Der „Branchen Pay Gap“
Verdienstunterschiede zwischen den Branchen werden selten thematisiert. Doch sind sie keineswegs irrelevant, denn auch wenn Tätigkeiten nach Qualifikation oder Verantwortung ähnlich sind, klafft die Bezahlung auseinander.
Verdienstunterschiede zwischen Branchen standen in Deutschland lange nicht im Zentrum öffentlicher Diskussionen – bis die COVID-19-Pandemie den Blick auf die oft prekären Einkommensverhältnisse in personenbezogenen Dienstleistungen lenkte. Während geschlechtsspezifische Entgeltungleichheiten bereits seit Jahren von Experten wie Andrea Jochmann-Döll oder Ute Klammer und ihren Kollegen bei der Hans-Böckler-Stiftung thematisiert werden, finden allerdings in internationalen Vergleichen häufiger sektorale und branchenbezogene Lohnvergleiche statt. Ein Beispiel dafür ist eine Arbeit der Tarifpolitik- und Arbeitsmarktforscher Torsten Müller und Thorsten Schulten.
Besonders vor dem Hintergrund des demografisch bedingt wachsenden Pflegebedarfs und der politischen Bemühungen um eine Aufwertung der frühkindlichen Bildung geraten die Verdienste in diesen Bereichen zunehmend in den Fokus – sowohl seitens der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di als auch in der Fachpolitik. Aber wie ausgeprägt sind die Verdienstunterschiede zwischen Industrie und personenbezogenen Dienstleistungen tatsächlich – und verändern sie sich angesichts gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen?
Verdienstunterschiede nach Branchen
Im Mai 2025 meldete das Statistische Bundesamt, dass Vollzeitbeschäftigte in den Gesundheits- und Pflegeberufen im April 2024 im Mittel (Medianverdienst) 4.048 Euro brutto ohne Sonderzahlungen verdienten. Dies waren 1.219 Euro mehr als zehn Jahre zuvor (2.829 Euro im April 2014). Innerhalb der Gesundheits- und Pflegeberufe hingegen profitierten vor allem Altenpflegefachkräfte in den vergangenen zehn Jahren von gestiegenen Verdiensten.
Zugleich fiel der Verdienstzuwachs in den Gesundheits- und Pflegeberufen seit 2014 gegenüber anderen Berufsgruppen deutlich höher aus. So war etwa in den Metall- und Elektroberufen (2024: 3.892 Euro) im gleichen Betrachtungszeitraum mit +899 Euro (2014: 2.993 Euro) ein geringerer Verdienstzuwachs zu verzeichnen.
Die Daten zur Verdienstentwicklung legen zum einen nahe, dass Verdienstniveaus und Verdienstentwicklungen nach Berufen beziehungsweise Tätigkeiten nicht nur zwischen Branchen, sondern auch innerhalb von Branchen unterschiedlichen Entwicklungspfaden folgen. Zum anderen können Verdienstunterschiede nicht nur zwischen Berufsgruppen, sondern auch zwischen gleichen Berufsgruppen in unterschiedlichen Wirtschaftsbranchen und deren Subbranchen existieren. Verdienstunterschiede zwischen Branchen finden sich auch bei Tätigkeiten, die ähnlich hinsichtlich relevanter Merkmale wie Qualifikation und Verantwortung strukturiert sind.
Hier setzt das Projekt "Entgeltunterschiede zwischen Branchen - Statistische und betriebliche Analysen zur Entgeltbestimmung" an. Ziel des vom Institut Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule und dem Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur (F.A.T.K.) durchgeführten Projekts – gefördert von der HBS – ist es, Entgeltunterschiede anhand von Branchen- sowie Berufs- und Tätigkeitsvergleichen zu analysieren. Untersuchungsfelder sind die Metall- und Elektroindustrie, die Sozial- und Erziehungsdienste sowie die Akutpflege in Krankenhäusern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen Einflussfaktoren auf einen Branchen Pay Gap.
Abbildung 1 zeigt die Bruttomonatsverdienste Vollzeitbeschäftigter am Beispiel der Wirtschaftszweige Maschinenbau, Autoindustrie, Kindergärten und Vorschulen sowie Krankenhäusern nach Leistungsgruppen (Leistungsgruppe 1 = Arbeitnehmer in leitender Stellung; Leistungsgruppe 2 = Herausgehobene Fachkräfte; Leistungsgruppe 3 = Fachkräfte; Leistungsgruppe 4 = Angelernte Arbeitnehmer; Leistungsgruppe 5 = Ungelernte Arbeitnehmer).
Es wird deutlich: Zwischen den jeweiligen Leistungsgruppen im Branchenvergleich bestehen nach wie vor deutliche Verdienstunterschiede. Für die Leistungsgruppe 1 im Krankenhaussektor beträgt der Bruttomonatsverdienst 8.877 Euro, dieser liegt damit oberhalb der Bruttomonatsverdienste für die gleiche Leistungsgruppe in den Branchen „Maschinenbau“ (7.897 Euro) und „Kraftfahrzeuge, -teile“ (7.968 Euro). Demgegenüber werden im Vergleich der Leistungsgruppe 5 in den zuletzt genannten Branchen mit 3.048 Euro (Maschinenbau) bzw. 2.908 Euro (Kraftfahrzeuge, -teile) deutlich höhere Bruttomonatsverdienste im Vergleich zum Krankenhaussektor realisiert. Gleichzeitig gehören die Bruttomonatsverdienste im Bereich „Kindergärten und Vorschulen“ in allen Leistungsgruppen zu den niedrigsten im Vergleich zu anderen Branchen.
Auch unterscheiden sich die Wochenarbeitszeiten der Vollzeitbeschäftigten zwischen den betrachteten Branchen gemäß Statistischem Bundesamt: Automobil 35,7 Stunden, Maschinenbau 37,2 Stunden, Kindergärten und Vorschulen 39,1 Stunden und Krankenhäuser 35,7 Stunden. Dadurch verstärken sich die Verdienstunterschiede.
Zwischen den jeweiligen Leistungsgruppen (LG 1 bis LG 5) zeigen sich deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Lohnabstände innerhalb als auch zwischen den betrachteten Wirtschaftszweigen. Die Entwicklung der Bruttomonatsverdienste Vollzeitbeschäftigter am Beispiel von Maschinenbau, Autoindustrie, Kindergärten und Vorschulen sowie Krankenhäusern für die LG 3 (Fachkräfte) im Zeitverlauf (2007 bis 2021) ist in Abbildung 2 dargestellt:
Alle aufgeführten Wirtschaftsbranchen verzeichneten im Beobachtungszeitraum Verdienstzuwächse – wenngleich auf unterschiedlichem Niveau. Zugleich sind in der Verdienstentwicklung der Wirtschaftszweige „Kraftfahrzeuge, -teile“ und „Maschinenbau“ die Folgen der Finanzkrise (2007-2008) sowie der Corona-Krise (2020) deutlich erkennbar.
Auch wenn die Löhne in allen untersuchten Branchen insgesamt gestiegen sind, zeigen sich unterschiedliche Entwicklungen bei der Verringerung von Einkommensunterschieden unter Fachkräften: So lag die Verdienstdifferenz zwischen den Wirtschaftszweigen „Krankenhäuser“ und „Kraftfahrzeuge, -teile“ 2007 bei 713 Euro, im Jahr 2021 ist diese auf 552 Euro gesunken. Demgegenüber zeigt die Entwicklung der Verdienstunterschiede zwischen Fachkräften in „Krankenhäuser“ und „Kindergärten und Vorschulen“ eine konträre Entwicklung: Hier ist der Verdienstabstand im Zeitraum 2007 bis 2021 sogar von 210 Euro auf 332 Euro gestiegen.
Berufsspezifische Verdienstunterschiede zwischen Branchen
Es liegt nahe, sich der Frage nach den Verdienstunterschieden zwischen Branchen über einen Berufsvergleich anzunähern. Die Daten der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes erlauben einen Branchenvergleich auf Basis der Berufssystematik nach der International Standard Classification of Occupations (ISCO).
Abbildung 3 vergleicht die Bruttostundenverdienste (Median) ausgewählter Berufe nach den Wirtschaftszweigen Metall- und Elektrobranche, Sozial- und Erziehungsdienste und Krankenhäuser. Ebenfalls aufgeführt: die jeweils realisierten Bruttostundenlöhne (Median) über alle Wirtschaftszweige (gesamt).
Bei der Auswahl der Berufe wurde darauf geachtet, dass diese in allen Branchen vertreten sind und eine hinreichende Anzahl an Beschäftigten aufweisen, um aussagekräftige Vergleiche zu ermöglichen. Über alle betrachteten Branchen hinweg werden in den ausgewählten Berufen im Wirtschaftszweig „Sozial- und Erziehungsdienste“ die geringsten Bruttostundenlöhne erzielt. Oder anders formuliert: Eine Sekretariatsfachkraft, die in den Sozial- und Erziehungsdiensten tätig ist, muss – um den gleichen Verdienst wie Kollegen in der Metall- und Elektrobranche zu erzielen – doppelt so lange arbeiten.
Demgegenüber fallen etwa die Bruttostundenlöhne für „Geschäftsführungen/Vorstände“ und „leitende Verwaltungsbedienstete“ in den Krankenhäusern gegenüber der „Metall- und Elektrobranche“ höher aus. Bezieht man jedoch „Sekretariatsfachkräfte in Verwaltung und Geschäftsleitung“, „Bürokräfte im Personalwesen“ oder „Systemadministratoren“ in den Verdienstvergleich ein, so zeigt sich, dass in der Metall- und Elektrobranche im Vergleich zum Krankenhaussektor für diese Berufsgruppen höhere Bruttostundenlöhne erzielt werden.
Governance der Lohnverteilung und Arbeitsbewertung
Ohne Zweifel sind die beobachtbaren Verdienstzuwächse auch das Ergebnis tariflicher Aufwertungserfolge. Auch deutet sich an, dass Verdienstunterschiede im Sinne eines „Branchen Pay Gaps“ nicht vollständig durch einen „Gender Pay Gap“ erklärt werden können. Sowohl für zentrale Berufe der Metall- und Elektrobranche (etwa Fachkräfte der Kraftfahrzeugtechnik, der Metallbearbeitung), des Sozial- und Erziehungsdienstes (vor allem Erzieher und Sozialarbeiter) als auch für den Krankenhaussektor (vor allem ärztliches Personal, Pflegefachpersonal, Funktionsdienste) konstatiert die Bundesagentur für Arbeit gegenwärtig einen Fachkräftemangel. Insbesondere für den Mangel in „systemrelevanten“, personenbezogene Tätigkeiten ist die öffentliche Aufmerksamkeit nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie gestiegen.
Gleichwohl zeigen die Verdienstdaten, dass nicht alle personenbezogenen sozialen Dienstleistungsberufe gleichermaßen von dieser gestiegenen Aufmerksamkeit profitieren konnten. Daher ist es notwendig, die organisationalen und institutionellen Rahmenbedingungen von Branchen im Hinblick auf die Erklärung unterschiedlicher Lohnniveaus und Lohnentwicklungen bei ähnlichen Tätigkeiten stärker in den Fokus zu rücken.
Ein Beispiel für unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen ist die Tarifbindung: So beträgt der Anteil tarifgebundener Betriebe mit einem Branchentarifvertrag auf Basis der Daten der Verdiensterhebung (2023) in der Metall- und Elektroindustrie rund 64,6 Prozent, in den Sozial- und Erziehungsdiensten sind es rund 46,6 Prozent, im Krankenhaussektor rund 75,7 Prozent. Doch auch zwischen und innerhalb von Tarifverträgen können unterschiedliche Verdiensteffekte auftreten (vergleiche etwa die Sondertabellen für Pflege und Sozial- und Erziehungsdienste im TVöD).
Es gibt branchen- und berufsspezifische Bedingungen für Verteilungsspielräume bei Lohnzuwächsen (employer‘s ability to pay). In der Metall- und Elektroindustrie entstehen Verteilungsspielräume für Lohnzuwächse durch Produktivitätsfortschritte, durch Absatzchancen auf nationalen und internationalen Märkten sowie durch entsprechende Gewinnerwartungen der Unternehmen. Grundlage der Refinanzierungsmöglichkeiten von Personalkosten im Krankenhaussektor sind hingegen die Erlöse der Kliniken aus der Patientenversorgung, wobei tarifbedingte Lohnerhöhungen in der Akutpflege über das Pflegebudget vollumfänglich von den gesetzlichen Krankenkassen refinanziert werden. Zu den Sozial- und Erziehungsdiensten zählen unter anderem die frühkindliche Bildung und Betreuung, zuständig für die Refinanzierung ist hier die öffentliche Hand (vor allem Kommunen und Länder).
Um das Ziel einer besseren Entlohnung der Beschäftigten in Pflege und Betreuung zu realisieren, ist seit dem 1. September 2022 gesetzlich vorgegeben, dass Pflegeeinrichtungen Leistungen der Pflegeversicherung nur noch dann erbringen und abrechnen dürfen, wenn sie selbst an einen Tarifvertrag oder eine kirchliche Arbeitsrechtsregelung gebunden sind oder das Personal in Pflege und Betreuung daran orientiert entlohnen („Tariftreue-Regelung“). Zusätzlich wurde den Einrichtungen die Möglichkeit eingeräumt, nach dem sogenannten „regionalüblichen Entlohnungsniveau“ zu bezahlen. Die Marktzulassung von Pflegeeinrichtungen in der Langzeitpflege wurde somit unmittelbar an das Entlohnungsniveau des Personals in Pflege und Betreuung gebunden.
Angesichts der skizzierten Verdienstunterschiede nach Branchen gilt es zum einen, den Einfluss der branchenspezifischen Governance auf das Verdienstniveau und die Verdienstentwicklung (unter anderem Einsatz- und Anwendungsbedingungen von Arbeit, industrielle Beziehungen, Refinanzierungsbedingungen von Personalkosten, öffentliche und politische Aufmerksamkeit) zu bestimmen. Zum anderen ist es erforderlich, neben Arbeitsmarkteinflüssen auch branchenspezifische Logiken der Arbeitsbewertung in den Blick zu nehmen. Hierzu möchte das Projekt „Entgeltunterschiede zwischen Branchen“ einen Beitrag leisten.