Editorial

Lost im Liberalismus

| 02. Juni 2021
istock.com/Chalabala

Liebe Leserinnen und Leser,

„die rapide zunehmende Globalisierung verdrängt mehr und mehr die lokalen Probleme“, sagte einmal der deutsch-kanadische Aphoristiker und Publizist Willy Meurer. Die Krux: die lokalen Probleme sind damit nicht verschwunden. Im Gegenteil, sie werden im Schatten der Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs größer.

Egal ob im Rustbelt, im Nordosten der Vereinigten Staaten, im Ruhrgebiet Deutschlands oder aber in der abgehängten Peripherie der französischen und britischen Städte: Diejenigen, die in den von der Deindustrialisierung verwüsteten Gemeinden leben, warten immer noch vergeblich darauf, von der unsichtbaren Hand des Marktes gerettet zu werden.

Doch sie werden nicht gerettet, sondern verachtet. Sogar von jenen alten Arbeiterparteien, die nun immer mehr zu Vertreterinnen einer akademischen Mittelschicht avancieren und dem „White Trash“ eine fehlende Flexibilität und Weltläufigkeit zum Vorwurf macht, die man selbst als kulturelles Distinktionsmerkmal vor sich herträgt. „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ – mit diesem Satz rechtfertigte Gerhard Schröder als Kanzler einer rotgrünen Koalition vor just 20 Jahren die Agenda 2010, die den Wohlfahrtsstaat schleifte und damit die Politik des „Dritten Weges“ einläutete.

Die gewöhnlichen Menschen, die vor allem in Provinzstädten und auf dem Land leben, sind im Liberalismus einem Kampf an mehreren Fronten ausgesetzt. Sie haben nicht nur mit einem Marktfundamentalismus zu kämpfen, die sie ärmer und unsicherer gemacht hat. Sie sind auch mit einer Politik konfrontiert, die gegen ihre Interessen arbeitet. In Großbritannien und Amerika haben sich die Gesetze und Vorschriften, die die Märkte regeln, verändert – leise, langsam, unmerklich – auf eine Art und Weise, die dem Großkapital, den Investoren und der Führungsschicht entgegenkommt. Oder, wie es Katharina Pistor in ihrem Buch „Der Code des Kapitals“ schildert, es ist die rechtliche Kodierung, die Reichtum zementiert. Das Recht ist der Stoff, aus dem das Kapital gemacht wird.

Gleichzeitig wird dem „Normalen“ auch kulturell der Krieg erklärt. Der Gerechtigkeitsdiskurs wurde durch Moralisierungs- und Abwertungsdiskurse ersetzt. Der marktliberale Zeitgeist tritt in eine seltsame Melange mit einer Moralisierung des Lebensstils des sich progressiv gebenden urbanen Milieus. Hier verschwistert sich die seit 1968 von maoistischen Gruppierungen in die Institutionen getragene hippe Mentalität der Revolution in Permanenz mit der neoliberalen Ideologie der Disruption, die die Menschen ständig in Bewegung halten will. Nancy Fraser nannte das „progressiven Neoliberalismus“.

Das Buch „Die Selbstgerechten“ von Sahra Wagenknecht ist zum Bestseller und Politikum geworden, weil es eine eingängige Gegenwartsdiagnostik bietet. Wagenknecht zeichnet die Transformation eines Linksliberalismus nach, der sich von klassischen linken Werten verabschiedet hat und eigentlich ein „Linksilliberalismus“ sei. Dieser zeichne sich vor allem durch Gendersprache, Identitätspolitik, Cancel Culture sowie einer selbstgerechten Haltungsfrage aus und weniger durch das ernstgemeinte politische Streben nach sozialer Gerechtigkeit. „Gemeinwohl und Gemeinsinn sind Worte, die aus der Alltagssprache nahezu verschwunden sind“, schreibt Wagenknecht.

Wie alle anderen Ideologen befinden sich auch die Liberalen in einer Rebellion gegen die menschliche Natur, konstatiert passend dazu der Kolumnist und ehemalige Stabschef der Downing Street Nick Timothy. Sie wollen die Welt zu etwas machen, das sie nicht ist, und zu etwas, das sie niemals sein kann. Anders gesagt: Ideologien wollen die Menschen dazu zwingen, sich den Erwartungen ihrer Theorien anzupassen. Und sie hassen die Menschen, die an Gemeinschaften, Traditionen und an ihren Nationalstaat hängen.

Auch bei den Grünen besitzt der Nationalstaat keinen guten Leumund. Die wollen zwar in Deutschland Regierungsverantwortung übernehmen, bekennen sich aber unzweideutig zu seiner Abschaffung. Das Konzept der Nation als einer politisch organisierten historischen Überlieferungsgemeinschaft ist für sie ein durch und durch reaktionäres Konzept. Stattdessen wird als moderne Alternative die „vielfältige Einwanderungsgesellschaft“ propagiert.

Vergessen wird, dass es solche Institutionen sind, die den Menschen helfen, gemeinsame Identitäten zu schmieden, Vertrauen aufzubauen, Gegenseitigkeit unter Fremden zu fördern und die nie endenden Werte- und Interessenkonflikte zu versöhnen, die in der Gesellschaft auftreten. Es ist diese Amnesie, mit der sich die Einzelnen im Spätliberalismus verlieren.