Bedarfswirtschaft

Zoodirektoren und artgerechte Menschenhaltung

| 15. Mai 2025
@midjourney

Ökonomen denken wie Nutzviehhalter: Statt für ein artgerechtes Umfeld zu sorgen, zählt für sie nur der Ertrag.

Es sieht nicht gut aus im Stall Schweiz: Die Geburtenrate ist auf unter 1,3 Kinder pro Frau gesunken. Laut der neuesten Gesundheitsstudie der CSS fühlen sich 68 Prozent der Schweizer öfter mal müde oder erschöpft, 42 Prozent leiden und Schmerzen oder Stress und gut zwei Fünftel erwischt jedes Jahr mindestens eine Grippe. Und gemäß dem Bundesamt für Statistik sind die Gesundheitsausgaben letztes Jahr auf 97 Milliarden Franken oder rund 900 Franken pro Kopf und Monat gestiegen. Das sind rund 16 Prozent des Nettosozialprodukts.

Zum Vergleich: Die Veterinärkosten pro Milchkuh liegen bei rund 25 Franken pro Monat, beziehungsweise bei rund 2,5 Rappen pro Liter Milch, beziehungsweise bei rund 3,5 Prozent des Nettoertrags. Warum dieser Vergleich? Hohe Veterinärkosten und zu wenige Geburten sind für Nutzviehhalter ein klares Indiz dafür, dass sie ihre Tiere nicht artgerecht halten. Warum? Falsches Futter? Zu wenig Auslauf? Stress im Stall? Geschwächtes Immunsystem? Von allem zu wenig?

Genau diese Fragen sollten sich Politiker und Ökonomen auch stellen. Aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Milch- oder Fleischertrages – wie Nutzviehhalter das tun müssen. Sondern eher wie Zoodirektoren, die ihren Tieren unter den naturfernen Bedingungen eines Zoos dennoch ein möglichst artgerechtes Ambiente bieten müssen.

Doch leider wird unser Zusammenleben nicht nach der Logik von Zoodirektoren organisiert, sondern nach der von Nutztierhaltern. Konkret: Wir werden nicht so gehalten, dass wir möglichst gut – sprich artgerecht – leben können, sondern so, dass wir möglichst viel BIP generieren.

Zu diesem Zweck gilt etwa in der EU die Personenfreizügigkeit als grundlegende Errungenschaft. Sie sorgt dafür, dass jede Arbeitskraft punktgenau dann und dort eingesetzt wird, wo sie unter den aktuellen Marktbedingungen gerade den höchsten BIP-Ertrag generiert. Ob, wo und wann wir arbeiten, entscheidet der Markt.

Und er entscheidet auch, wo wir wohnen. Nämlich dort, wo wir (die ärmeren 60 Prozent) uns die Miete gerade noch leisten können, ohne dass der Arbeitsweg allzu lang wird – oder dort, wo unsereins (die reicheren 10 Prozent) aktuell am wenigsten Steuern bezahlen. Überall herrscht Konkurrenz – vor allem auf den Arbeitsmarkt. Der ist so organisiert, dass die Arbeitssuchenden gezwungen sind, ständig besser zu sein als die Konkurrenten, sich ständig weiterzubilden und immer noch mehr aus sich herauszuholen.

In dieser Logik wird immer mehr unbezahlte Arbeit aus Familie und Nachbarschaft in Erwerbsarbeit umgewandelt. Für die Nutzvieh-Ökonomen ist das ein Fortschritt, denn für sie zählt nur die Maximierung des BIP. Doch wenn wir im Sinne von Zoodirektoren davon ausgehen, dass der Zweck des Wirtschaftens das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl ist, dann muss die Frage erlaubt sein, ob bezahlte Arbeit wirklich mehr Nutzen bietet als unbezahlte.

Fast 7000 Franken für die Kita

Zunächst: Der Nutzen der Arbeit liegt nicht nur in ihrem Produkt, sondern auch in der Art und Weise, wie sie unser soziales Leben beeinflusst und ob uns die Arbeit an sich – nicht bloß deren Produkt – Freude macht. Hier hat die unbezahlte Arbeit große Vorteile. Alle Lebewesen werden von der Evolution genetisch auf Überleben programmiert. Beim Menschen hängt dieses in besonders hohem Maß von der Solidarität ab. Deshalb wird solidarisches Handeln und Arbeiten unter Familienangehörigen und guten Bekannten vom Belohnungszentrum in unserem Gehirn mit der Ausschüttung von Glückshormonen belohnt. Und wir haben eine – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – genetisch verankerte Abneigung gegen Ungerechtigkeit und gegen Trittbrettfahrer.

Das ist unsere artspezifische biologische Ausstattung. Die US-amerikanische Philosophin und Ökonomin spricht vom „Tier Mensch“ und fordert eine Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, die auch diese Gegebenheiten Rücksicht nimmt. Dabei kommt es in erster Linie auf die richtige, für den „Tier Mensch“ gerade noch erträgliche Dosierung des Marktprinzips an. Dank der Erfindung des Geldes vor wenigen tausend Jahren können wir inzwischen auch mit Fremden in großen Stil handeln, uns spezialisieren, und damit den materiellen Wohlstand deutlich steigern.

Wir haben jetzt zwei Mechanismen, mit denen wir unsere produktiven Tätigkeiten koordinieren können – Markt oder geldlose Bedarfswirtschaft. Damit stellt sich die Frage, welcher Koordinationsmechanismus für welche Bedürfnisse am besten geeignet ist. Nutzvieh-Ökonomen würden immer den Marktmechanismus bevorzugen, weil nur so etwas geschaffen wird, was sie zählen können – das BIP.

Nehmen wir das elementare Bedürfnis Hüten und Erziehen von Kleinkindern. Bis vor kurzem war dies noch klar eine Sache der Eltern, der Familie und der Nachbarschaft. Die entsprechenden Tätigkeiten wurden nicht als Arbeit betrachtet, sondern, siehe oben – von der Natur mit Glückhormonen belohnt.

Doch inzwischen haben sich wegen den langen Arbeitswegen, unregelmäßigen Arbeitszeiten, hohen Mieten, Gentrifizierung etc. die Rahmenbedingungen der Bedarfswirtschaft so sehr verschlechtert, dass es Kitas braucht, um das System am Laufen zu halten. Die Betreuung unserer Kinder ist zur Erwerbsarbeit geworden und wird auch überwiegend so empfunden. Vom Standpunkt der Glückshormone ist das ein klarer Rückschritt.

Doch die zeitlichen und finanziellen Kosten sind hoch: Die Kita-Fachkräfte müssen drei Jahre lang ausgebildet werden, müssen sich bewerben, einen Arbeitsvertrag unterschreiben, sie haben lange Arbeitswege und sie müssen wegen der hohen Fluktuationsrate alle drei bis vier Jahre durch neue ersetzt werden. Auch für die Eltern sind Kitas zeitaufwendig. Sie müssen eine Kita finden, Papierkram erledigen, das Kind zuhause kita-fertig machen, in die Kita bringen, dort wieder abholen.

Und vor allem müssen die Eltern – oder der Staat – zahlen. Die zur Arterhaltung nötigen zwei Kinder etwa kosten bei der Kita Regenbogen in Zürich in der Frühphase (ein Baby plus ein Kleinkind) bei einer Vollbetreuung während der Wochentage monatlich 6798 Franken. Bei einem Lohn von durchschnittlich 4700 Franken entspricht dies fast anderthalb Vollzeitstellen. Der volkswirtschaftliche Zweck der KITAs besteht darin, Eltern den Eintritt oder den Verbleib im Erwerbsleben zu erleichtern und damit den Fachkräftemangel zu beheben. Doch zwei Kleinkinder lassen selbst bei eine Kita-Vollbetreuung kaum Zeit für mehr als zweimal ein 80 Prozent Erwerbspensum. Bleibt ein "Gewinn" von 60 Stellenprozenten, der aber mit gut doppelt so vielen Stellenprozenten Kitapersonal erkauft werden muss. Diese Rechnung geht nicht auf.

Utopie geldlose Bedarfswirtschaft?

Die Kitas sind nur eines der vielen Beispiele dafür, dass artgerecht im Zweifelsfall effizienter ist als marktgerecht. Der Markt, beziehungsweise das Geld dient dem Austausch mit Fremden und ist die Grundlage für die Arbeitsteilung und Spezialisierung und die verbundene gewaltige Produktivitätssteigerung.

Der Markt ist aber auch mit einem riesigen Koordinations- und Kontrollaufwand verbunden. Der Markt reagiert nicht nur auf die eigenen Bedürfnisse, sondern auch auf Kaufkraft von Fremden, die wir mit viel Werbeaufwand erst wecken und mit Marktforschung ergründen müssen. Wir brauchen ein Finanzsystem, das inzwischen rund 15 Prozent des BIP verschlingt. Weil sich der Arbeitsbedarf nicht mehr aus dem eigenen Bedarf ergibt, brauchen wir eine Arbeitsmarktbürokratie. Weil der Markt die Einkommen sehr ungleich verteilt, braucht es auch noch eine Umverteilungsbürokratie und so weiter. Wir verschwenden inzwischen einen beträchtlichen Teil unserer Arbeits- und Nervenkraft bloß noch darauf, die zunehmende Komplexität der Marktwirtschaft zu bewältigen.

In der geldlosen Bedarfswirtschaft hingegen werden wir in eine Produktions- und Konsumgemeinschaft geboren. Wir müssen uns nicht bewerben und können nicht entlassen werden. Wir reagieren direkt auf die eigenen Bedürfnisse. Wir bewegen uns, wie es der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Wirtschaftshistoriker Kai Michel in ihrem Buch "Das Tagebuch der Menschheit – was die Bibel über unsere Evolution verrät" formuliert haben, in der "ersten Natur". "Sie meldet sich als Intuition und Bauchgefühl zu Wort und ist "die Grundlage für ein reibungsloses Funktionieren des Menschen in der Gesellschaft."

Evolutionsbiologen mögen sich darüber streiten, ob die Menschheit mit der Erfindung des Geldes tatsächlich aus dem Paradies vertrieben worden ist und ob wir ohne Markt heute besser dastünden. Doch wir haben den Markt nun mal und müssen lernen, mit diesem Geschenk der Evolution vernünftig umzugehen. Dieser Lernprozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Klar ist vorerst nur: Wir haben den Markt bisher stark überdosiert mit der Folge, dass wir uns gefährlich weit von einer artgerechte Menschenhaltung entfernt haben.