Verfassungsschutz

AfD-Gutachten: Mehr als nur ein Kollateralschaden

| 15. Mai 2025
IMAGO / Future Image

Das geleakte Geheimgutachten des Verfassungsschutzes ist ein Dokument der Willkür. Indem auch harmlose Äußerungen als verfassungsfeindlich eingestuft werden, legt die Behörde Hand an die Meinungsfreiheit.

Es war eine der letzten Amtshandlungen von Nancy Faeser als Innenministerin. Und der Zeitpunkt schien passend – die AfD war dabei, in den Umfragen nach der Bundestagswahl erstmals die CDU/CSU ein- und sogar zu überholen. Ende April kletterte die AfD auf einen Rekordwert von 26 Prozent. Da verkündete die Innenministerin vor wenigen Tagen die Hochstufung der AfD durch den Verfassungsschutz – nach Monaten der Zurückhaltung und ungeprüft durch das Ministerium – als „gesichert rechtsextremistisch“.

Vielleicht sollte dieser Schritt an die Öffentlichkeit das Vermächtnis der SPD-Politikerin sein, die den „Kampf gegen Rechtsextremismus“ von Anfang an zu ihrer Chefsache machte. Im Juli 2023 hatte sie im Rahmen der Präsentation des Verfassungsschutzberichts für das Jahr 2022 wiederholt betont, dass dieser „die größte Bedrohung für die Demokratie“ darstelle. Schon Anfang 2022 verstieg sie sich auf die Frage eines Journalisten, wie sie denn diese Bedrohung begründe, zu der erstaunlichen Behauptung, nur der Rechtsextremismus wende sich explizit gegen die „demokratische Grundordnung.“ Dass Faeser im gleichen Jahr den „Expertenkreis Politischer Islamismus“ schloss, ist in diesem Zusammenhang mehr als eine Fußnote.

Das Gutachten hat eine Vorgeschichte

Thomas Haldenwang, bis Ende letzten Jahres Faesers eifriger Mitstreiter als Chef des weisungsgebundenen Verfassungsschutzes, zog es vor zu Schweigen. Allerdings nicht lange. Denn unter seine bis zum 13. November 2024 währende Amtszeit fällt die Vorgeschichte jenes Geheimgutachtens, dass der Verfassungsschutz nun zur AfD vorgelegt hat. Unter Verstoß gegen das beamtenrechtliche Neutralitäts- und Mäßigungsgebot sagte Haldenwang im November 2023 mit Blick auf eine mögliche Bundesregierung mit Beteiligung der AfD: „Wir müssen jetzt tätig werden, um so etwas in sieben Jahren vielleicht zu verhindern.“

Nur wenige Monate später, im Februar 2024, kündigten Faeser und Haldenwang auf einer Pressekonferenz in verblüffender Offenheit an, auch gegen Meinungsäußerungen vorgehen zu wollen, die nicht strafbar sind – will heißen: Meinungen, die eine „verfassungsrechtlich relevante Delegitimierung des Staates“ vermuten lassen sollen. Ins Fadenkreuz geraten kann damit im Grunde jegliche etwas schärfer vorgetragene Kritik an der Regierung.

Schon das zeigt, wie sehr der Verfassungsschutz spätestens unter Haldenwang zum politischen Instrument der Regierung geworden ist. Die Unschärfe der Begrifflichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit des Inlandgeheimdienstes und seine Gutachten, wie der Journalist Mathias Bordkorb in seinem 2024 erschienen Buch Gesinnungspolizei im Rechtsstaat. Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik fakten- und detailreich darlegt. Mit dem Ergebnis, dass fast jeder nach ihrer Lesart ein Extremist sein kann. Die Konstruktionen des Verfassungsschutzes greifen bis in die Mitte der Gesellschaft.

Genau dieser schwere Makel schien auch der jetzigen und vorläufig wieder zurückgenommenen Hochstufung der AfD zugrunde zu liegen. Das geleakte, über 1000-seitige Geheimgutachten des Verfassungsschutzes, in den Worten des ZDF ein „Protokoll der Radikalisierung“, sollte die finale Beweisführung für alle selbsternannten „Demokraten“ sein, die sich schon immer wünschten, dass die AfD nicht rechts, sondern „gesichert rechtsextrem“ zu sein habe. Nicht einzelne Landesverbände oder Parteimitglieder, sondern die Gesamtpartei.

Fragwürdige Methoden

Doch mit dem unfreiwilligen Ende der Geheimniskrämerei durch den Cicero bestätigt sich: das Gutachten bedient sich jener fragwürdigen Methoden, die zuvor schon die Landesbehörden des Verfassungsschutzes nicht nur bei der AfD angewandt hatten. Auch der Bundesverfassungsschutz bohrt auf dickem Papier dünne Bretter: er stützt sich fast ausschließlich auf öffentlich zugängliche Quellen, relevante geheimdienstliche Quellen, die es zu schützen gälte, gibt es nicht, wie Brodkorb für den Cicero konstatiert: „Der Verfassungsschutz verfügt in Sachen AfD im Grunde über keinerlei geheimdienstlich relevante Erkenntnisse.“

Und weil sich auch im Parteiprogramm der AfD keine verfassungsfeindlichen Inhalte finden lassen – die Partei selbst beruft sich dort explizit auf das Grundgesetz –, zieht die Behörde Aussagen einzelner Parteimitglieder heran. Dabei werden sowohl fraglos rechtsextreme und widerwärtige als auch mehrheitlich völlig „harmlose“ bzw. legitime Äußerungen in einen Topf geworfen, umgerührt und gleichermaßen als verfassungswidrig eingestuft.

So wird einem AfD-Mitglied, um nur ein Beispiel herauszugreifen, folgende Aussage zur Last gelegt: „Verfehlte Migrationspolitik und Asylmissbrauch habe zum 100.000-fachen Import von Menschen aus zutiefst rückständigen und frauenfeindlichen Kulturen geführt.“

Die Aussage mag man – wie viele andere, die im Gutachten zitiert werden – ob ihrer Tonalität, Wortwahl und Polemik verurteilen. Objektiv gesehen ist ihr aber kein Verstoß gegen die Verfassung zu entnehmen. Es handelt sich um eine Meinungsäußerung. Wieder Brodkorb, der sich durch das gesamte Opus Magnum des Verfassungsschutzes wälzte:

„In dem Gutachten befinden sich natürlich auch Aussagen, die verfassungsfeindlich, mindestens aber geschmacklos sind. Nach kursorischer Lektüre bewegen sich rund 20 Prozent aller zitierten Aussagen in einem Umfeld, bei dem die Frage nach der Verfassungsfeindlichkeit zumindest nicht an den Haaren herbeigezogen ist. Aber in den 80 Prozent anderen Fällen bietet der Verfassungsschutz ein intellektuell beklagenswertes Bild, das selbst an Verschwörungstheorien erinnert.“

Zu ähnlichen Schlüssen kommen auch der Rechtswissenschaftler Volker Boehme-Neßler oder die Berliner Zeitung, die bemängelt, dass das „Copy-Paste-Gutachten“ Gerichtsurteile abgeschrieben habe, die sich zum Teil gar nicht auf die AfD bezogen. Diese Angreifbarkeit ist offenbar auch der wesentliche Grund, warum das Gutachten geheim gehalten wurde – denn zu schützende Quellen, die dies gerechtfertigt hätten, gibt es ja nicht. Dafür aber viele Interpretationen und Assoziationsketten.

Der Schaden könnte größer nicht sein

Keinesfalls soll damit der AfD die Absolution erteilt werden. Ob die Partei als Ganzes letztlich nun verfassungstreu, ein Verdachtsfall oder doch „gesichert rechtsextrem“ sein mag, soll und kann hier nicht beurteilt werden. Es geht um etwas anderes.

Zum einen haben Faeser und der Verfassungsschutz einmal mehr dem Verdacht Vorschub geleistet, dass die Antwort auf diese Frage bereits vor der Erstellung dieses Gutachtens feststand, und das Gutachten damit nur Mittel zum Zweck ist: die „Brandmauer“ zu stärken und der CDU die Handlungsoptionen jenseits einer geschrumpften linken Mitte zu nehmen, die demoskopisch längst nicht mehr in der Mehrheit ist.

Zum anderen: Der damit angerichtete Schaden könnte größer nicht sein. Das – gelinde gesagt – definitorisch schlampige und willkürliche Vorgehen des Verfassungsschutzes unterhöhlt nicht nur das ohnehin schon beschädigte Vertrauen in die staatlichen Institutionen weiter. Gleichzeitig werden mit ihm Millionen Wähler und sonstige der AfD nicht nahestehende Kritiker des Status Quo, von Waffenlieferungen, der Globalisierung, der Migrationspolitik oder des Islamismus ebenfalls in die Nähe der Verfassungsfeindlichkeit gerückt.

Ob es sich hier um einen Kollateralschaden oder vielmehr eine wohlkalkulierte Einschüchterung handelt, sei wohlwollend dahingestellt. Klar aber ist: Wenn etwa die Thematisierung der fraglos vorhandenen Probleme der unregulierten Migration und des mit ihr stärker werdenden politischen Islams bereits verfassungsfeindlich sein sollen, dann verfehlt der Inlandsgemeindienst nicht nur seinen ursprünglichen Zweck. Er legt auch Hand an das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit. Das ist Wasser auf die Mühlen der AfD.

Mit anderen Worten: Das Geheimgutachten des Verfassungsschutzes hilft nicht, die Verfassung zu schützen. Es bewirkt das Gegenteil, weil sich in ihm ein Generalangriff auf die Zulässigkeit regierungskritischer Standpunkte und damit auf die plurale Demokratie an sich verbirgt. Das sollte auch jene wachrütteln, die der AfD aus guten Gründen nicht nahestehen. Der Verfassungsschutz ist selbst zu einem Beobachtungsfall geworden.