Der schwäbische Bastler
Der Ökonom Winfried Wolf erwarb sich den Ruf als kritischer Verkehrsexperte und Bahnkenner, der auch von jenen geschätzt wurde, die seine Meinung nicht teilten. Jetzt ist er im Alter von 74 Jahren gestorben.
Winnie Wolf ist gestorben. „Mitstreiter, Freund und Genosse. Sein gesamtes erwachsenes Leben war er ein konsequenter Sozialist und kämpfte für seine Ziele als Wissenschaftler, Journalist, Buchautor und Organisator gegen Profitwirtschaft, Umweltzerstörung und Kriegsgefahr. Seine Vorschläge für eine radikale Verkehrswende zeigen Wege in eine bessere Zukunft.“ So charakterisierten seine Freundinnen und Freunde den Ökonomen und Verkehrswissenschaftler Winfried Wolf (4. März 1949 – 22. Mai 2023) in einer Traueranzeige in der taz vom 3. Juni 2023 und benannten damit die vielen Felder, in denen Winnie Wolf in den letzten Jahrzehnten für Bewegungen und Initiativen als Redner, Schreiber, Anreger und Organisator tätig war.
Wie seine Homepage mitteilt, erlebte der in der Bodensee-Region aufgewachsene Winfried Wolf eine erste linke Politisierung als Mitglied der „Katholischen Jungmännergemeinschaft (KJG) Weißenau/Ravensburg“, dann im SDS in Freiburg/Breisgau und schließlich in Westberlin. Im Kampf gegen den Krieg in Vietnam, gegen die Obristen-Diktatur in Griechenland und gegen F.J. Strauß wurde Wolf Mitglied der trotzkistischen IV. Internationale und deren Organisation in der BRD, der GIM Gruppe Internationale Marxisten und gehörte von 1974 der Redaktion der Zeitschrift „was tun“ an; nach der Vereinigung von GIM und KPD/ML zur VSP Vereinigten Sozialistischen Partei 1985 auch der Sozialistischen Zeitung bis 1995.
Er lernte viel vom belgischen trotzkistischen Ökonomen Ernest Mandel (1923-1995), der 1972 durch Einreiseverbot an der Wahrnehmung eines Lehrauftrages in Westberlin gehindert wurde. Beide nahmen eine Tradition der marxistischen Analyse von Ökonomie und Politik wieder auf, die in den 1920/1930er Jahren entstanden war. In den Analysen der Entwicklung der Weltökonomie waren im glücklichen Falle ökonomische Entwicklungen in Ländern und Branchen verknüpft mit der Wirkung politischer Bewegungen, die den Verlauf des wirtschaftlichen Geschehens zu beeinflussen suchten.
Nicht immer waren die Prognosen aus dieser Interpretation des ökonomischen Verlaufs zutreffend. Zumal, wenn sie verknüpft waren mit Aussagen über politische Bewegungen und deren Wirkungen, die viel vager zu fassen sind als das Verhalten von Wirtschafts- und Finanzunternehmen. Diese in Einzelartikeln und Büchern gefasste Übersichten über die Weltlage lebten von einer genauen Kenntnis einzelner Wirtschaftszweige, deren Kämpfe eingeordnet und verstanden werden sollten. Zu den Wirtschaftszweigen, die die langen Zyklen der wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmten, gehörten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und Amerika die Automobilindustrie, deren Kämpfe die Konjunkturen der für die BRD wichtigen Metallindustrie bestimmten.
Bereits bei den ersten Kämpfen einer neuen Generation von Arbeitsmigranten bei Ford in Köln 1973 griff Wolf in die Debatte ein, und zeigte, welche Ursachen und Wirkungen eine anders sozialisierte Gruppe von Arbeitskräften auf die gewerkschaftlichen und politischen Kämpfe haben würde. Von da an war die Automobilindustrie und deren Analyse für den bekennenden persönlichen Auto-Fan eine Grundkonstante seiner Arbeit.
Manchmal hat die Menschheit einfach Glück, wenn sich ein einzelner für eine Themenverschiebung entscheidet. Das war mindestens der Fall, als Winfried Wolf sich 1985 auf den Rat seines Doktorvaters, des Politikwissenschaftlers an der Universität Hannover Rudolf Wolfgang Müller (1934-2017), abwandte von den langen Wellen der Konjunktur und der Autoindustrie im engeren Sinne und dem Thema Bahn und Autowahn widmete. Als Technikhistoriker freute mich, dass der Internationalist Winnie Wolf in seiner Dissertation die so unterschiedliche historische Entwicklung des Eisenbahnwesens und der Autoindustrie in Europa und Nordamerika in den Mittelpunkt stellte.
Wolfs Analyse beruhte auf den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie, aber er trieb diese von Marx entwickelte Methode weiter zur genauen Darlegung der Rolle, die Eisenbahn und schließlich das Automobil in einer bestimmten Phase der Kapitalakkumulation in den verschiedensten Anwendungs- und Produktionsländern spielten und spielen.
Seine Doktorarbeit Eisenbahn und Autowahn, Personen- und Gütertransport auf Schiene und Straße, Geschichte, Bilanz, Perspektiven erschien 1986 in zwei Auflagen, auch auf Englisch und kam 1995 in einer erweiterten und aktualisierten 3. Auflage heraus, in die Erfahrungen mit Bewegungen gegen Autobahn- und Eisenbahnprojekte eingeflossen waren. Das Standardwerk, auf das jahrelang Journalisten ‒ unter anderem beim SPIEGEL ‒ bei Artikeln über Eisenbahn und die Begrenzung des Autoverkehrs zurückgriffen, stand gerade zum rechten Zeitpunkt zur Verfügung: nach dem Kampf um die 35-Stundenwoche in der Druck- und Metallindustrie und noch bevor an der Deutschen Bahn das ausprobiert wurde, was die britische Ministerpräsidentin Margaret Thatcher mit katastrophalen Folgen vorgemacht hatte – die Privatisierung der British Rail.
Die minutiös nachvollzogenen geschichtlichen Konflikte um das Eisenbahnsystem und den individuellen Autoverkehr zeigten, dass in Nordamerika im 20. Jahrhundert die Erdölkonzerne und Automobilindustriellen dafür gesorgt hatten, dass das schienenbasierte Verkehrssystem durch den Ausbau von Straßen für den individualisierten Kraftfahrzeugverkehr zerstört wurde und zugleich, dass sehr verschiedenartige Schienen- und Straßensysteme mit dem Kapitalismus vereinbar waren und sind.
Durch die ökonomische Geschichte und politische und Wirtschaftsideen hatten sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Varianten der Organisation des Transports von Personen und Gütern herausgebildet, die in den 1960er Jahren zugunsten eines durchgehenden privatisierten Individualverkehrs auf der Straße aufgegeben werden sollten – getrieben durch die Interessen der Autobauer, der Straßenbauindustrie und die Begehrlichkeiten von Immobilienbesitzern, die ursprünglich für die Zwecke der Bahn überlassene Grundstücke des Staates kaufen wollten.
Auf Grundlage seiner theoretisch fundierten Arbeit zum in Europa weitgehend verstaatlichten Eisenbahnsystem und Straßennetz konnte Winfried Wolf in die Auseinandersetzung um die Privatisierung der Deutschen Bahn eingreifen, als das noch auf die preußische staatliche Eisenbahn zurückgehende System ausgedünnt, auf Hochgeschwindigkeitstrassen reduziert und der Personen- und Güterverkehr auf die Straße verlegt werden sollte.
Die genauen Kenntnisse der Unterschiede zwischen den Bahnsystemen zum Beispiel in der Schweiz oder in England erlaubten Wolf, Alternativen zu nennen, wie ein vorhandenes System verbessert werden könnte und wie verschlechtert. Mitte der 1990er Jahre machte er Vorschläge für ein menschenfreundliches Massenverkehrssystem für die Städte Marburg, Berlin und Stuttgart. Als er 1994 bis 2002 in Baden- Württemberg für die PDS im Bundestag saß, haben seine Interventionen, Artikel und Gespräche dazu beizutragen, die beabsichtigte Privatisierung der Deutschen Bahn zu behindern und so lange zu verzögern, dass der Verkauf der Aktiengesellschaft nach der Finanzkrise 2008 scheiterte und der Form nach nicht wieder aufgenommen wurde ‒ vorerst. Dass beim Umbau und Ausdünnung des Bahnsystems immer noch das Interesse von Immobilienbesitzern, Bauindustrie und speziell Tunnelbauern im Vordergrund stehen, konnte er den zahlreichen Initiativen gegen unsinnige Bahnprojekte fundiert vermitteln.
Die Autoren des Wikipedia-Artikels über Wolf stritten anfangs darüber, ob ein Diplom-Politologe Verkehrsexperte sein könnte. Doch Wolf hatte immer deutlich gemacht, dass Verkehrswissenschaft eine Sozialwissenschaft ist, weil sie den sozialen Gebrauch von technischen Mitteln behandeln muss und ökonomisch-soziale Interessen bei Ausgestaltung, Betrieb und Weiterentwicklung eines Verkehrssystems eine bestimmende Rolle spielen. Und er hat seine wissenschaftlichen Kenntnisse über Technik und Sozialgeschichte von Verkehrssystemen eingesetzt für politische Zwecke, für die Beratung von Bewegungen, die sich der Zerstörung des Bahnsystems widersetzten.
Denn mit dem Verkauf von Grundstücken der Bahn kamen offenbar die ökonomischen Interessen von Immobilieninteressenten in Konflikt mit der technischen Funktionsfähigkeit eines schienengestützten Verkehrssystems. Wolf hat dies beim Bubenstück des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG Hartmut Mehdorn öffentlich gemacht: Wer Sackbahnhöfe abschafft, zweite Gleise demontiert und Ausweichweichen demontiert, weil sie nicht so oft gebraucht würden, erzeugt auf den wenigen Gleisen von Durchgangsbahnhöfen Staus, erzwingt lange Umwege und letztlich die Unpünktlichkeit, an der die Bahn heute leidet. Das zerstört das System des schienengebundenen Personenverkehrs.
Als schwäbischer Bastler hat sich Wolf in alle Einzelheiten des Systems Bahn eingearbeitet, den technischen Experten der verschiedensten Ebenen zugehört und Konsequenzen gezogen. Dadurch wurde er zum Berater der Bewegungen für den Erhalt der Bahn und in seiner Expertise auch von jenen anerkannt, die seine politische Meinung nicht teilten. Kein Unfall auf dem Schienennetz Europas und der BRD blieb unkommentiert, weil er der schnellen Ursachenbenennung misstraute und begründet widersprach. Zu denen, die Winfried Wolf beraten und mit denen er diskutiert hat, gehörte die GDL Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer mit ihrem Bundesvorsitzenden Claus Weselsky, die Wolf wegen seiner Diskussionsbeiträge und Unterstützungsaktionen zum Ehrenmitglied machte.
Allen voran hat Winnie Wolf die Bewegung gegen das Projekt Stuttgart 21, die Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes unter die Erde als Durchgangsbahnhof, in seinem Heimatländle seit 1995 unterstützt. Auf mehr als 40 der jetzt 660 Montags-Kundgebungen hielt er Reden, brachte immer neue Aspekte und Verbindungen zu Bahnvorhaben in anderen Ländern in die Diskussion und beriet die einzigartige Bewegung. Auch mit unkonventionellen Mitteln wie der Figur des mit dem ICE ringenden Kretschmanns von dem Bildhauer Peter Lenk, über die der Film „Das trojanische Pferd“ von Klaus Gietinger Auskunft gibt. Ohne die Hinwendung zu den Verkehrssystemen, der genauen technischen und ökonomischen Analyse, wären viele Initiativen ‒ allen voran die Gegner von Stuttgart21 ‒ nicht in der Lage gewesen, so wirkungsvoll zu argumentieren.
Die Instrumente seines Eingreifens waren Zeitungen teilweise in hohen Auflagen, die er mit einem kleinen Team von Unterstützern füllte: Zeitung gegen den Krieg, FaktenCheck zu HELLAS, Europa und zu Corona. Seit 2006 parteilos glücklich, wie er es in seiner Selbstdarstellung nennt, gab er seit Februar 2008 lunapark21 ‒ Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie heraus. Als Mitglieder der Redaktion konnten wir erleben, wie vielfältig die Verbindungen von Winfried Wolf zu kompetenten Experten waren. Wenn wir mühsam eine Autorin nannten, hatte er schon 5 bis 10 an der Hand und wusste sie zu bewegen, ihr Bestes für die Quartalszeitschrift zu geben.
Weil alle Beteiligten lange Erfahrungen mit politischen Niederlagen und spaltenden Zerwürfnissen hatten, bemühten sich alle, das, was die Autoren meinten, für die Leserinnen und Leser verständlich rüberzubringen und konzentriert zu vermitteln. Bei den Quartalslügen und Leitartikeln stellten wir immer wieder überrascht fest, wie schnell und in letzter Minute auf Grundlage seiner theoretischen Kenntnisse und ungezählten Beispiele die Fertigstellung packender Artikel gelang.
Wir haben uns geehrt gefühlt, dass Winfried Wolf uns zu den wunderbaren Freundinnen und Freunden zählte, die er im Lunapark21-Team, den bahnpolitischen Gruppen Bahn für alle und Bürgerbahn statt Börsenbahn und ihren Nachfolgern hatte. Wir begreifen erst langsam, wie viel wir ihm verdanken, wie viel er zusammengebracht hat, wie er uns durch seine packenden Reden motivierte und wie viele seiner Ideen bleiben müssen und bleiben werden.