Essay

Deutschlands Krise: eine Kultur der Unterwerfung

| 10. Juni 2025
Joe Biden und Olaf Scholz am 7. Februar 2022 im East Room des Weißen Hauses bei einer gemeinsamen Pressekonferenz (IMAGO / ZUMA Press Wire)

Schweigend stand Olaf Scholz am 7. Februar 2022 im Oval Office neben Joe Biden, als der das Ende von Nord Stream II verkündete. Ein Akt der Unterwerfung, der für eine 77-jährige Geschichte steht.

Es war ein verstörender Moment, als Olaf Scholz bei einer Pressekonferenz am 7. Februar 2022 nach dem Abschluss vertraulicher Gespräche im Oval Office neben Präsident Joe Biden stand. Der damalige US-Präsident erklärte, dass es „keine Nord Stream II mehr geben wird", sollten russische Truppen in ukrainisches Gebiet einmarschieren – wovon er zu diesem Zeitpunkt überzeugt war. Biden weiter: "Wir werden es zu einem Ende bringen."

Man muss sich einen Moment Zeit nehmen, um sich die Videoaufzeichnung dieses Ereignisses anzusehen. Was strahlen diese beiden Männer aus? Betrachten wir ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Mimik, was jeder gesagt und ungesagt gelassen hat, und lesen wir hinein, was wir können. Ich lese eine 77-jährige Geschichte.

In Biden sehen wir einen Mann, der ruhig und sachlich seine Absicht bekundet, die teuren Industrieanlagen eines Landes zu zerstören, das der Mann neben ihm repräsentiert. Wir bemerken seine vollkommene Gelassenheit, seine abweisende Handbewegung, mit der er seine Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen und sogar der Souveränität eines engen Verbündeten offen zur Schau stellt.

Diese erstaunliche Grobheit Bidens, mit der er neben Scholz steht, hatte ich bis vor kurzem seiner ganzen von Ungeschicklichkeiten geprägten politischen Karriere zugeschrieben. Aber wenn ich jetzt über diesen Moment nachdenke und alles vor ihm betrachte, gibt es eine andere Möglichkeit, ihn zu beurteilen: Nach Jahrzehnten der übermächtigen Dominanz innerhalb des Atlantischen Bündnisses sah Biden keine Notwendigkeit mehr, die hegemoniale Stellung Amerikas zu verschleiern. In der Aufzeichnung ist das Gesicht eines Mannes zu sehen, der boshaften Stolz auf diese Ausübung roher Macht zu empfinden scheint.

Scholz seinerseits stand gemäß Protokoll an einem separaten Rednerpult und sagte zu Bidens Auslassung nichts. Sein Verhalten deutet darauf hin, dass er weder überrascht noch verärgert war. Er wirkt vielmehr resigniert, besorgt, leicht bedauernd, leicht unterwürfig. In seinem Gesicht lesen wir die Besorgnis eines Soldaten, der gerade den unheilvollen Schlachtplan seines kommandierenden Offiziers akzeptiert hat. Ich vermute, dass er sich auch fragte, was um alles in der Welt er seinem Kabinett und den Deutschen bei seiner Rückkehr nach Berlin sagen sollte.

Um diesen bedeutungsschweren Moment, der in den Annalen der transatlantischen Diplomatie als nahezu einzigartig gelten kann, am besten zu verstehen, muss man einen Blick zurück und dann nach vorne werfen.

Was für eine lange Zeit liegt zwischen dem Deutschland der frühen 1980er Jahre, dem Deutschland von Helmut Schmidt, und dem Deutschland von Olaf Scholz, das 40 Jahre später fast ängstlich neben Amerika auf dem Podium stand. Schmidt, ein Sozialdemokrat, der sich der Ostpolitik Willy Brandts verschrieben hatte, hatte gemeinsam mit anderen Europäern die deutschen Interessen gegen die unverblümten Versuche von Präsident Ronald Reagan verteidigt, Deutschland die Disziplin des Kalten Krieges aufzuzwingen. Scholz, ein Sozialdemokrat ganz anderer Prägung, war hingegen nicht geneigt, Deutschland gegen Joe Biden zu verteidigen – selbst als es um die Souveränität seines Landes ging.

Wie konnte es dazu kommen? Nach einigen Tagen der Berichterstattung in Berlin, in einer Stadt, die lange Zeit durch den Eisernen Vorhang geteilt war, und nach weiteren Aufenthalten in anderen Teilen Deutschlands entstand für mich der Eindruck, dass die Politik des Kalten Krieges und der Nachkriegszeit allein keine Antwort auf diese Frage geben kann. In meinen Jahrzehnten als Korrespondent habe ich gelernt, dass man Psychologie und Kultur heranziehen muss, um die Politik und Geschichte, die in gewisser Weise Ausdruck der ersteren sind, vollständig zu verstehen.

Deutschland nach 1945

Die Pläne der Alliierten für die Nationen, die sie 1945 niedergerungen hatten und die in kurzer Zeit zu den Plänen Amerikas wurden, waren äußerst ehrgeizig. Auf der Potsdamer Konferenz, wenige Monate nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, teilten Churchill, Truman und Stalin Deutschland in vier Besatzungszonen auf: Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion sollten jeweils eine Zone verwalten. Berlin lag in der sowjetischen Zone, wurde aber ebenfalls geteilt. Millionen deutscher Siedler mussten aus den von den Nazis eroberten Gebieten repatriiert werden – ein chaotisches Unterfangen, das von selten erwähnten Leiden geprägt war. Sofort begann ein Entnazifizierungsprogramm, und das deutsche Militär sollte aufgelöst werden. Gleichwohl waren beide Ziele, gelinde gesagt, kompliziert, da die Kriegsallianz mit Moskau zunehmend dem Kalten Krieg wich.

Aber gerade in der Frage um die Herzen und Köpfe der Deutschen kippte die Neugestaltung des Reiches zu einem anderen Land von Ambition in Hybris. Es handelte sich um eine psychologische Operation, deren Ausmaß und Tragweite seitdem wohl nie wieder erreicht wurden. Nur die Japaner nach 1945 haben etwas Ähnliches durchgemacht. Dieses Projekt wurde zunächst von den Anhängern des New Deal unter Roosevelt konzipiert und umgesetzt. Es dauerte ein oder zwei Jahre, bis der Kalte Krieg die hohen Ideale in den rigiden Antikommunismus der späten 1940er und frühen 1950er Jahre verwandelte. Die Japaner bezeichnen dies, nicht ohne eine gewisse Bitterkeit, als „Umkehrkurs“.

In Deutschland gab es diese Kehrtwende der Nachkriegszeit ebenfalls. Das Projekt war auf beiden Seiten des Atlantiks dasselbe. Es ging nicht darum, authentische Experimente mit einer Demokratie von unten zu fördern, wie orthodoxe Historiker diese Zeit darstellen. Es ging darum, Deutschland und Japan als verlässliche Verbündete im Kalten Krieg zu rekrutieren. Die Demokratisierung wurde zum bloßen Prätext, da Demokratie per definitionem weder von einem Land exportiert noch von einem anderen importiert werden kann.

Anders ausgedrückt: Insofern Deutschland und Japan sich in den Nachkriegsjahrzehnten zu Demokratien entwickelten, geschah dies weniger aufgrund des Einflusses der USA als vielmehr trotz dieses Einflusses.

In der US-Zone übernahmen Verwaltungsbeamte in Uniform und Zivil die Kontrolle über alle Formen der Information. Alle Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender wurden geschlossen. Amerikanische Journalisten (von denen einige später eine glänzende Karriere machten) wurden damit beauftragt, die deutschen Medien neu zu erfinden, um sie an die neue Demokratie anzupassen. Die Propagandaprogramme, die diese Neugestaltung der Massenmedien begleiteten und mit der Zeit stark von antisowjetischen Botschaften geprägt waren, waren immens und reichten von Umerziehungsprojekten und Radio-Talkshows bis hin zu massenhaft verteilten Flugblättern. Die Literatur über diese Zeit vermittelt den Eindruck eines Vorhabens, das kein gesprochenes oder geschriebenes Wort und kein Bild der offiziellen Kontrolle entzog.

Eine der unvergesslichen Fernsehsendungen meiner frühen Kindheit war die Serie Highway Patrol. Die wöchentlichen Episoden und ihr Star hatten etwas Charismatisches. Broderick Crawford spielte den dickbäckigen, schroffen, schlampig gekleideten Polizeichef einer namenlosen kalifornischen Stadt. Er stürmte an Tatorten heran, riss unter Sirenen und Staubwolken die Tür seines Streifenwagens auf und bellte Befehle in sein Handfunkgerät – wobei er seinen Beamten mit dem unvergesslichen „10–4“ antwortete.

Broderick Crawford in Highway Patrol

Highway Patrol lief von 1955 bis 1959 mit 156 Folgen. Oberflächlich betrachtet war die Serie eine Verherrlichung der offiziellen Autorität. Es ging um die Notwendigkeit, die Ordnung inmitten ständiger Bedrohungen aufrechtzuerhalten. Aber in Text und Subtext handelte Highway Patrol vom Amerika der Nachkriegszeit; jede Folge war eine Wiederholung dessen, was es in diesen Jahren bedeutete, Amerikaner zu sein. Der Kalte Krieg wurde nie erwähnt, aber er schien in jeder einzelnen Folge präsent zu sein. Zu den wiederkehrenden Themen der Serie gehörten die allgegenwärtige Angst und die Notwendigkeit der Loyalität.

Highway Patrol wurde von einer ambitionierten Produktionsfirma namens Ziv Television Programs entwickelt. Die Produktionen von Frederick Ziv, Gründer und Geschäftsführer, waren implizit und gelegentlich auch explizit von einer antikommunistischen Stimmung geprägt, ähnlich wie Highway Patrol. Nachdem Ziv 1955 Broderick Crawford unter Vertrag genommen hatte, war Highway Patrol die erste amerikanische Serie, die im neuen deutschen Privatfernsehen ausgestrahlt wurde.

Wie seltsam erscheint es heute, dass deutsche Familien, die ein Jahrzehnt nach ihrer schrecklichen Niederlage in einem weltgeschichtlichen Krieg vor ihren Fernsehern saßen, dieselbe Polizei- und Gangster-Serie sehen konnten, die einen kleinen Jungen in einem grünen Vorort von New York vor dem Bildschirm faszinierte.

Soft Power oder die Sprache des Siegers

Highway Patrol ist ein kleines Beispiel für eine weitere Dimension des Nachkriegsprojekts in Deutschland: Es war ein früher Fall dessen, was wir heute als Soft Power bezeichnen. Die Bedeutung dieses amerikanischen Einflusses in der Nachkriegszeit in Deutschland und seine Folgen bis heute können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Während die Besatzungsbehörden durch Informations- und Propagandaoperationen kontrollierten, was die Deutschen dachten, bestimmten importierte amerikanische Kulturprodukte – Filme, Musik, Essen, soziale Sitten und Gebräuche usw. – ihr Denken: wie sie über die Welt und über sich selbst dachten.

Die Macht der Soft Power war zu dieser Zeit in Japan offensichtlicher, weil die Besatzung auf eine Konfrontation zwischen zwei verschiedenen Zivilisationen hinauslief. Von den Amerikanern lernten die Japaner Billard, Gesellschaftstanz, Big-Band-Jazz, Walt-Disney-Filme, wie man Martinis mixt und wie man sich mit der Nonchalance der Amerikaner gibt. In Deutschland war es genauso, nur weniger abrupt. Die Nachkriegsdeutschen entdeckten Blue Jeans, Hamburger, Bill Haley and His Comets, John Wayne, wie man Coca-Cola trinkt und wer weiß, was noch alles.

Wenn man das Wesentliche des Nachkriegsprojekts in Deutschland zusammenfassen wollte, würde ich sagen, dass sein bleibendes Ergebnis ein neu geformtes Bewusstsein ist. Ein deutschsprachiger Schweizer Freund drückte es neulich so aus: „Die Deutschen haben mehr als alle anderen Europäer und vor allen anderen gelernt, die Sprache des Siegers zu sprechen.“ Das bringt mich zu einem fatalen Irrtum, der einer kurzen Erklärung bedarf.

Um einen Schritt zurückzugehen: Zu den vorherrschenden Dogmen der Jahrzehnte des Kalten Krieges gehörte in der Wissenschaft die „Modernisierungstheorie“. In einem Satz ausgedrückt bedeutete dies, dass Modernisierung eine Verwestlichung erforderte. Beides sei angeblich dasselbe. Alle neuen und unabhängig gewordenen Nationen im sogenannten Globalen Süden müssten, wenn sie modern werden wollten, dem Beispiel des Westens folgen. Angesichts der unzähligen, durchweg destruktiven Folgen halte ich dies für einen der schlimmsten Fehler der letzten acht Jahrzehnte. Erst jetzt lernen die nicht-westlichen Nationen, dass echte Modernisierung damit beginnt, sich selbst zu finden.

Deutschland hat nach seiner Niederlage 1945 einen ähnlichen fehlerhaften Weg eingeschlagen. Um die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die Grausamkeiten, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hatten, zu überwinden, sollte das Land endlich modern werden. Das bedeutete Demokratisierung. Und Demokratisierung wurde gleichgesetzt mit Amerikanisierung. Diese Erzählung exportieren die USA seit der Ära Wilson zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Doch der Versuch, das Bewusstsein einer Nation zu verändern, ist – abgesehen von der impliziten Hybris – ein äußerst heikles Unterfangen. Es bedeutet, an der Identität eines Volkes zu rütteln, an seinem grundlegendsten Verständnis davon, wer es ist. Die Gefahr einer solchen kollektiven psychologischen Entwurzelung – insbesondere bei Menschen, die aufgrund ihres Verhaltens in der Vorkriegs- und Kriegszeit mit Schuld belastet sind – liegt für mich auf der Hand. Sowohl im Falle Deutschlands als auch im Falle Japans scheinen mir die Umstände der Nachkriegswelt das Ergebnis bestimmt zu haben. Der Übergang von der Niederlage zu den Imperativen des Siegers im Kalten Krieg musste zwangsläufig auf beiden Seiten des Atlantiks zu dem führen, was ich als Kultur der Unterwerfung bezeichne.

Als 1949 der Eiserne Vorhang Deutschland teilte und die Amerikaner den Wiederaufbau des Landes lenkten, war dies meiner Meinung nach eine Art Verstümmelung – auf den Landkarten, aber auch in den Köpfen. Und weder Deutschland noch seine Bevölkerung haben sich meiner Ansicht nach von diesem Schock erholt. Das ist eine Feststellung, die jedem klar sein dürfte, der aufmerksam durch das Land reist. Deutschland ist seit einem Dreivierteljahrhundert nicht mehr es selbst; die Deutschen sind psychologisch gesehen in gewisser Weise von sich selbst getrennt, losgelöst. Das ist ein seltsamer Zustand für ein Volk, das mir immer als charakterstark erschienen ist.

Vor langer Zeit schrieb Oscar Wilde in De Profundis, dem berühmten Traktat, den er während seiner Haft in Reading Gaol verfasste: „Die meisten Menschen sind andere Menschen“. Wilde hatte zwar ganz andere Dinge im Kopf, aber diese bemerkenswerte Pensée scheint mir perfekt zu passen, wenn wir an die Nachkriegsdeutschen denken. „Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben eine Nachahmung, ihre Leidenschaften ein Zitat“, heißt es in dem Text weiter.

Ich denke an diese Passage, wenn ich auf Olaf Scholz zurückblicke, der vor drei Jahren stumm dastand, während der amerikanische Präsident der Welt verkündete, dass er Scholz gleich missbrauchen und demütigen würde, ohne einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Wer war Scholz in diesen Momenten? Es ist seltsam, dass die überzeugendste Antwort darauf „Niemand“ sein könnte. Dort auf dem Podium, nominell gleichberechtigt, aber offensichtlich alles andere als das, war Scholz die verkörperte Kultur der Unterwerfung nach 1945.

Zu den wenigen Lichtblicken, die man heute in Deutschland sieht – in Berlin, aber noch deutlicher, würde ich sagen, in den Dörfern und Städten der ehemaligen DDR –, gehört die schwache, aber erkennbare Aussicht, dass Deutschland und seine Bevölkerung mit der Zeit wieder zu sich selbst finden könnten. „Wir alle suchen unser Land“, sagte ein befreundeter Journalist und Dokumentarfilmer, als wir unseren gemeinsamen Vormittag in Potsdam im vergangenen Herbst beendeten. Es schien das zu sein, was er mir am meisten zeigen wollte.