Zinspolitik

Zinserhöhungen gegen Inflation?

| 06. Juni 2023
istock.com/Franz Haberhauer

Umverteilung nach oben: Zinserhöhungen wirken nicht so, wie es die Zentralbanken behaupten und die Medien glauben.

Es ist längst eine Selbstverständlichkeit: Steigen die Preise, erhöhen die Zentralbanken die Leitzinsen. Die der Europäischen Zentralbank (EZB) sind seit Juli 2022 von Null auf 3,75 Prozent erhöht worden, die der Schweizerischen Nationalbank von minus 0,75 auf 1,5 Prozent. Warum eigentlich? Wie soll das die Inflation beeinflussen?

Inflation ist nichts anderes als die Summe aller Preissteigerungen. Diese kommen auf zwei Arten zustande: Entweder durch die Ausnützung von Marktmacht zum Zwecke der Profitmaximierung oder durch die Anpassung an steigende Produktionskosten. Könnten zum Beispiel die Gewerkschaften in der Gastronomie Löhne durchsetzen, von denen man leben und die Miete bezahlen kann, dann müssten die Gastwirte die Preise deutlich erhöhen. Oder wenn ein Gewitter die Obstplantagen verwüstet, muss der Kilopreis der Äpfel stark steigen, damit die Bauern ihren Lebensunterhalt weiterhin bestreiten können.

Es gibt keinen Grund, solche Preissteigerungen zu verhindern oder zu verbieten. Der Konsument soll für die von ihm verursachten Kosten aufkommen. Ein Problem entsteht erst dann, wenn die Inflation dazu führt, dass – trotz realem Wirtschaftswachstum – viele Arbeitnehmer und Rentner an Kaufkraft verlieren. Doch dieses Problem könnte leicht dadurch gelöst oder zumindest gelindert werden, wenn alle Löhne und Renten an die Entwicklung des nominalen BIP pro Kopf gekoppelt würden. Das ist keine Illusion: Noch in den 1970er-Jahren war ein halbjährlicher Inflationsausgleich in vielen Schweizer Unternehmen Standard.

Eine zweite Kategorie von Preiserhöhungen beruht auf reiner Marktmacht. Das führt dann etwa dazu, dass wir statt 20 nun 32 Euro pro Monat für das Pay-TV-Abo ausgeben müssen und die FIFA ihre Übertragungsrecht demnächst schon wieder um 40 Prozent erhöhen will. Damit wird sichergestellt, dass die Fußballvereine ihren Stars weiterhin zweistellige Millionensaläre und sich gegenseitig dreistellige Ablösesummen zahlen können.

Mit der Anpassung an steigende Lebenshaltungskosten hat dies nichts zu tun. Dass allein die fünf größten Pharma-Konzerne dieses Jahr 90 Milliarden Dollar Reingewinn erwarten und ihre Kader mit Millionensalären verwöhnen, deutet ebenfalls auf stark übersetzte Preise hin. Oder nehmen wir die Energiekonzerne: Shell hat letztes Jahr den Gewinn auf rund 40 Milliarden verdoppelt. Exxon meldete gar einen Gewinn von 56 Milliarden, fast dreimal soviel wie im Vorjahr. Auch diese Zeche zahlen letztlich die Konsumenten.

Die durch Monopolgewinne verursachte Inflation kann nicht durch eine Indexierung der Löhne korrigiert werden. Dadurch würden die dem Preiswettbewerb ausgesetzten „Normalunternehmen“ gleich doppelt bestraft. Erstens müssten sie – via Lohnerhöhungen – die Monopolgewinne mitfinanzieren. Zweitens leiden sie darunter, dass die Monopolpreise die Kaufkraft ihrer potenziellen Kunden schwächen. Wer mit knappem Budget monatlich 100 Euro mehr für die Energie und 12 Euro für den Fußball am TV bezahlen muss, geht weniger oft zum Friseur oder in die Kneipe.

Preissteigerungen dieser Kategorie könnten zum Beispiel mit Preiskontrollen unterbunden werden. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurden solche in den USA unter dem Einfluss des damals führenden Ökonomen John Kenneth Galbraith noch erfolgreich durchgesetzt. Sein 1952 verfasstes und 1980 neu aufgelegtes Buch „A Theory of Price Controls“ war für damalige Ökonomen Pflichtlektüre. Heute wären solche Ideen ein Karrierekiller. Auch ein verschärftes Kartellgesetz könnte mithelfen, solche Preisexzesse zu verhindern.

Die Logik der Zinserhöhungen

Heute sind solche Ideen tabu. Die Inflationsbekämpfung ist alleinige Sache der Zentralbanken und ihr Mittel der Wahl sind Zinserhöhungen. Doch was ist die Logik dahinter? In den einschlägigen Pressemittteilungen der EZB liest man zu den oben erwähnten Preisexzessen kein kritisches Wort. Da ist nur von der „Gesamtinflation“ oder von der „zugrundeliegenden Inflation“ die Rede, so als würden Preissteigerrungen irgendwie vom Himmel fallen. Der einzige „Täter“, der wenigstens andeutungsweise genannt wird, sind die „steigenden Löhne“. Diese gelten als „Zweitrundeneffekt“, den man mit steigenden Zinsen vermeiden will.  

Hinter dem Begriff „Zweitrundeneffekt“ versteckt sich die Theorie, dass die sich die Inflation, wenn sie erst einmal da ist, von sich aus verstärkt. Es entstehe eine „Lohn-Preis-Spirale“, die sich ständig fortsetze. "Ist dieser Prozess erst einmal in Gang gekommen“, zitiert Wikipedia unter dem Stichwort „Zweitrundeneffekt“ den deutschen Ökonomen Roland Döhrn, „dann muss die Notenbank mit Brachialmaßnahmen eingreifen.“ Sonst drohe eine Stagflation, eine lange Periode mit hoher Arbeitslosigkeit und stagnierenden BIP. Als Beleg für diese Theorie gilt die durch die durch die Explosion der Ölpreise ausgelöste Rezession ab 1975.

Klar, wenn stark steigende Importpreise zu einem Rückgang des realen BIP führen, drücken Reallohnsteigerungen die Gewinnmargen der Unternehmen und diese werden versuchen, mit Preiserhöhungen zurückzuschlagen. So kann in der Tat eine Lohn-Preis-Spirale entstehen. Aber aus dieser Ausnahmesituation zu schließen, dass ein Teuerungsausgleich immer ein „Zweitrundeneffekt“ sei, der in einer Stagflation enden müsse, ist Klassenkampf von oben.

Das zeigt ein Blick auf die Wirtschaftsdaten von 2022. In diesem Jahr sind in Deutschland die Löhne real um 4,1 Prozent gesunken, das reale BIP ist aber dennoch um 1,8 Prozent gestiegen. Bei einer Lohnquote von 70 Prozent müssen die Profite rein rechnerisch um rund 15 Prozent explodiert sein. Ähnliches gilt für die Schweiz, wo das BIP pro Kopf um 1,1 Prozent gestiegen, die Reallöhne aber um 1,9 Prozent gesunken sind.

Die Umverteilung von den Arbeits- zu den Kapitaleinkommen ist durchaus im Sinne der Notenbanken. Diese wollen die Inflation dadurch bekämpfen, indem sie den Konsum drosseln. Und die Kapitaleigner konsumieren einen deutlich kleineren Anteil ihre Einkünfte als die Lohnempfänger. Das Instrument, mit dem die Zentralbanken dieses Ziel anstreben, sind die Zinserhöhungen. Diese, so die EZB in ihrer Pressemitteilung, „wirken stark auf die Finanzierungsbedingungen durch“. Im Klartext: Sie verteuern und bremsen die Investitionen.

Welchen Einfluss haben Zinserhöhungen?

Doch warum sollte das so sein? Bei aktuell 6,1 Prozent Inflation in Deutschland ist der Hypozins von 3,8 Prozent real gesehen sogar noch billiger als die 1,4 Prozent, die man 2018 bei einer Inflation von 1,8 Prozent bezahlen musste. Das wissen auch die Banken, die bei der Finanzierung helfen.

Zudem ist es unwahrscheinlich, dass Zentralbankzinsen überhaupt einen Einfluss auf das allgemeine Zinsniveau haben. Hohe Inflationsraten führen zu einer realen Entwertung der nominellen Guthaben und dagegen halten sich die Gläubiger mit höheren Zinsen schadlos – ohne erst die Zinsschritte der Zentralbanken abzuwarten.

Die Erfahrung zeigt jedoch, dass das ganze Brimborium um den „ZINSENTSCHEID“, über den die Medien schon lange zum Voraus spekulieren, die Wirtschaft tatsächlich abkühlt. Wie sich das dieses Mal konkret auswirken wird, hat das Handelsblatt auf Grund von Simulationsmodellen der EZB wie folgt präzisiert: Das BIP Wachstum wird 2022 und 2023 (gegenüber früheren Prognosen) um je 2 Prozentpunkte tiefer ausfallen, wodurch die Inflation bis 2025 um insgesamt 2,5 Prozent bzw. 0,5 Prozent pro Jahr gedämpft wird. Was das Handelsblatt nicht schreibt: 4 Prozent weniger BIP kosten die EU mehr als 600 Milliarden Euro. Ein Massaker für ein Mü Inflationsbekämpfung.

Was das Handelsblatt auch nicht schreibt: Diese Last wird sehr ungleich verteilt: Die „Kapitalisten“ kassieren höhere Zinsen, die Löhne der Arbeitnehmer sinken. Siehe oben. Vor allem die Mieter werden zur Kasse gebeten. In der Schweiz darf die Miete pro Viertelprozent mehr Hypothekenzins um 3 Prozent erhöht werden. Weil die Vermieter diese Gelegenheit nutzen, um auch noch die Nebenkosten zu erhöhen, rechnen viele Medien mit einer Mietpreissteigerung von 6 Prozent. Dies wiederum löst einen Inflationsschub von rund 1,2 Prozentpunkte aus. Die Inflationsbekämpfung der Zentralbanken führt also zunächst einmal zu mehr Inflation.

Und sie bewirkt zudem eine weiteren Umverteilung nach oben. Die Überwälzung der gestiegenen Hypothekenzinsen auf die Mieter ist ökonomisch nicht gerechtfertigt. Der Vermieter muss zwar mehr Hypozins bezahlen, doch letztlich entschädigt er damit seinen Gläubiger nur dafür, dass dessen Guthaben real entwertet wird. Mit den höheren Zinsen zahlt er also letztlich seine Schulden zurück. Eigentliche Kosten entstehen ihm dadurch nicht. Das ist eine Sache zwischen dem Vermieter und seinem Gläubiger. Es gibt keinen Grund, diese Rückzahlung auf die Mieter zu überwälzen. Sie haben damit nichts zu tun.

Fazit: Die Art und Weise, wie die Zentralbanken die Inflation zu bekämpfen versuchen, ist extrem unökonomisch. Das bisschen Inflation, das damit allenfalls vermieden werden kann, verursacht viel zu hohe Kosten. Und sie lenkt von den Verursachern der Inflation ab.