher gemacht haben, forderte Lindner im Rahmen der „Wirtschaftswende“ außerdem eine Senkung der Körperschaftsteuer von 15 auf 10 Prozent, was den Staat ebenfalls rund 13 Milliarden Euro pro Jahr kosten würde. Wie bei der Diskussion über das Wachstumschancengesetz, dessen Regierungsentwurf unter anderem Steuervergünstigungen für Personen mit einem Jahreseinkommen bis zu 10 Millionen Euro (Verheiratete/Verpartnerte: 20 Millionen Euro) vorsah, ging es überhaupt nicht mehr darum, ob es sinnvoll ist, gewinnträchtige Unternehmen zu subventionieren und damit die sozioökonomische Ungleichheit weiter zu erhöhen. Sondern nur noch darum, wie man dies am effektivsten bewerkstelligt.

Offenbar beherrscht die neoliberale Standortlogik das Denken der Regierungsmitglieder so stark, dass die verteilungspolitischen Konsequenzen ihrer Entscheidungen keine Rolle mehr spielen. Dabei darf sich die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland nicht weiter vertiefen, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet und die AfD von der Regierungsmacht in einzelnen ostdeutschen Bundesländern ferngehalten werden soll.

Es wäre verteilungspolitisch skandalös, für die soziale Kohäsion in Deutschland misslich und für den Bundeshaushalt desaströs, wenn der Solidaritätszuschlag abgeschafft würde. Selbst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hielt in seinem Jahresgutachten 2022/23 vor dem Hintergrund enormer Probleme und der Notwendigkeit, Entlastungsmaßnahmen zugunsten von der Energie(preis)krise hart getroffener Bevölkerungsgruppen passgenau auszugestalten, wenn auch nur vorübergehend Steuer- und Abgabenerhöhungen für denkbar.

Beibehaltung, Umwidmung und Verdopplung des Solidaritätszuschlages

Da wachsende Ungleichheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächt und Gift für die Demokratie ist, sollten finanzstarke Bürger in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen nicht weniger, sondern mehr Verantwortung für die Staatsfinanzen übernehmen. Durch die Umwidmung des Solidaritätszuschlages zu einem Krisensoli und die Verdopplung seiner Höhe von 5,5 Prozent auf 11 Prozent der Steuerschuld könnten Spitzenverdiener, Aktionäre und Konzerne an den Folgekosten der sich überlagernden Krisen (Covid-19-Pandemie, Ukrainekrieg, Energie- und Klimakrise) sowie des inflationären Preisauftriebs für den Staat beteiligt werden.

Wegen der hohen Freibeträge müssen den „Soli“ im Jahr 2024 bloß noch Einzelveranlagte entrichten, die mehr als 18.130 Euro (zusammen Veranlagte: 36.260 Euro) Einkommensteuer bezahlen. Das entspricht einem zu versteuernden Jahreseinkommen von über 68.412 Euro (bei zusammen Veranlagten: über 136.824 Euro). Für diese Steuerzahler beginnt dort eine sogenannte Milderungszone, in welcher der Prozentsatz an zu zahlendem Solidaritätszuschlag schrittweise ansteigt, bis er bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von über 105.500 Euro (zusammen Veranlagte: über 211.000 Euro) in voller Höhe von 5,5 Prozent auf die Steuerschuld fällig wird.

Für Singles mit einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 100.000 Euro, also einem Bruttomonatsverdienst von annähernd 10.000 Euro, wird im Jahr 2024 Einkommensteuer in Höhe von 31.397 Euro und ein Solidaritätszuschlag von 1.578,77 Euro fällig. Würde der Solidaritätszuschlag für die Bewältigung der Pandemie-, Energie- und Klimakrise verwendet und verdoppelt, also für Spitzenverdiener auf 11 Prozent der Einkommensteuerschuld erhöht, beliefe sich die Mehrbelastung gerade mal auf 131,56 Euro im Monat – wohlgemerkt: bei einem Bruttoeinkommen von rund 10.000 Euro. Wer hierüber verfügt, müsste folglich auch dann nicht darben.

Will man neben Spitzenverdienern auch Hochvermögende stärker zur Finanzierung sozialer Ausgleichsmaßnahmen heranziehen, wäre eine Sonderabgabe für den Bund nach Vorbild des Lastenausgleichs des Jahres 1952 denkbar, beispielsweise in Höhe von 10 Prozent des Nettovermögens, gestreckt über einen fünfjährigen Zeitraum – also 2 Prozent pro Jahr. Betroffen davon wären Nettovermögen im Wert von über 1 Million Euro. Die weiteren Freibeträge könnte man analog zur Erbschaft- und Schenkungsteuer ausgestalten. Dann betrügen sie für Ehe- bzw. Lebenspartner 500.000 Euro und für jedes Kind 400.000 Euro. Bei einer vierköpfigen Familie würde die Vermögensabgabe aufgrund der Freibeträge für einen Lebenspartner bzw. eine Lebenspartnerin und zwei Kinder also ab einem Nettovermögen von 2,3 Millionen Euro fällig. Unberücksichtigt bliebe selbstgenutztes Wohneigentum, wenn seine Fläche 200 Quadratmeter nicht überschreitet.

Die beste Steuerpolitik des Nationalstaates schützt diesen nicht vor einer Steuerflucht der Reichen und Hyperreichen, die eher als „Normalbürger“ über Möglichkeiten verfügen, sich im Ausland ihrer Besteuerung zu entziehen. Umso wichtiger ist es, dass auf der internationalen Ebene für eine möglichst gleichmäßige und gerechte Besteuerung sowohl der Bürger wie auch der Unternehmen gesorgt wird. Bezüglich der Letzteren hat der Bundestag zwar am 10. November 2023 die Einführung der globalen Mindeststeuer von 15 Prozent beschlossen, jedoch nicht alle Möglichkeiten der entsprechenden EU-Richtlinie ausgeschöpft, um sie vollumfänglich durchzusetzen.

Ähnliches droht bei der EU-Mindestlohnrichtlinie, nach der 60 Prozent des mittleren Lohns nicht unterschritten werden sollen. Würde der gesetzliche Mindestlohn von 12,41 Euro brutto pro Stunde am 1. Januar 2025 nicht bloß auf 12,82 Euro, wie von den Arbeitgebern zusammen mit der „neutralen“ Vorsitzenden der Mindestlohnkommission beschlossen, sondern auf über 14 oder sogar auf 15 Euro steigen, stiege nicht zuletzt die Krisenresilienz der Geringverdiener.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat kürzlich das Buch „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ veröffentlicht. Am 16. Mai ist sein Buch „Umverteilung des Reichtums“ erschienen.