Doctorows und Petros Friedensplan: so provokativ wie vernünftig
Eine dauerhafte Friedensregelung muss berücksichtigen, dass der Ukraine-Konflikt nicht mit dem Abzug der russischen Truppen beendet sein wird.
Vorwort
Der folgende Vorschlag für eine dauerhafte Friedensregelung zwischen der Ukraine und Russland wurde bereits am 11.6.2022 in der US-amerikanischen Fachzeitschrift für internationale Beziehungen „The National Interest“ veröffentlicht. Der Vorschlag erschien, bevor Russland im September 2022 die von ihm besetzten Gebiete im Osten der Ukraine annektierte, er ist aber trotzdem noch aktuell. Wir müssen leider heute mehr denn je davon ausgehen, dass beide Kriegsparteien – Russland auf der einen und Ukraine mit dem Westen auf der anderen Seite – einen Sieg in diesem Krieg erringen und nicht über einen gemeinsamen Friedensplan reden wollen.
Wie immer dieser Krieg endet, es wird an seinem Ende günstigsten Falls ein eingefrorener Konflikt stehen, der der Region keinen dauerhaften Frieden bringen wird. Stabilität und Sicherheit kann es aber nur durch einen verhandelten Frieden geben. Auch wenn ein solcher Vorschlag zurzeit kein öffentliches Gehör finden wird, möchten wir mit der deutschen Veröffentlichung des Friedensplanes von Doctorow und Petro daran erinnern, welche humanen Alternativen es zu einer Fortsetzung des Krieges gibt. Der besondere „Witz“ des Vorschlages von Doctorow und Petro ist, dass sie den militärischen Konflikt durch eine Konkurrenz der Systeme ersetzen wollen: durch einen Wettbewerb zwischen dem Westen und Russland um die Menschen in der Ukraine.
Schaffung einer dauerhaften Friedensregelung für die Ukraine
Die derzeitige Strategie des Westens in der Ukraine ist wenig friedensfördernd, denn sie klammert wichtige Aspekte des aktuellen Konflikts aus. Weder werden die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine beachtet, noch korrigiert man das dreißigjährige Versäumnis, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu schaffen, das Russland einschließt. Beides sind Fragen, die für Russland von größter Bedeutung sind. Die Beziehung zwischen ihnen mag für viele im Westen nicht ersichtlich sein, aber aus russischer Sicht zeugen beide von einer Mentalität, die westliche Interessen und Werte auf Kosten der russischen Interessen durchzusetzen sucht.
Genau wegen dieser Mentalität war der Westen überrascht, als Russland plötzlich die Initiative ergriff, und seine Interessen mit militärischen Mitteln geltend machte. Das brachte den Westen in eine Zwickmühle, in der ihm nur wenige Optionen zur Verfügung stehen. Die von ihm bevorzugten Zwangsmittel – Wirtschaftssanktionen – verlieren im Laufe der Zeit zwangsläufig an Wirksamkeit, so wie es auch in anderen Ländern der Fall war, die immer geeignete Alternativen fanden, um die Abhängigkeit vom Westen zu verringern. Zudem hat Russland mit seiner Bedeutung für die Versorgung der Welt mit lebenswichtigen Rohstoffen wie Öl, Gas, Getreide und Düngemitteln zusätzlichen wirtschaftlichen Spielraum.
Die vom Westen angestrebte politische Isolierung übt zwar einen gewissen Reiz für die PR aus, beschränkt aber die Möglichkeiten, Russland zur Zusammenarbeit in anderen lebenswichtigen Fragen zu bewegen, und zwingt Moskau zu neuen – unweigerlich antiwestlichen – Bündnissen. Henry Kissinger argumentierte unlängst, dass die Institutionalisierung einer solchen Feindseligkeit historisch beispiellos wäre und um jeden Preis vermieden werden sollte.
In der Zwischenzeit hat der Krieg die Ukraine einer Lösung ihrer eigenen internen Konflikte keineswegs nähergebracht, trotz aller Rhetorik aus Kiew. Die Zunahme der ukrainischen patriotischen Begeisterung ist durchaus real, doch spiegeln sich darin die gleichen regionalen Ungleichheiten, die die Ukraine schon seit ihrer Unabhängigkeit gespalten haben. Wie immer der militärische Konflikt auch ausgeht, alte Ressentiments werden wahrscheinlich wieder aufleben – wobei den russischsprachigen Ukrainern erneut die Schuld für ihre vermeintlich gespaltene Loyalität gegeben werden wird. Wie es der bekannte ukrainische Journalist Michail Dubinyanski kürzlich formulierte, "dauerte es nur einen Moment, bis sich die Fronten stabilisierten und der traditionelle interne Hass wieder auftauchte".
Eine dauerhafte Friedensregelung muss berücksichtigen, dass dieser Konflikt nicht mit dem Abzug der russischen Truppen enden wird. Eine Friedensregelung muss daher drei wesentliche Aspekte des Konflikts gleichzeitig angehen, andernfalls wird sie nicht von Dauer sein: erstens, die Konkurrenz zwischen Russland und dem Westen um die Ukraine, die eindeutig nicht enden wird, wenn die Kämpfe aufhören; zweitens den Konflikt zwischen den russischen und ukrainischen Eliten hinsichtlich ihrer jeweiligen nationalen und kulturellen Verschiedenartigkeit, der sich nach dem Krieg nur noch verschärfen wird; drittens den Konflikt zwischen der westlichen und der östlichen Hälfte der Ukraine, der durch den derzeitigen patriotischen Enthusiasmus vorübergehend überdeckt wurde.
Unser Vorschlag zielt nicht darauf ab, die mit der politischen Landschaft der Region fest verwurzelten Konflikte zu beenden. Vielmehr soll der Wettbewerb von der militärischen Arena mit den damit verbundenen Eskalationsgefahren auf die Arenen der Ökonomie und der Soft Power verlagert werden. Es ist im Grunde jene Art von Wettbewerb, die der Westen mit der Sowjetunion in der Blütezeit der Entspannungspolitik führte, nachdem er beschlossen hatte, dass Koexistenz der gegenseitigen Zerstörung vorzuziehen sei.
Als Gegenleistung für das Ende der Feindseligkeiten und den Rückzug seiner Streitkräfte wäre Russland verpflichtet, die derzeit von ihm besetzten Regionen nicht zu annektieren und sich bereit zu erklären, in etwa zehn bis zwanzig Jahren ein Statusreferendum unter internationaler Aufsicht abzuhalten. Die Ukraine würde ihrerseits den vorübergehenden Verlust der Kontrolle über Noworossija (die Regionen Donbass, Lugansk, Saporoschje, Cherson und Nikolajew) akzeptieren, unter dem Vorbehalt, dass ihr Status letztlich durch das Ergebnis des Referendums bestimmt wird.
Darüber hinaus würde sich die NATO förmlich verpflichten, keine Mitgliedschaft der Ukraine in Betracht zu ziehen. Aus Rücksicht auf die Ukraine würde das Land jedoch keine formelle Neutralitätszusage geben. Dies würde es der Ukraine ermöglichen, eine breite Palette an militärischer Verteidigungshilfe und Ausbildung von anderen Ländern zu erhalten, ohne die Installation permanenter ausländischer Stützpunkte und Waffensysteme, die russisches Hoheitsgebiet angreifen könnten. Die Sicherheitsbedenken der Ukraine würden durch eine förmliche Zusage Russlands, die EU-Mitgliedschaft der Ukraine nicht abzulehnen, weiter zerstreut, was die Tür für die mehrjährigen Investitions- und Reformhilfen öffnen würde, die die Ukraine für ihren Wiederaufbau dringend benötigt.
Die russische Sicherheit würde unterdessen durch die internationale Anerkennung von Noworossija gestärkt (hier könnten einige der Mechanismen zur Anwendung kommen, die zur Entschärfung des Streits um das Freie Territorium Triest und das Saarland eingesetzt wurden). Zudem könnte eine entmilitarisierte Zone auf beiden Seiten der russisch-ukrainischen Grenze geschaffen und die Sicherheit durch die Verpflichtung mehrerer wichtiger Staaten, sowohl die Grenzen der Ukraine als auch die Noworossijas zu sichern, weiter erhöht werden.
Vorteile für die Ukraine
- Ein ukrainischer Staat, der weiterhin seine nationalistische post-2014 Agenda verfolgen kann. Um westliche Sicherheitsgarantien zu erhalten, wird Russland sein Ziel der vollständigen „Entnazifizierung“ der Ukraine aufgeben müssen.
- Die feste Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft in absehbarer Zeit. Ein schwacher Trost für Russland dürfte jedoch die Tatsache sein, dass das dann in der Ukraine errichtete Regime in der Folge Europa Kopfzerbrechen bereiten wird (wie einige zu erkennen beginnen).
- Mehrjährige Finanzhilfen und defensive Waffenhilfe für die Ukraine.
- Die Möglichkeit, dass sich die verlorenen Regionen der Ukraine wieder anschließen könnten, wenn Kiew ihnen attraktive Gründe dafür liefert. Dies wird natürlich von der Politik abhängen, die Kiew gegenüber diesen Regionen verfolgt. Aber die ukrainischen Behörden hätten den größten Teil von zwei Jahrzehnten und erhebliche westliche Unterstützung, um für sich zu werben.
Vorteile für Russland
- Die Ukraine verliert Teile ihres Territoriums – die Krim endgültig, Noworossijas vielleicht nur vorübergehend.
- Keine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine.
- Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen Russland, Belarus und Noworossija. Man kann davon ausgehen, dass sich die Regionen in Noworossija eher zu Russland hingezogen fühlen werden. Die EU sollte daher nicht den Fehler wiederholen, den sie 2013 gemacht hat, als sie die Ukrainer zwang, zwischen der europäischen und der eurasischen Wirtschaftsintegration zu wählen. Dieses Mal sollte alles getan werden, um eine Freihandelszone zu schaffen, die diese Regionen dazu ermutigt, eine wichtige Brücke zwischen beiden zu werden.
- Schließlich besteht die Möglichkeit, dass sich Noworossija am Ende für den Anschluss an Russland entscheidet, sollte es sich als attraktiver und erfolgreicher erweisen als die Ukraine. Zweifellos wird der Westen in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren alles in seiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass dies nicht der Fall ist.
Der Westen sollte eine solche Fokus-Verschiebung auf den Wettbewerb begrüßen, da er wirtschaftlichen Erfolg und Soft Power als Fundament seiner Stärke betrachtet. Auch Russland sollte sich dafür aussprechen, argumentiert Moskau doch selbst, dass Russen und Ukrainer im Grunde viel tiefergehender kulturell und spirituell verbunden sind als lediglich durch wirtschaftliche Beziehungen. Nun bestände die Chance, diese Behauptung zu beweisen oder zu widerlegen. Die ukrainischen Nationalisten sollten dies ebenfalls begrüßen. Sie hätten dann zwei Jahrzehnte lang Zeit, um innerhalb der Ukraine eine breite Basis für ihre Ansicht zu schaffen, dass Russen und Ukrainer nichts gemeinsam haben, und diese Auffassung durch kulturelle Beziehungen und Exporte nach Noworossija zu verbreiten. Noch dazu werden sie dies, mit dem Segen und der finanziellen Unterstützung des Westens, innerhalb einer viel homogeneren ukrainischen Bevölkerung tun können.
Und schließlich würden Europa und die Welt einen nicht unerheblichen Sicherheitsvorteil aus einem Rahmen ziehen, innerhalb dessen Russland und der Westen in einer Weise miteinander konkurrieren können, die für beide Seiten potenziell vorteilhaft ist und nicht zwangsläufig zu gegenseitiger Zerstörung führt.
Mit Sicherheit wird der Einwand kommen, dass eine solche Friedensregelung die russische Aggression belohnt. In einer unvollkommenen Welt muss jedoch die Moral der Bestrafung Russlands (wohlgemerkt, ohne dass durch diese Bestrafung sein Rückzug sichergestellt ist) gegen die Moral des Zulassens von weiterem Leid in der Ukraine abgewogen werden. Insbesondere dann, wenn die Alternative nicht nur das Blutvergießen beendet, sondern auch einen Mechanismus bietet, durch den die Ukraine unter günstigeren Bedingungen möglicherweise ihre Gebiete zurückgewinnen könnte. Die Zeit ist jedoch von entscheidender Bedeutung. Je länger sich die Verhandlungen über eine Friedensregelung verzögern, desto mehr Gebiete droht die Ukraine an Noworossija zu verlieren.
Ein weiterer wahrscheinlicher Einwand mag sein, dass man nicht darauf vertrauen kann, dass die Verantwortlichen in Russland ihr Wort halten. Diejenigen, die so denken, haben jedoch eine vorgefertigte Ausrede gegen jede Form von Verhandlungen parat, und nicht nur gegen die mit Russland. Wir möchten lediglich darauf hinweisen, dass unserer Vorschlag das Statusreferendum in die Zukunft verlegt. Seine Umsetzung würde nicht von denjenigen ausgehandelt werden, die diesen Krieg ausgelöst haben, sondern von einer russischen Führung nach Putin. Welche Beziehung der Westen zu einer zukünftigen russischen Regierung haben wird, hängt in hohem Maße von dessen eigener Politik ab.