Arbeitsproduktivität

Wird Arbeit bald zum teuren Luxusartikel?

| 21. Juni 2022
istock.com/Sergey Khakimullin

Die Wachstumsraten der Arbeitsproduktivität sinken, die Arbeitsmärkte leeren sich: das könnte den Preis für die Arbeit bald nach oben treiben. Genau darin liegt die Chance auf eine andere Wirtschaftsstruktur.

In großen OECD-Ländern sinken seit ca. 2004/05 die Wachstums­raten der Arbeitsproduktivität und der Multi-Faktorproduktivität. Heißt: Der Kuchen der jährlich zwischen Kapital, Arbeit und öffentlichem Sektor verteilt werden kann, wächst erheblich langsamer.

Zugleich wird das Wirtschafts­wachstum arbeitsinten­siver. Denn eine Wirtschaft kann bekanntermaßen nur auf zwei Arten wachsen: entweder mit mehr Arbeitsstunden oder mit produktiveren Arbeits­stunden. Sinkt das Produktivitätswachstum, muss das Wachstum mit mehr Arbeit befeuert werden. Das bedeutet, dass es in Ländern mit schwachem Produktivitäts­wachstum früher oder später einen knappen Arbeits­markt mit einem gewissen Arbeitskräfte­mangel geben wird.

Abbildung 1

Die (lange) niederländische Lohnzurückhaltung

Ein markantes Beispiel für niedrig-produktives Wachstum sind die Niederlande mit ihrer langen Lohnzurück­haltung. Die Ursachen liegen in den 70er Jahren, als die niederländi­sche Wirtschaft schwer gebeu­telt wurde. Das Land hatte nicht nur die exogenen Schocks zu verarbeiten die auch alle anderen Länder trafen: Das Auseinanderbrechen des Bretton-Woods System in 1971/72, der erste und zweite Ölpreisschock 1973 und 1978, und, nicht zu vergessen, den Volcker-Schock von 1979.

In den Niederlanden kam noch die "Dutch Disease" hinzu: durch einen über­bewerteten Gulden konnte das offene Welt­han­delsland jahre­lang nicht mehr international konkurrieren. Die Folge: eine strukturell höhere Arbeitslosigkeit durch Deindustri­ali­sierung.

Als gegen 1980 die Arbeitslosigkeit rapide stieg, brach bei den Gewerk­schaf­ten Panik aus. Sie erklärten sich bereit, erhebliche Lohn­opfer zu bringen und sagten außerdem zu, auch in den kommenden Jahren, wenn überhaupt nur bescheidene Lohn­for­de­rungen zu stellen. Und das alles im Tausch gegen die vage Zusage der Unternehmerverbände, dass sie gerne ihr Bestes tun würden, um Be­schäfti­gung zu schaffen.

Durch diese Lohnzurückhaltung waren die Niederlande in den letzten 40 Jahren das Land mit dem niedrigsten Lohn- und Produktivitäts­wachstum in der EU – und damit auch das Land mit dem höchsten Stellenwachstum. Die Gewerk­schaftler waren darüber so froh, dass sie weitere Runden der Lohnzurück­haltung bereitwillig in Kauf nahmen. Gegen­argumente von Keyne­sia­nern, die auf die inländischen Kauf­kraftverluste verwiesen, wurden nicht gehört: Durch die Lohn­zurückhaltung können wir große Export­über­schüsse erwirt­schaften. Damit ist das Kauf­kraftproblem gelöst.

In den letzten vierzig Jahren wurde für beinahe jedes wirt­schaftspoli­ti­sche Problem des Landes immer wieder Lohnzurückhaltung nicht nur gepredigt, sondern auch praktiziert. Die Folge ist, dass nach 40 Jahren arbeits­intensivem Wachstum der Personalmangel das Wirtschaftswachstum abzubrem­sen beginnt: Schlechte Bedie­nung in Restaurants; ausfallende Züge; lange Wartereihen auf Flughäfen und kürzlich sogar ein wegen Personalmangel geschlossener Autobahntunnel.

Auch für Deutschland gilt: Nach jahrelanger hoher Arbeitslosigkeit erfreuten sich alle ob des extra Stellen­wachs­tums durch die Hartz-Reformen. Dass die extra Jobs mit einem geringen Produk­tivitäts­­wachstum und Modernisierungsrückständen erkauft werden, wird – wie in den Niederlanden – kaum wahrge­nom­men.

Was können andere Länder hieraus lernen? Denn jetzt, wo die Produktivitäts­krise OECD-weit wirkt, werden auch andere OECD-Länder früher oder später den Arbeitskräftemangel zu spüren bekommen. Die bietet neue politische Perspektiven.

Schlechte Jobs, schlechter öffentlicher Dienst

Die niederländische Lohnzurückhaltung hat für den Arbeits­markt „funktioniert“: die Erwerbsbe­völkerung ist von gut 6 Millionen Menschen um 1980 auf inzwi­schen über 9 Millionen gestiegen. Die Kehrseite war ein sehr geringes Produktivitäts­wachstum mit unvermeid­li­chen Konsequenzen: Einkommens­stag­na­tion, wenn nicht -verluste für breite Bevölkerungsschichten. Auch die Qualität der Arbeitsplätze hat sich gewandelt: Viele haben nun keine festen Stel­len mehr, son­dern flexible und oft unter-versicher­te Jobs. Und die Vermögens­ver­teilung ist eine der ungleichsten in der OECD.

Gelitten hat auch der öffentliche Sektor: seit 40 Jahren folgt eine Sparmaß­nahme nach der anderen, wodurch diverse öffent­liche Institutionen, etwa Finanzämter, miserabel funktionieren. Die Politiker in Den Haag können gut durchdachte Gesetze machen, aber viele gute Vorgaben scheitern bereits in der Ausfüh­rungsphase: nach zahllosen Spar-, Entlas­sungs­- und Null­runden im öffentlichen Dienst haben die besten Mit­arbeiter inzwischen andere Jobs gefunden. Und was übrigblieb, funktioniert mittelmäßig. Der öffentliche Sektor ist also nicht nur quantitativ erheblich geschrumpft; dank der 'adverse selection' ist er auch qualitativ schlechter geworden.

Und inzwischen richtet sich das Modell der Lohnzurückhaltung gegen sich selbst. Durch das noch immer geringe Produkti­vitätswachstum muss das Wirtschaftswachstum wie gesagt mit viel Arbeitseinsatz befeuert werden und mobilisier­bare Arbeitsreserven werden immer kleiner. Wir können also in den kom­menden Jahren ein allgemein niedrigeres Wachs­tum erwarten.

Wie weiter nach 40 Jahren Lohnzurückhaltung?

Andererseits liegen hier auch Chancen für eine progressive Politik. Durch den knappen Arbeitsmarkt beginnen die Gewerkschaften, die jahrelang Mitglie­der­verluste erlitten hatten, wieder Auftrieb zu bekommen. Sie getrauen sich sogar, wieder Lohnforderungen zu stellen, und selbst hier und da zu streiken. Der ängstliche und defensive Ton der achtziger und neunziger Jahre ist verschwunden.

Der knappe Arbeitsmarkt ist auch für die Umweltbewegung ein Vorteil. In Zeiten von Massenarbeitslosigkeit sind aufgrund der Beschäftigungs­effekte prinzipiell alle Arten von Investitionen erwünscht. Ob sie auch ökologisch sinnvoll sind, wird dann durch das Argument der Arbeitsplätze verdrängt. So können Gewerkschaftler und Umweltbewegung gegeneinander ausgespielt werden.

Im heutigen knappen Arbeitsmarkt ist es für die Umweltbewegung leichter, zum Beispiel einen Flughafenausbau zu verhindern und selektives Wachstum zu propagieren, das der Umweltverträglichkeit Rechnung trägt.

Der Arbeitskräftemangel kann auch ein Motor für positive Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur sein. Die jahre­lange Lohnzurückhaltung und die Flexibilisierung der Arbeit waren eine Über­lebens­hilfe für schwache Betriebe. Doch nach der Logik des Heckscher-Ohlin Theo­rems fördert ein großes Angebot von billiger und flexibler Arbeit auch eine Wirtschaftsstruktur, die eben davon großzügigen Gebrauch macht: in niedrig produkti­ven Betrieben in Dienstleistungsbranchen wie Hotels, Restaurants, Cafés oder dem Einzelhandel.

Da diese Betriebe ein geringes Produktivitätswachstum haben, können sie weniger gut um Arbeitskräfte konkurrieren, sobald der Arbeitsmarkt leergefegt ist. So bekommt die Schumpetersche 'schöpferische Zerstörung' die Chance, eine wenig zukunftsfähige Wirtschaftsstruktur aufzubrechen. Und wir brauchen dafür nichts zu tun: durch den Arbeitskräftemangel räumt der Markt 'automa­tisch' auf.

Außerdem gibt der Arbeitskräftemangel auch den Linken endlich die Gelegenheit, einmal richtig marktkonform zu argumentieren: Auf einem Markt mit viel Nachfrage und wenig Angebot müssen nun einmal die Preise steigen – in diesem Fall: die Löhne. Und sollten einige Betriebe dann untergehen, dann ist das eben so: Willkommen in der Marktwirtschaft.

Des Weiteren besteht die Hoffnung, dass knappe und teurere Arbeit auch einen Anreiz gibt für eine schnellere Diffusion von moderner Prozess­tech­no­logie. Dadurch wird die Wirtschaft modernisiert und kann die Produktivität wieder steigen, was wiederum mehr Verteilungsspielraum schafft.

Aber das wichtigste ist, dass die Menschen durch die niedrige Arbeitslosigkeit selbstbe­wusster werden. Vieles deutet daraufhin, dass sich das politische Klima verändert. Möglicherweise gelingt es sogar, die Politik mittelfristig dazu zu bringen, die innovationsfeindlichen ange­botstheo­re­tischen Arbeits­marktrefor­men zurückzudrehen.