Die vergessene Produktivitätskrise
Dass sich „Strukturreformen“ des Arbeitsmarktes negativ auf Innovation und Produktivität auswirken, übersehen Angebotsökonomen. Entsprechend wenig Rat haben sie auch bei einer strukturell höheren Inflation.
Diverse Beiträge, die die hohen Inflationsraten erklären wollen, verweisen zurecht auf externe Faktoren wie die Macht von OPEC-Staaten oder unterbrochene Lieferketten durch COVID-19. Doch wenn dies die einzigen Ursachen für die hohen Preisanstiege wären, stünde zu erwarten, dass das Inflationsproblem innerhalb von 1-2 Jahren gelöst ist. Aber es gibt auch noch eine andere Inflationsursache, die die Zentralbanken mittelfristig zu falschem Aktionismus bewegen könnte – mit eher kontraproduktiven Folgen.
Trotz der Debatten über Digitalisierung, Robotisierung oder künstlicher Intelligenz, die für eine vermeintliche technologischen Revolution im Zeichen einer innovativen Industrie 4.0 oder 5.0 stünden, sprechen die nackten Zahlen eine andere Sprache. In den wichtigsten OECD-Ländern hat sich das Produktivitätswachstum seit etwa 2005 erheblich abgeschwächt.
Wie die Abbildung 1 zeigt, gab es in den letzten siebzig Jahren zwei Perioden, in denen das Wachstum der Arbeitsproduktivität jeweils ungefähr halbiert wurde: Anfang der siebziger Jahre, durch das Auslaufen der expansiven Phase der langen Kondratieff-Welle nach dem Zweiten Weltkrieg. Und nach 2005, mit dem Auslaufen des Booms in der Informationstechnologie[1], als sich die in den siebziger Jahren schon halbierten Wachstumsraten nochmals halbieren. In schwächeren Eurozonen-Ländern wie etwa Italien oder den Niederlanden geht das Produktivitätswachstum inzwischen Richtung null.
Warum ist das ein Problem? Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der Kuchen, der jährlich zwischen Kapital, Arbeit und Staat verteilt werden kann. Wächst dieser Kuchen nur noch geringfügig, dann wird es schwieriger, Verteilungskonflikte zu lösen oder etwa den Green Deal zu finanzieren. Verschärfte Verteilungskämpfe können die Inflationsraten strukturell erhöhen.
Verteilungskämpfe können sich weiter verschärfen durch einen Nebeneffekt des niedrigen Produktivitätswachstums: das arbeitsintensive Wachstum. War das Wirtschaftswachstum in der Vergangenheit vor allem produktivitätsgetrieben, ist es nun durch die Produktivitätskrise viel stärker der intensivierte Arbeitseinsatz. Denn eine Wirtschaft kann nur auf zwei Arten wachsen: Entweder mit mehr Arbeitsstunden oder mit produktiveren Arbeitsstunden, zum Beispiel mit moderneren Maschinen. Mehr Varianten gibt es nicht, sieht man einmal von David Ricardos komparativen Vorteilen durch internationalen Handel ab.
Wenn sich der Einsatz von modernen, produktivitätserhöhenden Maschinen nur sehr langsam vollzieht, was seit ca. 2005 der Fall ist, dann bleibt nichts anderes übrig, als Wachstum mit (erheblich) mehr Einsatz von Arbeit zu ermöglichen. Dadurch wird sich der Arbeitsmarkt früher oder später verknappen, was aus Sicht der Angebotsökonomen ("Supply-Side Economics") eine viel zu niedrige Arbeitslosigkeit nach sich zieht.
Die Supply-Side Ökonomen haben bewusst das Konzept der Vollbeschäftigung ersetzt durch das Streben nach (relativ hohen) "natürlichen" oder NAIRU-Arbeitslosenraten. Diese höhere Arbeitslosigkeit ist aus Sicht der Supply-Siders nötig, um den Faktor Arbeit ausreichend zu disziplinieren. Jetzt aber findet eine Verknappung des Arbeitsmarktes statt, und auch noch ausgerechnet in einer Situation, in der durch die Produktivitätskrise der Verteilungsspielraum viel kleiner ist. Dies könnte zukünftig die Inflation verstärken und damit die Rufe nach einen neuen Volker-Schock zur Disziplinierung der Arbeit lauter werden lassen.
Der Zusammenhang zwischen niedrigerem Produktivitätswachstum und hoher Arbeitsintensität des Wirtschaftswachstums lässt sich gut anhand eines Vergleichs zwischen Deutschland und den USA illustrieren. Abbildung 1 zeigt, dass das amerikanische Produktivitätswachstum (mit Ausnahme des Booms der Informationstechnologie zwischen 1995-2005) strukturell niedriger war als in der EU und in Japan, was übrigens viel mit Supply-Side Economics zu tun hat. Im Kontrast zum relativ niedrig-produktiven aber dadurch arbeitsintensiven Wachstum in den USA (Abbildung 2) steht das (vor den Hartz-Reformen) noch sehr produktivitätsgetriebene und dadurch relativ arbeitsextensive Wachstum in Deutschland (Abbildung 3).
Da in Abbildung 2 und 3 alle Werte auf den Index 1960 = 100 normiert sind, ist sehr leicht ersichtlich: die Arbeitsproduktivität in Deutschland steigt von 100 im Jahr 1960 auf 450 in 2020, während die amerikanische Arbeitsproduktivität im selben Zeitraum nur einen Wert von knapp 300 schafft. Die Kehrseite sind die Arbeitsstunden: Das amerikanische Wachstum musste zwischen 1960 und 2020 "gefüttert" werden mit einer Verdoppelung der Arbeitsstunden (von 100 auf beinahe 212), während in Deutschland die Arbeitsstunden von 100 auf 77 sanken. Kein Wunder, dass die amerikanische "Jobmaschine" als wichtiges Verkaufsargument für Supply-Side Economics diente.
Interessant ist auch, dass die Propagandisten der anti-Keynesianischen Supply-Side Economics immer wieder auf das alte "eurosklerotische" Europa verwiesen haben, das mit seinen starren Arbeitsmärkten wenig Beschäftigung schaffe. In den Diskussionen über die "Eurosklerose" wurde immer sehr sorgfältig vermieden, Produktivitätszahlen auch nur zu erwähnen, obwohl das Wirtschaftswachstum in Deutschland (vor den Hartz-Reformen) viel intelligenter war als in den USA: mit weniger Arbeit mehr produzieren, während die Amerikaner viel mehr freie Zeit aufopfern mussten, um ihre Wirtschaft auf dem Wachstumspfad zu halten.
Wie kommt es, dass Deutschland trotz der ab 1960 sinkenden Gesamtarbeitsstunden (und mit steigendem Arbeitsangebot von Frauen und Gastarbeitern) doch keine exorbitanten Arbeitslosenzahlen kannte?
Die Antwort liegt in der Arbeitszeitverkürzung. Die durchschnittlichen Arbeitsstunden pro Arbeitnehmer lagen im Deutschland des Jahres 1960 bei 2.182 Stunden im Jahr, 1990 bei 1.583 und 2020 bei 1.324 Stunden. In den USA dagegen liegen die Arbeitsstunden 1960 bei 1.935, im Jahr 1990 bei 1.796 und 2020 bei 1.751 Stunden (Conference Board, Total Economy Database).
Da Deutschland nach den Hartz-Reformen nur noch bescheidenes Produktivitätswachstum kennt, sind zwei Dinge zu erwarten. Zum ersten gibt es weniger (extra) zu verteilen. Irgendjemand muss also in Deutschland Opfer bringen: Entweder das Kapital (sehr unwahrscheinlich) oder die Arbeit (vermutlich vor allem niedrig Ausgebildete) und/oder der Staat, was lebendige Diskussionen um Sparmaßnahmen und die Schwarze Null erwarten lässt.
Zum zweiten verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeit durch die sinkende Arbeitslosigkeit. Aufmüpfigen Gewerkschaften wird mit einer Kampagne von rechts begegnet, dass die EZB die Zinsen erhöhen muss, um – im Namen der Inflationsbekämpfung – etwas gegen die unakzeptabel niedrige Arbeitslosigkeit zu tun. Freuen dürfte es die geldpolitischen Falken, dass für einen neuen Volcker-Schock zur Disziplinierung der Arbeit dieses Mal vermutlich keine 20%-Zinsen nötig sind. Einige Prozentpunkte Erhöhung sind auf den heutigen, überreizten Kapitalmärkten vermutlich ausreichend, um ähnlich desaströse Effekte zu provozieren.
In diesem Zusammenhang ist es auch ein Problem, dass Ökonomen seit über 150 Jahren Innovation als "exogenes" Phänomen auffassen. Nach allem, was wir aber inzwischen aus der Neo-Schumpeterianischen Forschung wissen, ist die Annahme von Exogenität höchst problematisch. Sie ist allerdings auch sehr komfortabel: wenn wir als orthodoxe Ökonomen wenig über die Innovation wissen, dann wird sie wohl nicht so wichtig sein.
Supply-siders haben also auch keine Ahnung, dass die Innovation unter ihren strukturellen Reformen leidet: dass etwa die „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte letztendlich das Produktivitätswachstum sinken lässt, wodurch wiederum der Arbeitsmarkt verknappt. Lohnerhöhungen in einem knappen Arbeitsmarkt können sehr leicht höher ausfallen als das Produktivitätswachstum. Hierzu fällt den Supply-Siders dann wieder nichts Besseres ein, als ihre alte Neandertaler Methode: Zinserhöhungen in der Hoffnung auf eine hohe Arbeitslosigkeit. Und dann hoffen, dass halt irgendwann mal die Löhne sinken, wodurch die Inflation beherrschbar wird.
Der Haken an der Sache: Lohnsenkungen reduzieren auch wieder das Produktivitätswachstum, wodurch der Verteilungsspielraum noch kleiner wird – und dies kann dem Inflationsdruck weiteren Auftrieb geben. Ich wünsche der EZB viel Weisheit.