Inflationsursachen

Die vergessene Produktivitätskrise

| 14. Juni 2022
istock.com/siraanamwong

Dass sich „Strukturreformen“ des Arbeitsmarktes negativ auf Innovation und Produktivität auswirken, übersehen Angebotsökonomen. Entsprechend wenig Rat haben sie auch bei einer strukturell höheren Inflation.

Diverse Beiträge, die die hohen Inflationsraten erklären wollen, verweisen zurecht auf externe Faktoren wie die Macht von OPEC-Staaten oder unterbrochene Lieferketten durch COVID-19. Doch wenn dies die einzigen Ursachen für die hohen Preisanstiege wären, stünde zu erwarten, dass das Inflations­problem innerhalb von 1-2 Jahren gelöst ist. Aber es gibt auch noch eine andere Inflationsursache, die die Zentralbanken mittelfristig zu falschem Aktionismus bewegen könnte­ – mit eher kontra­produktiven Folgen.

Trotz der Debatten über Digitalisierung, Robotisierung oder künstlicher Intelligenz, die für eine vermeintliche technologischen Revolution im Zeichen einer innovativen Industrie 4.0 oder 5.0 stünden, sprechen die nackten Zahlen eine andere Sprache. In den wichtigsten OECD-Ländern hat sich das Pro­duk­tivi­täts­wachstum seit etwa 2005 erheblich abge­schwächt.

Wie die Abbildung 1 zeigt, gab es in den letzten siebzig Jahren zwei Perioden, in denen das Wachstum der Arbeitsproduk­tivität jeweils ungefähr halbiert wurde: Anfang der siebzi­ger Jahre, durch das Aus­laufen der expansiven Phase der langen Kondratieff-Welle nach dem Zweiten Weltkrieg. Und nach 2005, mit dem Auslaufen des Booms in der Informationstechnologie[1], als sich die in den siebziger Jahren schon halbierten Wachstumsraten nochmals halbieren. In schwächeren Eurozonen-Ländern wie etwa Italien oder den Niederlanden geht das Produktivitäts­wachstum inzwischen Richtung null.

Warum ist das ein Problem? Das Bruttoinlands­produkt (BIP) ist der Kuchen, der jährlich zwischen Kapital, Arbeit und Staat verteilt werden kann. Wächst dieser Kuchen nur noch geringfügig, dann wird es schwieriger, Verteilungskonflikte zu lösen oder etwa den Green Deal zu finanzieren. Verschärfte Verteilungskämpfe können die Inflationsraten strukturell erhöhen.

Verteilungskämpfe können sich weiter verschärfen durch einen Nebeneffekt des niedrigen Produktivi­täts­wachstums: das arbeits­intensive Wachstum. War das Wirt­schaftswachstum in der Vergangenheit vor allem pro­duktivitäts­getrieben, ist es nun durch die Pro­duk­tivitätskrise viel stärker der intensivierte Arbeitseinsatz. Denn eine Wirtschaft kann nur auf zwei Arten wachsen: Entweder mit mehr Arbeitsstunden oder mit pro­duktiveren Arbeits­stun­den, zum Beispiel mit moderneren Maschi­nen. Mehr Varianten gibt es nicht, sieht man ei­nmal von David Ricardos kom­pa­ra­tiven Vorteilen durch inter­na­tionalen Handel ab.

Abbildung 1

Wenn sich der Einsatz von modernen, pro­duk­tivitätserhöhenden Maschi­nen nur sehr langsam vollzieht, was seit ca. 2005 der Fall ist, dann bleibt nichts anderes übrig, als Wachstum mit (erheblich) mehr Einsatz von Arbeit zu ermöglichen. Dadurch wird sich der Arbeitsmarkt früher oder später verknappen, was aus Sicht der Angebots­ökonomen ("Supply-Side Economics") eine viel zu niedrige Arbeitslosigkeit nach sich zieht.

Die Supply-Side Ökonomen haben bewusst das Konzept der Vollbeschäftigung ersetzt durch das Streben nach (relativ hohen) "natürlichen" oder NAIRU-Arbeitslosen­raten. Diese höhere Arbeits­losigkeit ist aus Sicht der Supply-Siders nötig, um den Faktor Arbeit ausreich­end zu diszipli­nieren. Jetzt aber findet eine Verknappung des Arbeitsmarktes statt, und auch noch ausgerechnet in einer Situation, in der durch die Produkti­vitätskrise der Verteilungs­spiel­raum viel kleiner ist. Dies könnte zukünftig die Inflation verstärken und damit die Rufe nach einen neuen Volker-Schock zur Diszi­plinierung der Arbeit lauter werden lassen.

Der Zusammenhang zwischen niedrigerem Produktivitätswachstum und hoher Arbeitsintensität des Wirtschafts­wachstums lässt sich gut anhand eines Vergleichs zwischen Deutschland und den USA illustrieren. Abbildung 1 zeigt, dass das amerikanische Produktivitätswachstum (mit Ausnahme des Booms der Informations­tech­nologie zwischen 1995-2005) strukturell niedriger war als in der EU und in Japan, was übrigens viel mit Supply-Side Economics zu tun hat. Im Kontrast zum relativ niedrig-produktiven aber dadurch arbeitsintensiven Wachstum in den USA (Abbildung 2) steht das (vor den Hartz-Reformen) noch sehr produktivitätsgetriebene und dadurch relativ arbeitsextensive Wachstum in Deutschland (Abbildung 3).

Da in Abbildung 2 und 3 alle Werte auf den Index 1960 = 100 normiert sind, ist sehr leicht ersichtlich: die Arbeits­produktivität in Deutschland steigt von 100 im Jahr 1960 auf 450 in 2020, während die amerikanische Arbeitsproduktivität im selben Zeitraum nur einen Wert von knapp 300 schafft. Die Kehrseite sind die Arbeits­stun­den: Das amerikanische Wachstum musste zwischen 1960 und 2020 "gefüttert" werden mit einer Verdoppelung der Arbeitsstun­den (von 100 auf beinahe 212), während in Deutschland die Arbeits­stunden von 100 auf 77 sanken. Kein Wunder, dass die amerikanische "Jobmaschine" als wichtiges Verkaufsargument für Supply-Side Economics diente.

Interessant ist auch, dass die Propagandisten der anti-Keynesianischen Supply-Side Economics immer wieder auf das alte "eurosklerotische" Europa verwiesen haben, das mit seinen starren Arbeits­märkten wenig Beschäftigung schaffe. In den Diskussionen über die "Eurosklerose" wurde immer sehr sorg­fältig vermieden, Produktivitätszahlen auch nur zu erwähnen, obwohl das Wirtschaftswachstum in Deutsch­land (vor den Hartz-Reformen) viel intelligenter war als in den USA: mit weniger Arbeit mehr produ­zie­ren, während die Amerikaner viel mehr freie Zeit aufopfern mussten, um ihre Wirtschaft auf dem Wachstumspfad zu halten.

Abbildung 2
Abbildung 3

Wie kommt es, dass Deutschland trotz der ab 1960 sinkenden Gesamtarbeits­stunden (und mit steigendem Arbeitsangebot von Frauen und Gastarbeitern) doch keine exorbitanten Arbeitslosen­zahlen kannte?

Die Antwort liegt in der Arbeitszeitverkürzung. Die durchschnittlichen Arbeitsstunden pro Arbeitnehmer lagen im Deutschland des Jahres 1960 bei 2.182 Stunden im Jahr, 1990 bei 1.583 und 2020 bei 1.324 Stunden. In den USA dagegen liegen die Arbeitsstunden 1960 bei 1.935, im Jahr 1990 bei 1.796 und 2020 bei 1.751 Stunden (Conference Board, Total Economy Database).

Da Deutschland nach den Hartz-Reformen nur noch bescheidenes Produktivitätswachstum kennt, sind zwei Dinge zu erwarten. Zum ersten gibt es weniger (extra) zu verteilen. Irgendjemand muss also in Deutsch­land Opfer bringen: Entweder das Kapital (sehr unwahrscheinlich) oder die Arbeit (vermut­lich vor allem niedrig Ausgebildete) und/oder der Staat, was lebendige Diskussionen um Sparmaß­nahmen und die Schwarze Null erwarten lässt.

Zum zweiten verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeit durch die sinkende Arbeitslosigkeit. Aufmüpfigen Gewerkschaften wird mit einer Kampagne von rechts begegnet, dass die EZB die Zin­sen erhöhen muss, um – im Namen der Inflationsbekämpfung – etwas gegen die unakzeptabel niedrige Arbeits­losigkeit zu tun. Freuen dürfte es die geldpolitischen Falken, dass für einen neuen Volcker-Schock zur Disziplinierung der Arbeit dieses Mal vermutlich keine 20%-Zinsen nötig sind. Einige Prozentpunkte Erhöhung sind auf den heuti­gen, überreizten Kapital­märkten vermutlich ausreichend, um ähnlich desaströse Effekte zu provozieren.

In diesem Zusammenhang ist es auch ein Problem, dass Ökonomen seit über 150 Jahren Innovation als "exogenes" Phänomen auf­fassen. Nach allem, was wir aber inzwischen aus der Neo-Schumpete­riani­schen Forschung wissen, ist die Annahme von Exogenität höchst problematisch. Sie ist allerdings auch sehr komforta­bel: wenn wir als orthodoxe Ökonomen wenig über die Innovation wissen, dann wird sie wohl nicht so wichtig sein.

Supply-siders haben also auch keine Ahnung, dass die Innovation unter ihren strukturel­len Reformen leidet: dass etwa die „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte letztendlich das Produktivitätswachstum sinken lässt, wodurch wiederum der Arbeitsmarkt verknappt. Lohnerhöhungen in einem knappen Arbeits­markt können sehr leicht höher ausfallen als das Produktivitäts­wachstum. Hierzu fällt den Supply-Siders dann wieder nichts Besseres ein, als ihre alte Neandertaler Methode: Zins­erhöhungen in der Hoffnung auf eine hohe Arbeitslosig­keit. Und dann hoffen, dass halt irgendwann mal die Löhne sinken, wodurch die Inflation beherrsch­bar wird.

Der Haken an der Sache: Lohn­senkungen reduzieren auch wieder das Produktivitäts­wachstum, wodurch der Verteilungs­spielraum noch kleiner wird – und dies kann dem Inflationsdruck weiteren Auftrieb geben. Ich wünsche der EZB viel Weisheit.

[1] Vgl. Cette et al. (2015). Contribution of ICT diffusion to labour productivity growth: the United States, Canada, the Eurozone and the United Kingdom, 1970–2013, International Productivity Monitor, vol. 28: 81–88; Gordon, R. (2016). The rise and fall of American growth, Princeton Univ. Press.