Kapitalgedeckte Rente

Renten als Geschäftsmodell

| 14. Mai 2024
IMAGO / IPON

Geht es nach der CDU, soll die solidarische Umlagefinanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung eingefroren und durch ein kapitalgedecktes System ergänzt werden. Doch davon profitiert nur die Finanzwirtschaft.

Die CDU hat ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet, das eine Kehrtwende in der Sozialpolitik mit drei Schwerpunkten fordert:

  • Das von der Ampel-Koalition eingeführte Bürgergeld soll durch eine Grundsicherung ersetzt werden, die Anreize zur Aufnahme einer Arbeit bietet. Im Klartext: Die Sanktionen bei Nichtannahme einer angebotenen Arbeit sollen verschärft werden.
  • Das Kostenbewusstsein der gesetzlich Krankenversicherten soll gestärkt werden. Im Klartext: Die Zuzahlungen der Patientinnen und Patienten werden erhöht.
  • Die gesetzliche Rente soll durch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge ergänzt werden. Im Klartext: Die umlagefinanzierte dynamische Rente soll eingefroren und die Altersvorsorge zunehmend der privaten Finanzwirtschaft anvertraut werden.

Vorwärts in die Vergangenheit

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz ist mächtig stolz auf die konservative „Erkennungsmelodie“ des Programms, die aber „nicht rückwärts, sondern nach vorne geschrieben“ worden sei, wie er in der Tagesschau erzählt. In seiner sauerländischen Heimat mögen viele Leute das so sehen. Daher stammte auch der frühere Bundespräsident Heinrich Lübke, der in den 1960er Jahren die dörfliche Zwergschule als bildungspolitisches Vorbild anpries.

Die Reform der sozialen Grundsicherung wird der CDU schwerfallen. Denn das von ihr abgelehnte Bürgergeldgesetz der Ampelkoalition beruht auf einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es stuft die mit dem Hartz-IV-Gesetz eingeführten Sanktionen gegen Empfänger des früheren Arbeitslosengelds II, die eine angebotene Arbeit ablehnen, als Verstoß gegen die Menschenwürde ein. Das Gericht machte konkrete Vorgaben für die Grenzen der Leistungskürzungen, die im Bürgergeldgesetz eins zu eins umgesetzt wurden. Der Bundesrat hat dem Gesetz zugestimmt. Was die CDU konkret an diesem Gesetz ändern will, ohne sich damit eine Klage in Karlsruhe einzuhandeln, verraten Friedrich Merz und sein Messdiener Carsten Linnemann nicht.

Im Gesundheitswesen setzen sie auf „die Eigenverantwortung und wollen das Kostenbewusstsein der Versicherten stärken.“ Diese abgeschmackte Phrase ist ein sicherer Indikator für gesundheitspolitische Ignoranz. Die Sanierung von Krankenhäusern und eine bedarfsgerechte Verteilung von Arztpraxen ist keine Frage der Zahlungsbereitschaft von Versicherten, sondern die Aufgabe der Gesundheitspolitik. Zur Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung macht die CDU keine Vorschläge. Außerdem buddelt sie eine gesundheitspolitische Leiche wieder aus, die sie selbst begraben hatte. Die auf ihren Druck 2004 eingeführte Praxisgebühr bei Arztbesuchen wurde von der schwarz-gelben Koalition 2013 wegen ihrer Wirkungslosigkeit und unnützen Bürokratie abgeschafft.

Das sozialpolitische Kernprojekt der CDU ist der Umbau der Rentenfinanzierung vom solidarischen Umlageverfahren zur Kapitaldeckung. Das ist nicht nur ein teurer Holzweg, damit verabschiedet sich die CDU auch von ihrer eigenen sozialpolitischen Tradition. Der geistige Vater der 1957 eingeführten umlagefinanzierten „dynamischen Rente“ war der Geschäftsführer des Bundes katholischer Unternehmer Wilfrid Schreiber, den Konrad Adenauer mit der Erarbeitung von Strukturen einer Rentenreform beauftragt hatte. Schreiber stützte sich auf empirische Untersuchungen des Sozialökonomen Gerhard Mackenroth.

Auf Basis dieser Expertisen einigten sich die Sozialpolitiker der CDU/CSU und der SPD auf die Einführung der dynamischen Rente mit einer jährlichen Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung. Zugleich wurden die Altersrenten, deren Niveau damals unter dem Existenzminimum lag, deutlich angehoben. Das trug mit zum Wahlsieg Adenauers bei, der ihm und der Union eine absolute Mehrheit einbrachte. Seither waren alle größeren Sozialreformen wie die arbeitsrechtliche Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten oder die Einführung der sozialen Pflegeversicherung das Produkt einer Zusammenarbeit der Sozialpolitiker in der Union und der SPD.

Eine Koalition von „Herz-Jesu-Marxisten“ (Franz-Josef Strauß) und Sozialdemokraten war Leuten wie Friedrich Merz schon immer ein Graus. Mit einer umfassenden Sozialversicherung für die gesamte Bevölkerung hatten Protagonisten der „Sozialen Marktwirtschaft“ wie Ludwig Erhards Mastermind Alfred Müller-Armack[1] nichts im Sinn. Sie wollten den Sozialstaat auf eine als Grundsicherung getarnte Armenfürsorge und die Unterstützung kinderreicher Familien beschränken. Die Absicherung sozialer Risiken wie Alterung, Krankheit und Pflege sollte der privaten Eigenvorsorge überlassen bleiben. Diese in den 1940er Jahren entwickelte Idee will die aktuelle CDU-Führung reanimieren und „Deutschland zu einem Land der Eigentümer“ machen.

Misstrauische Gralshüter

Diesem Versprechen trauen die ordnungspolitischen Gralshüter der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) nicht. Ihr für das Wirtschaftsressort verantwortlicher Herausgeber Gerald Braunberger stellt die Frage, „wie ernst die Christdemokraten aus wirtschaftspolitischer Sicht ihr Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft meinen.“ Die Redakteure Dietrich Creutzburg und Philipp Krohn werfen der Union sogar eine „gefährliche Rentenrolle rückwärts“ vor, weil sie mit der SPD in der Rentenpolitik nach wie vor gemeinsame Sache mache.

Horst Seehofer habe 2016 festgestellt: „Wir brauchen eine große Rentenreform. Riester ist gescheitert.“ Aber statt die private Altersvorsorge auf neue Füße zu stellen, „zog die Union mit einer Rente für Mütter vor 1992 geborener Kinder in den Wahlkampf.“ Dieser Vorgang stehe „sinnbildlich für einen radikalen Kurswechsel der Alterssicherungspolitik“, der auf eine „Reform oder Reparatur der Privatvorsorge und ihrer staatlichen Förderung verzichte.“

Das sei nicht nur sozial-, sondern auch wirtschaftspolitisch verhängnisvoll. Die in die Rentenkasse fließenden Steuergelder gingen zulasten von Zukunftsinvestitionen: „Der Investitionsstau hat demnach mehr mit der Rente zu tun als mit der Schuldenbremse.“ Für die marode Verkehrsinfrastruktur, heruntergekommene Schulen und Krankenhäuser und das Chaos bei der Deutschen Bahn sind also Wahlgeschenke der Union für die eigentlich gut situierten Rentner verantwortlich.

Es fällt schwer, mit diesem geballten Unsinn in sachlichem Ton umzugehen. Er basiert auf wirtschaftstheologischen Dogmen, mit denen die Wirtschafts- und Sozialpolitik zur Glaubensfrage gemacht wird. Darauf verweist auch das oben zitierte Verlangen von FAZ-Herausgeber Braunberger nach einem „Bekenntnis“ zur Sozialen Marktwirtschaft. Den Maßstab für die ökonomische Vernunft wirtschafts- und sozialpolitischer politischer Programme setzen demnach nicht reale Verteilungs- und Produktivitätseffekte, sondern die Befolgung oder Abweichung von ordnungspolitischen Glaubenssätzen.

Kapitaldeckung und Geschäftsinteressen

In der Rentenpolitik ist der Prüfstein der FAZ für sozialpolitische Korrektheit die Pflicht zum Abschluss einer privaten Rentenversicherung. Die Leistungen der Deutschen Rentenversicherung sollen eingefroren und die Rentnerhaushalte zunehmend von den Erträgen kapitalgedeckter Fonds leben. Die FAZ sieht darin ein in jeder Hinsicht vorteilhaftes Projekt. Die dadurch sinkenden Sozialabgaben würden die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft fördern und die demografischen Risiken nachhaltiger abfedern als das Umlageverfahren. Denn das Ansparprinzip könne „dank globaler Anlage erfolgreich sein, wenn die ökonomischen Bedingungen im Inland schwieriger werden.“

Das ist reines Wunschdenken und läuft auf die Auslieferung der Altersvorsorge an den politisch kaum beeinflussbaren internationalen Kapitalmarkt hinaus. Zudem unterstellt die Auslagerung demografischer Risiken in andere Volkswirtschaften, dass diese keine Probleme mit einer alternden Bevölkerung haben und ihre Wertschöpfung genügend Spielraum bietet für eine Subventionierung der deutschen Alterungsrisiken. Aber die meisten entwickelten Volkswirtschaften haben selbst ein Demografieproblem und können nicht auch noch unseres mit schultern.

Außerdem legen große Rentenfonds anderer Länder ihr Geld in Deutschland an, insbesondere in der Immobilienwirtschaft. Die in den vergangenen Jahren in den Metropolregionen rasant gestiegenen Mieten und Immobilienpreise sind nicht zuletzt auf das wachsende Interesse von Pensionsfonds an der komfortable Renditen einbringenden Wohnungswirtschaft zurückzuführen. Die kapitalgedeckten Renten werden also auch von der zu Lasten der Durchschnittverdiener gehenden Immobilienspekulation finanziert.  

Aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, die Umstellung auf eine kapitalgedeckte Rente senke die Arbeitskosten. Die diesem Ziel angeblich dienende Eingrenzung der Sozialabgaben auf vierzig Prozent der Bruttolöhne ist schon deshalb unsinnig, weil die Arbeitskosten über die direkten Lohnzahlungen weit hinausgehen und auch Krankengeld, Aus- und Weiterbildungskosten und sonstige betriebliche Sozialleistungen umfassen. Rechnet man diese Faktoren hinzu, kommt man auf einen Anteil der Lohnnebenkosten von 27 Prozent, was dem EU-Durchschnitt entspricht. Außerdem verschwinden die Sozialabgaben als Kostenfaktor nicht mit einer Umstellung auf Kapitaldeckung. Für eine Zusatzversicherung müssen Beiträge gezahlt werden, die zu den Lebenshaltungskosten gehören und bei den Tarifverhandlungen geltend gemacht werden.

Der unter sozialen Gesichtspunkten wohl wichtigste Vorteil der solidarischen Umlagefinanzierung besteht in der regelmäßigen Anpassung der Renten an die Löhne und Lebenshaltungskosten. Eine solche Dynamik können kapitalgedeckte Rentenfonds grundsätzlich nicht bieten, weil deren Parameter von ihren Aktuaren nicht kalkuliert werden können. Der Garantiezins für private Lebensversicherungen ist  zudem in den vergangenen Jahren stetig gesunken. Altersarmut kann nur mit einer Umlagefinanzierung verhindert werden.

Die Niederlande werden als Vorbild für die Umstellung auf ein kapitalgedecktes Rentensystem gepriesen. Dort zahlen fast alle Erwerbstätigen in betriebliche Rentenkassen ein, die jährlich eine Rentensumme von etwa 30 Milliarden Euro auszahlen. Ihr Anlagevermögen wird von Finanzgiganten wie Blackrock und Vanguard betreut, die dafür Provisionen von acht bis neun Milliarden Euro kassieren. Die Overheadkosten liegen also bei 25 bis 30 Prozent des Pensionsvolumens. Die Deutsche Rentenversicherung gibt für ihre Verwaltung dagegen nur 1,2 Prozent der Rentensumme aus.

Die von der CDU geforderte Umstellung der Altersvorsorge von der solidarischen Umlagefinanzierung auf Kapitaldeckung nutzt nur der Finanzwirtschaft, und sonst niemandem. Friedrich Merz saß bekanntlich jahrelang im Aufsichtsrat der deutschen Filiale von Blackrock. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?  

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[1] Müller Armack war in den 1950er Jahren Leiter der Grundsatzabteilung im von Ludwig Erhard geführten Wirtschaftsministerium.