Editorial

Das kranke Krankensystem

| 16. Juni 2021
istock.com/Osobystist

Liebe Leserinnen und Leser,

trotz Wogen des Applauses – spätestens seit der Corona-Pandemie ist offensichtlich, wie reformbedürftig das deutsche Gesundheitssystem ist. Vor allem der Pflegesektor liegt in Trümmern: mangelnde Fürsorge und zu wenig Pflegekräfte, die nicht nur schlecht bezahlt sind, sondern auch bis zur Belastungsgrenze arbeiten.

Das hat mittlerweile auch die Bundesregierung eingesehen. Oder doch nicht? Die von der schwarz-roten Koalition im Bundestag verabschiedete Pflegereform klingt zwar auf den ersten Blick vernünftig: Mehr Personal und bessere Gehälter verspricht Gesundheitsminister Jens Spahn. Die dafür anfallenden höheren Kosten sollen Pflegebedürftige und ihre Familien nicht tragen, sondern sogar entlastet werden.

Doch woher soll das Geld kommen? Die Bundesregierung hat sich einen Trick ausgedacht. Wegen des Verzichts auf eine generelle Anhebung der Pflegeleistungen sparen die Kassen laut Gesundheitsministerium jährlich 1,8 Milliarden Euro. Und siehe da: Dank dieser Einsparung lassen sich die Zuschüsse für Heimbewohner und etwas höhere Gehälter dem Ministerium zufolge zumindest im kommenden Jahr finanzieren. Doch für hilfebedürftige Menschen bedeutet dies unterm Strich ein Kürzungsprogramm.

Und das Pflegepersonal? Bereits die Lohnrunde im vergangenen Jahr zeigte, dass sich das Pflegepersonal nicht viel von seiner „Systemrelevanz“ wird kaufen können. Trotz aller Spendierfreude gegenüber – teilweise testenden – Testzentren und beim Verteilen von – teilweise vorhandenem – Impfstoff sind ordentliche Lohnzuwächse und Entlastungen in der Pflege „nicht drin“. Eine zwischenzeitlich eine in greifbare Nähe gerückte Tarifbindung wurde von der Caritas gekippt. Jetzt gilt es als Erfolg, dass man diese Tarifbindung ebenso wie einen verbindlichen Personalschlüssel durch die Hintertür einführt, indem beide Voraussetzungen zur Abrechnung der Pflegeeinrichtungen mit der Pflegeversicherung werden.

Doch ob partielle Verbesserungen ausreichen, um die befürchtete Kündigungswelle abzuwenden und die Attraktivität der Pflege darüber hinaus deutlich zu erhöhen, darf bezweifelt werden. Der bereits bestehende Fachkräftemangel in diesem Bereich wird so in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach immer dramatischer – zumal der Bedarf an Pflegekräften steigen wird.

Doch Grundsatzfragen bleiben außen vor: Wie profitorientiert darf unser Gesundheitswesen überhaupt sein? Ist die einmal mehr verordnete Sparsamkeit eine richtige Reaktion auf die Erfahrungen der letzten eineinhalb Jahre?

Dabei sitzt der Sparschuh längst nicht überall, wie der Skandal um die von der Bundesregierung gezahlten Milliardenbeträge für FFP2-Masken und die Vorhaltung von Intensivbetten in Krankenhäusern zeigt. Den die liegen weit über den Kosten. Ein Bericht des Bundesrechnungshofs vom 9. Juni an den Haushaltsauschuss des Bundestages hat diese enorme Geldverschwendung von Jens Spahns Gesundheitsministerium dokumentiert.

Das Ministerium, heißt es im Bericht auch, sei nicht in der Lage, „die Zahl der tatsächlich aufgestellten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten verlässlich zu beziffern.“ Das ist vor allem deshalb politisch heikel, weil die Bundesregierung ihre Lockdown-Politik mit rigiden Einschränkungen von bürgerlichen Freiheitsrechten vor allem mit einer drohenden Überforderung der Intensivmedizin begründet hat.

Doch auch hier handelt es sich um kein Betrugsmanöver, sondern um schlampige politische Entscheidungen und vor allem – grundlegende Strukturmängel im Gesundheitswesen: Fehlanreize bei den DRG-Fallpauschalen, einmal mehr das Fehlen von qualifiziertem Pflegepersonal, Überkapazitäten und Fehlallokationen von Ressourcen, Qualitätsmängel und Behandlungsfehler, eine im EU-Vergleich hohe Zahl von Überweisungen von einer Klinik in eine andere.

Jens Spahn hat allein in den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit über 20 Gesetze zu partiellen Problemen im Gesundheitswesen durch den Bundestag gepeitscht. Nicht eines davon hat dieses zentrale Problem wirklich angepackt.