Ökonomische Lehre: Profit über Gesetzestreue
Das verbreitete Schulbuch "Wirtschaft für die Sekundarstufe II" betrachtet Profitstreben als Primat des Unternehmertums. Die Sicht auf die Wirtschaft wird damit gefährlich vereengt.
Wie das Schulbuch Wirtschaft für die Sekundarstufe II neoliberale Weltanschauungen und eine reine Profitlehre vermittelt, ohne dies kenntlich zu machen, wurde im ersten Teil dieses Beitrags gezeigt. Doch wie weit geht das Buch, um den privaten Profit zu legitimieren und über die Interessen der Gemeinschaft zu stellen?
In wirtschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen – seien sie volks- oder betriebswirtschaftlicher Natur – gibt es nur wenige unumstößliche Wahrheiten. Das meiste von dem, was in der Ökonomik diskutiert, beziehungsweise vertreten wird und vorgibt „wahr“ zu sein, sind nicht viel mehr als Glaubenssätze.
Damit lässt sich auch erklären, wie es möglich war, dass zwei Theoretiker wenige Jahre hintereinander den Wirtschaftsnobelpreis gewannen, deren Theorien sich gegenseitig ausschlossen. Paul Samuelson (1970) glaubte an die Wirksamkeit von staatlicher Konjunkturpolitik und staatlichen Investitionen zur Rezessionsbekämpfung. Milton Friedman (1976) hielt diese Theorie nicht nur für falsch, sondern die Maßnahmen für destabilisierend und gefährlich. Umso bedenklicher ist es, dass auch in Kapitel 6 des Schulbuches wieder und wieder so getan wird, als gäbe es nur eine ökonomische Wahrheit.
Die unsichtbare Hand des Shareholder Value
Dies beginnt direkt in Kapitel 6.1 (Seite 262), in dem es um den sogenannten Shareholder Value-Ansatz geht. Dieser Ansatz von Alfred Rappaport besagt im Kern, dass unternehmerisches Handeln ausschließlich an den Interessen der Eigenkapitalgeber (die sogenannten Shareholder) ausgerichtet werden soll. So wie in Kapitel 5 sind es auch in diesem Kapitel sprachliche Details, in denen der metaphorische Teufel liegt. Der Shareholder Value-Ansatz sei ein Konzept der „wertorientierten Unternehmensführung“, ist im Schulbuch mit Verweis auf Rappaport zu lesen. Das ist insofern irreführend, als die meisten Menschen mit dem Begriff „wertorientiert“ gesellschaftliche Werte wie Nachhaltigkeit, Solidarität, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Verantwortung assoziieren.
Shareholder Value ist in der BWL aber nichts weiter als ein Synonym für Gewinnmaximierung. So schreibt Günter Wöhe im meistverkauften BWL-Lehrbuch der Welt explizit, dass die Begriffe Gewinnmaximierung und Shareholder Value synonym zu verwenden seien (Seite 75):
„Nach dem Shareholder Value-Ansatz liegt das oberste Unternehmensziel (...) in der Steigerung des Eigenkapitalwertes des Unternehmens. Da die angestrebte Eigenkapitalsteigerung mit Gewinn gleichzusetzen ist, deckt sich der Shareholder Value-Ansatz mit der Auffassung der (…) Betriebswirtschaftslehre, wonach die langfristige Gewinnmaximierung als oberstes Unternehmensziel anzusehen ist.“
Shareholder Value ist demnach ein Synonym für Gewinnmaximierung. Wenn im Schulbuch der Shareholder Value und damit die Gewinnmaximierung mit Wertorientierung gleichgesetzt werden, ist Wert folgerichtig gleichbedeutend mit Gewinn. Diese implizite Verkürzung des Wertverständnisses auf eine rein monetäre Größe findet sich nicht nur bei Rappaport, sondern auch in der vorherrschenden Mainstream-BWL und wird unreflektiert ins Schulbuch übernommen.
Wertorientierte Unternehmensführung verspricht semantisch die Orientierung an gesellschaftlichen Werten, an normativer Ethik und der Steigerung des Gemeinwohls, meint aber bloß den Profit der Unternehmer. Das wird im Schulbuch jedoch nicht sichtbar gemacht.
Es wird zwar mit einem Satz erwähnt, dass der Shareholder Value-Ansatz in der Öffentlichkeit ein schlechtes Image habe, weil er mit Arbeitsplatzabbau verbunden werde, die Theorie jedoch zeige, dass die Gewinnmaximierung die Interessen „[aller] Anspruchsgruppen verfolgt und damit den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand fördert.“ Kern dieser auch als „Ökonomismus“ bezeichneten Theorie ist der Glaube an den freien Markt: Je ungehinderter sich dieser entfalten kann und je höher die Profite der Unternehmen, desto besser geht es der Gesellschaft. Hinter dieser These verbirgt sich unausgesprochen die Theorie der unsichtbaren Hand des Marktes, die in ihrer heutigen Lesart besagt, dass die Gewinnmaximierung der Unternehmen stets der Allgemeinheit zugutekommt. Diese Argumentation dient dazu, das Profitstreben der Unternehmen zu legitimieren.
Was im Schulbuch nicht erläutert wird: Der Shareholder Value wird in den meisten Fällen dadurch gesteigert, dass die Stakeholder und damit die Allgemeinheit schlechter gestellt werden. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich schreibt dazu in seinem Buch Integrative Wirtschaftsethik:
„Strikte Gewinnmaximierung kann prinzipiell keine legitime unternehmerische Handlungsorientierung sein, denn sie bedeutet ja gerade, dass alle mit dem Gewinnstreben konfligierenden Wertgesichtspunkte bzw. Ansprüche diesem untergeordnet werden.“
Der Gewinn kann beispielsweise gesteigert werden, indem Mitarbeiter ausgebeutet oder entlassen, Umwelt- und Arbeitsschutz ignoriert, Lieferanten ausgequetscht oder Gesetze gebrochen werden. Umgekehrt gilt: Die Steigerung des Gemeinwohls kostet Unternehmen in der Regel Geld und schmälert dadurch den Gewinn. Auf MAKROSKOP schrieb ich bereits dazu:
„Dass die Stakeholder (im Normalfall) nicht von einer Maximierung des Shareholder Value profitieren können, kann aus einer konzisen Kausalkette hergeleitet werden: Jegliche Kosten eines Unternehmens verringern den Unternehmensgewinn und damit den Shareholder Value. Die Steigerung der Wohlfahrt der Stakeholder bedeutet für ein Unternehmen zumeist eine Erhöhung der Aufwendungen, also höhere Kosten. Die Steigerung des Stakeholder Value führt folglich zu einer Schmälerung des Gewinns.“
Eine anständige Entlohnung der Mitarbeiter kostet ebenso Geld wie der Schutz der Ökosysteme oder eine faire Bezahlung der Lieferanten. Wenn ich meine Mitarbeiter besser bezahle, habe ich höhere Kosten und senke den Shareholder Value. Wenn ich Geld für Umweltschutz ausgebe, habe ich höhere Kosten und senke den Shareholder Value. Die Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands bedeutet in den allermeisten Fällen, dass ich Geld dafür ausgeben muss und weniger Gewinn mache.
Die Aussage, die Steigerung des Shareholder Value steigere den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, ist weder argumentativ noch empirisch haltbar. Wenn ich den Shareholder Value maximiere, dann maximiere ich nicht automatisch das Gemeinwohl, sondern ich maximiere den Gewinn, also den Anteil für die Shareholder zu Lasten der Stakeholder.
Der Stakeholder-Ansatz findet im Schulbuch zwar Erwähnung, eine ernsthafte Auseinandersetzung fehlt jedoch. Die Berücksichtigung der Stakeholder wird mit der erwartbaren Argumentation abgetan: „In der Regel lässt sich ein gerechter Ausgleich aller Interessen nicht finden.“ Eine valide Messung des Stakeholder Value sei auch nicht möglich. Diskussion beendet.
Profit über Recht
Was das Buch unter gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen versteht, wird auf Seite 277 deutlich, wo zum Thema Corporate Social Responsibility (CSR) die CSR-Pyramide nach Carroll gezeigt wird. An dieser Stelle des Schulbuches werden alle verantwortungs- und unternehmensethischen Überlegungen ad absurdum geführt. Die unscheinbare Pyramide ist wie folgt aufgebaut (vom Fundament zur Spitze): ökonomische Verantwortung (sei profitabel), gesetzliche Verantwortung (halte dich an Gesetze), ethische Verantwortung (sei fair und schade niemandem), philanthropische Verantwortung (gesellschaftliches Engagement).
Wörtlich gesprochen: Hier wird völlig ironiefrei die These vertreten, dass die Profiterzielung der Unternehmen wichtiger sei als ihre Gesetzestreue. Halte dich nur an Gesetze, wenn es profitabel ist. VW, Deutsche Bank und Wirecard wird es freuen.
In einer englischen Variante der CSR-Pyramide ist die ökonomische Verantwortung noch schnörkelloser formuliert. Die oberste Verantwortung eines Unternehmens gilt seinen Anteilseignern: “Business's First Responsibility Is Toward Its Shareholders”. In erster Linie soll für die Shareholder ein Gewinn erzielt werden, erst wenn das sichergestellt ist, sollen sich Unternehmen an Gesetze halten; und dann erst folgen ethische Überlegungen und die Frage, ob man Anderen Schaden zufügt. Vor 11 Jahren schrieb ich in einem Artikel zum VW-Abgasskandal:
„Gesetze interessieren Unternehmen, deren Ziel die Profitmaximierung ist, nur unter Rentabilitätsgesichtspunkten. Sie werden eingehalten, wenn dies langfristig profitabler erscheint, als sie zu brechen. Wenn der Profit durch das Nicht-Einhalten von Gesetzen langfristig höher ist als im Falle der Gesetzestreue, werden Gesetze systematisch gebrochen.“
Exakt dieses Verhalten – Gesetztestreue wird von ihrer Rentabilität abhängig gemacht –, das sich insbesondere in den sogenannten kapitalmarktorientierten Unternehmen findet, in denen Profit und Dividende über allem stehen, legitimiert das Schulbuch mit seiner Pyramide. Erst wenn die Gewinnerzielung sichergestellt ist, sollen sich Unternehmen an Gesetze halten. Das bedeutet gleichzeitig, dass es einen Bereich gibt – versinnbildlicht im Sockel der Pyramide – in dem es ausdrücklich legitim ist, dass Unternehmen Profite erzielen, ohne sich an Gesetze zu halten!
Unter gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen wird im Schulbuch also verstanden, dass es legitim sein kann, dass Unternehmen Gesetze brechen, sich unmoralisch verhalten und Anderen Schaden zufügen, solange es profitabel ist. Das ist die konsequente Auslegung der Pyramidendarstellung, die, betrachtet man den Gesamtzusammenhang des Buches, genau so gemeint ist.
Eine in der Wirtschaftsethik etablierte Gegenposition böte die von Peter Ulrich begründete Integrative Wirtschaftsethik, die im Buch mit keinem Wort erwähnt wird, was in Anbetracht der wissenschaftlichen Relevanz der Theorie gleichermaßen erstaunlich wie aufschlussreich ist. Das „Gewinnprinzip“, so Ulrich, erfülle niemals den methodischen Status eines ethischen Prinzips. Die Richtigkeitsvermutung für das Gewinnprinzip entpuppe sich als bloße suggestive Rhetorik, man müsse unternehmensethisch vielmehr von einer allgemeinen Unrichtigkeitsvermutung bezüglich des Gewinnprinzips sprechen. Damit kritisiert Ulrich den Shareholder Value-Ansatz sowie These, die Gewinnmaximierung käme automatisch allen Anspruchsgruppen zugute und steigere den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand. Peter Ulrich schreibt:
„Es gibt kein wirtschafts- bzw. unternehmensethisch begründbares ‚Gewinnprinzip‘. Gängige Aussagen von der Art, die oberste Verantwortung oder gar die sittliche Pflicht der Unternehmensleitung sei es, nachhaltige Unternehmensgewinne zu erzielen oder den Shareholder Value zu maximieren, sind als ökonomistische Rhetorik zurückzuweisen.“
Peter Ulrich stellt den Shareholder Value-Ansatz sowie die CSR-Pyramide vom Kopf auf die Füße. Moralisches Verhalten dürfe nicht von der Rentabilität abhängig gemacht werden, sondern umgekehrt: Unternehmerischer Erfolg müsse von der ethischen Legitimität der Geschäfte abhängig gemacht werden.
Gewinnerzielung sei nur gerechtfertigt, wenn die Folgen, die durch die Wertschöpfung entstünden, ethisch vertretbar seien. Fairness und moralisches Verhalten werden zur normativen Grundlage der Geschäftstätigkeit. Würde man die Integrative Wirtschaftsethik in eine Pyramide gießen, wäre der Sockel die ethische Verantwortung und nicht die Profitabilität. Zunächst stünde also die Frage, ob eine Geschäftsidee oder eine Wertschöpfungsmöglichkeit gemeinwohldienlich ist und erst nachgelagert die Frage, ob sie profitabel ist.
Jedes Unternehmen müsste sich fortwährend Fragen stellen wie: Ist das, was wir tun, ethisch legitim oder nicht? Hat es positive oder negative Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt? Dient es dem Gemeinwohl oder nur dem Profit? Die erste Frage wäre nicht länger, womit Unternehmen Geld verdienen können, sondern wie sie ökologische und soziale Probleme lösen und damit zum gesamtgesellschaftlichen Wohlstand beitragen können.
Dies verlangt Führungskräften einiges ab: Es bedarf eines permanenten Prozesses der kritischen Reflexion hinsichtlich der Folgen unternehmerischer Wertschöpfung. „Diese Neuen Unternehmer wollen auf ethisch-kritische Fragen ihrer Mitmenschen zu ihrem beruflichen Handeln ehrliche und überzeugende Antworten geben können“ (Peter Ulrich).
Die Voraussetzung für die Integration der Ethik in das unternehmerische Zielsystem ist, dass das Gewinnprinzip, wie Ulrich Thielemann es formuliert, „entthront“ und der Gewinn zu einem gleichberechtigten Ziel neben anderen wird. Thielemann beschreibt in seinem Buch System Error – Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt, was die Folge wäre:
„Vieles, vielleicht das meiste, von dem, was zu tun oder zu unterlassen als ‚unmöglich‘ erklärt wird, wird dann sofort ‚möglich‘. Es wird nämlich möglich gemacht (…) durch den Verzicht darauf, alles auszunutzen, was sich ausnutzen lässt.“
Erst wenn der Gewinn ein Gesichtspunkt neben anderen ist, eröffnen sich Managementspielräume jenseits der Sachzwänge, die das reine Profitstreben mit sich bringt.
Die Schüler haben jedoch kaum Möglichkeiten, diese Dinge im Unterricht zu reflektieren, da sie im Buch nicht vorkommen. Es findet nicht nur keinerlei Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Denkschulen der Wirtschaftsethik statt, es wird nicht einmal erwähnt, dass es sie gibt. Genau genommen ist das Buch dadurch unwissenschaftlich und wirkt aufgrund seiner Einseitigkeit politisch motiviert.
Nach der CSR-Pyramide gibt es noch einige Übersichten und Beispiele zur Corporate Social Responsibility. Auf Seite 280 wird als Beispiel für eine CSR-Maßnahme im Bereich Umwelt die Gründung einer Umweltstiftung genannt, im Bereich Arbeitsplatz die Einrichtung eines Kinderhorts. Es ist lobenswert, dass Beispiele genannt werden. Vielsagend ist aber wiederum, welche grundsätzlichen Fragen nicht gestellt werden: Es werden weder die Geschäftsmodelle noch die Eigentums- und Machtverhältnisse zur Disposition gestellt. Fragen unternehmerischer Verantwortung können laut Peter Ulrich aber niemals gemäß vorfindbaren Machtverhältnissen und Akzeptanzbedingungen, sondern allein nach Maßgabe des moralisch Richtigen beantwortet werden. Eine ernstzunehmende Wirtschaftsethik muss über die Akzeptanz des Bestehenden hinausgehen und die Verhältnisse ethisch-kritisch reflektieren.
Natürlich ist es nicht schlecht, wenn ein Automobilhersteller eine Umweltstiftung gründet. Aber viel wichtiger wäre es, über das Konzept des motorisierten Individualverkehrs zu diskutieren, über die ökologischen Folgen einerseits und alternative Mobilitätskonzepte andererseits. Unternehmerische Verantwortung beginnt bei der Reflexion des Geschäftsmodells und nicht erst danach. Die Einrichtung eines Kinderhorts ist ebenfalls hilfreich. Was aber ausgespart wird: gesellschaftliche Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern könnte auch bedeuten, über demokratische Mitbestimmung und Eigentumsverhältnisse nachzudenken.
Es gibt Rechtsformen, in denen das Unternehmen den Mitarbeitern gehört, in denen demokratisch entschieden wird, in denen die Lohnspreizung minimal ist und der Gewinn gerecht aufgeteilt wird. Es gibt Organisationsformen, in denen es keine klassischen Hierarchien gibt und in denen die Mitverantwortung jedes Einzelnen im Mittelpunkt steht. Über diese Fragen von Eigentum und Mitbestimmung sollten junge Menschen diskutieren können. Wirtschaft ist nicht einfach das, was gerade ist, sondern auch das, was sein könnte.