CO2-freie Fabrik: Die Herren meinen es ernst
Kann Kapitalismus Klimaschutz? Die auf der Fachkonferenz „Die CO2-freie Fabrik“ vorgestellten Strategien und technischen Optionen beeindrucken – und erwecken den Eindruck, dass eine Klimaneutralität bis 2050 möglich ist.
„Achtung, Klimakleber: Der Kapitalismus rettet die Welt.“ Mit diesen provokanten Worten warb die Fachkonferenz „Die CO2-freie Fabrik“, die vom 20. bis 21. Juni in Wetzlar tagte. Wie diese umzusetzen sei, darüber sinnierten die Großen und die Kleinen gemeinsam: multinationale Konzerne, kleine Startups und mittelständische, vorwiegend familiengeführte Unternehmen. 21 Vorträge, eine Betriebsbesichtigung und etliche Gespräche später war klar: die versammelten (ausschließlich männlichen) Vertreter meinen es ernst; um im Konferenz-Jargon zu bleiben, they mean business.
Klar formulierte Ziele, langfristige strategische Planung, festgelegte Zeitfenster, um diese zu erreichen, schonungslose Analysen des Ist-Zustandes, kreative Erarbeitung von innovativen technischen Lösungen. Und keine Mogelei mit greenwashing, etwa durch die Verwendung unklarer Begrifflichkeiten.
Der Begriff „Klimaneutralität“ ist aktuell weder rechtlich geschützt noch eindeutig definiert. Unter anderem deswegen richten sich Firmen, die es ernst meinen, freiwillig nach den neuen ISO-Normen. Demnach beinhaltet das Ziel „CO2-Neutralität“ lediglich die bilanzielle Reduktion des Treibhausgases CO2 auf Null, wobei noch vorhandene CO2-Emissionen durch CO2 Entzug an anderer Stelle kompensiert werden. Das Ziel „Netto-0-Emissionen“ bezieht alle relevanten Treibhausgase in diese Bilanz mit ein. „Klimaneutralität“ berücksichtigt zusätzlich auch noch weitere bio-physikalische Effekte auf das Klima, wie zum Beispiel die Bodenversiegelung. In der Regel erlauben die auf der Konferenz vorgestellten Konzepte den Zukauf von Zertifikaten zur CO2-Kompensation nur als Übergangslösung, und auch dann nur unter klar definierten Bedingungen.
Selbstverständlich ist die gesamte Lieferkette zu betrachten: Scope 1 bezieht sich auf den direkten impact, die Klimawirkung einer bestimmten Produktionsstätte, Scope 2 beinhaltet die gekaufte Energie dieser Produktionseinheit und Scope 3 betrachtet die gesamte Lieferkette der dort hergestellten Produkte vor und nach der Verarbeitung, von der Rohstoffgewinnung bis zum Ende ihrer Lebensdauer und deren möglichen Eingliederung in einen neuen Produktionskreislauf.
Das alles klingt gut. Doch dann berichteten die Vertreter eines großen Automobilkonzerns in ihrem Vortrag, dass sie infolge des für sie erfreulichen beträchtlichen Anstiegs der Autoverkäufe dazu gezwungen seien, ihre Fortschritte der Einsparungen in relativen und nicht in absoluten Zahlen zu präsentieren – im Endeffekt waren die Emissionen durch das Wachstum trotz der Einsparungen gestiegen. Das führte zu kritischen Nachfragen aus dem Publikum, und es herrschte Einigkeit darüber, dass dem Konzern letztendlich in kürzerer Zeit größere Einsparungsanstrengungen bevorstünden, denn an den Klimazielen selbst – „Netto-0“ bis 2050 – sei nicht zu rütteln.
Ob das möglich ist angesichts des klar formulierten Unternehmensziels, trotzdem jährlich 1,5 Millionen weltweit produzierter PKWs verkaufen zu wollen? Ein Konzept der „Suffizienz“, das verbesserte Lebensqualität nicht an der Zunahme privaten Konsums, sondern am verfügbaren „kommunalen Luxus“ misst, scheint irgendwie doch nicht zum Kapitalismus zu passen.
„Suffizienz“ im Sinne von Material- und Energieeinsparung, „Effizienz“ im Sinne einer besseren Nutzung von Material und Energie und „Konsistenz“ im Sinne von Innovationen, die fossile Energien und knappe Materialien durch erneuerbare Energieträger und besser verfügbare Rohstoffe ersetzen, sind hingegen sehr wohl drei grundlegende Strategien zur Transformation der Industrie in Richtung Klimaneutralität.
Und klar ist: Die Gewährleistung eines einigermaßen befriedigenden Lebensstandards für die im Jahr 2050 zu erwartenden 10 Milliarden Menschen, von denen ca. zweidrittel in Städten leben werden, ist nicht mit einem „zurück zur Natur“ und auf technischem Steinzeitlevel möglich, sondern nur mit höchster Produktivität. Die kapitalistisch organisierte Industrie ist also ein key player der praktischen Umsetzung dieser notwendigen Transformation.
Familiengeführte Unternehmen als Transformationstreiber
Wer von „der Industrie“ spricht, muss von denjenigen sprechen, die dort arbeiten. Und so ist es vielleicht gar nicht mal überraschend, dass in einem familiengeführten Unternehmen der Anstoß für eine Transformationsstrategie zur CO2-freien Fabrik indirekt erfolgte, nämlich über eine Mitarbeiterbefragung zur Arbeitsplatzzufriedenheit. Der Wunsch nach mehr Transparenz führte zur Einführung eines umfassenden digitalen Systems zur Erfassung aller relevanten Produktionsdaten. Die Datenanalyse sorgte nicht nur für mehr Mitarbeiterdurchblick, sondern machte auch Energieeinsparmöglichkeiten deutlich. Neue Messverfahren (und entsprechende Geräte) erlaubten die bessere Überwachung der Produktionsabläufe, was wiederum deren Fehleranfälligkeit reduzierte und zu weiteren Einsparungen führte. So waren sowohl die Voraussetzungen als auch die Anreize gegeben, um die abenteuerliche Reise zur Klimaneutralität anzutreten.
Wie bei der Besichtigung an konkreten Produkten demonstriert wurde, ist die Innovationsfähigkeit eines solchen mittelständischen Unternehmens nicht nur dafür entscheidend, dass es das gewünschte Klimaziel erreicht. Sondern sie sorgt auch dafür, dass die Firma nicht schon vorher schlapp macht und überhaupt in den nächsten 30 Jahren fortbesteht.
Auf der Fachkonferenz war man sich einig, dass familiengeführte Unternehmen wichtige Vorreiter der Transformation sind. Zu den Gründen der Mitarbeiterbindung und der existentiell notwendigen Innovationsfähigkeit kommt auch der Druck der jüngsten Besitzergeneration, den anthropogenen Klimawandel ernst zu nehmen. Und die größere Flexibilität solcher Unternehmen erlaubt es innerhalb eines bestimmten Rahmens, bei Investitionsentscheidungen neben der Wirtschaftlichkeit auch andere Kriterien zu berücksichtigen.
Eigenmotivation, aber auch staatliche Vorgaben
Allgemein ist es immer eine komplexe Motivationslage, die Unternehmen dazu bewegt, eine Transformationsstrategie zu entwickeln und umzusetzen: Die heutigen Märkte erforderten entsprechendes unternehmerisches Handeln, so die Referenten. Kunden erwarteten klimafreundlich erzeugte Produkte, Stake- und Shareholder setzten Reduktionsvorgaben, Geldanleger wollten nicht mehr in klimaschädliche Unternehmen investieren, Geschäftszweige (vielleicht auch bald der Verbrennungsmotor?) fielen weg. Auch Wettbewerbsvorteile seien durch klimafreundliche Unternehmenspolitik zu erlangen, zum Beispiel durch die Akquise von Fördermitteln und die Einführung neuer Technologien.
Nach Ansicht der anwesenden Fachleute waren staatliche Vorgaben nicht der ausschlaggebende Grund für ihre Unternehmensstrategien, vielfach seien die Unternehmen der Gesetzgebung sogar voraus. Dennoch setzen gesetzliche Vorgaben den Unternehmen klare Handlungsrahmen: das Brennstoffhandelsemissionsgesetz und die beschlossene Verschärfung der Berichtspflicht zum Stand der Nachhaltigkeitsmaßnahmen oder auch die „Corporate Sustainability Reporting Directive“ der EU. Künftig werden nach und nach alle größeren Unternehmen dazu verpflichtet, den Umwelt-Standard ESRS E1 (Klimawandel) einzuhalten und damit eine Treibhausgas (THG)-Bilanz nach Scope 1, 2 und 3 vorzulegen, verbindliche Reduktionsziele zu bestimmen sowie einen Maßnahmen- und Transformationsplan zu erarbeiten und umzusetzen. Darüber hinaus wird für die Nachhaltigkeitsberichte eine Prüfungspflicht eingeführt.
Multinationale Konzerne als Transformationstreiber
Diese Gesetzeslage wird dazu führen, dass die großen, berichtspflichtigen Unternehmen immer mehr Druck auf ihre Zulieferer ausüben, um ihre Klimaziele erfüllen zu können, denn sie sind verpflichtet, die gesamte Lieferkette in ihre Energie- und Materialbilanz mit aufzunehmen.
Sowohl die Gesetzgebung als auch der ökologische drive der Großkonzerne mag überraschen, ist doch bekannt, wie stark die Unternehmenslobby auf die EU-Politik Einfluss nimmt. Und die harmonische Zweisamkeit zwischen kapitalistischem Profitstreben und ökologischem Einklang mit der Natur ist auch nicht wirklich glaubwürdig.
Zu bedenken ist aber, dass gerade in den oberen Etagen der multinationalen Konzerne die Zeichen der Zeit vermutlich klarer zu erkennen sind als anderswo. Wer die riesigen stofflichen Vorgänge der industriellen Produktion lenkt, kennt die Versicherungsdaten, die die schon jetzt zu beobachteten Folgen der Erderwärmung dokumentieren. Eine Politik der verbrannten Erde, wie sie lange Zeit möglich war, sägt heute relativ schnell den Ast ab, auf dem man sitzt: mehr Menschen, selbstbewusste Nationen, die ihren Bevölkerungen verbesserte Lebensstandards sichern möchten, knappe Rohstoffe, die angesichts veränderter weltpolitischer Konstellationen nicht mehr so einfach und günstig zu bekommen sind wie früher.
Im Gegensatz zu großen Teilen der Finanzindustrie, die auf kurzfristige Gewinne setzen, erfordert industrielle Produktion langfristige Planung. Gleichzeitig erfolgen die unternehmerischen Investitionsentscheidungen unter Bedingungen profunder Unsicherheit, und diese verändern nicht nur die eigene Realität, sondern auch die der Konkurrenten und umgekehrt. Dass eine gewisse Sicherheit durch klare gesetzliche Vorgaben erwünscht ist, aus denen sich zudem Wettbewerbsvorteile ergeben könnten, erscheint daher verständlich.[1]
Weit verbreitet ist etwa das sogenannte „carbon leakage“, die Verlagerung von treibhausgasemittierenden Industrien in Länder außerhalb der EU, um die strengeren europäischen Auflagen für Treibhausgasemissionen zu umgehen. Um das zu verhindern, sind Gesetze in Arbeit, die die Erhebung einer CO₂-Abgabe vorsehen, wenn Produkte aus Ländern eingeführt werden, in denen weniger strenge Vorschriften gelten als in der EU. So entsteht wieder ein Vorteil für EU-Firmen, die den Umweg über Produktionsauslagerungen nicht nehmen.
Widersprüche und Zielkonflikte
Trotzdem verträgt sich das Motiv der Gewinnerzielung nicht so einfach mit der „Rettung der Welt“, die Transformation erfolgt im Spannungsfeld vielfacher Widersprüche, wie Marxisten es ausdrücken würden. In der Sprache der Betriebswirte: Zielkonflikte. Auch davon wissen die bei der Konferenz anwesenden Fachleute ein Lied zu singen. Nicht nur, dass Wachstum CO2-Einsparungen neutralisieren kann. Auch die in einem Vortrag vorgeschlagene Modularisierung von Bauteilen, die den Austausch von defekten Komponenten oder die Wiederverwendung noch funktionierender Komponenten in neuen Produkten erlaubt, widerspricht einer Wachstumsstrategie, die auf den Verkauf von möglichst vielen Konsumartikeln setzt.
Einer Umfrage zufolge haben 100 Prozent aller Betriebe Nachhaltigkeitsziele in ihre Unternehmensstrategien aufgenommen und 91 Prozent haben diese auch schon operationalisiert; jedoch sind 56 Prozent aller Unternehmen mit der Umsetzung unzufrieden.
Die in den vielen Vorträgen der Fachkonferenz vorgestellten Strategien und die Fülle der technischen Optionen sind beeindruckend und erwecken den Eindruck, dass es aus der Sicht der Einzelunternehmen grundsätzlich möglich ist, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen – technisch, materiell und betriebswirtschaftlich. Aber immer noch sind es best-practice Beispiele, die hier vorgestellt werden. Und die spiegeln keineswegs die ganze Alltagsrealität wieder.
Aus makroökonomischer Sicht bleibt die große Frage: Was passiert, wenn nun alle das Gleiche tun, auf erneuerbare Energien und Wasserstofftechnologie umsteigen, auf Leitungsnetze und Fachkräfte zugreifen? Wer koordiniert das Ganze? Der freie Markt? Macht unser Staat seine Hausaufgaben?
Gerade wurde in Deutschland die gesetzliche Regelung abgeschafft, nach denen klare CO-2 Reduktionsziele für einzelne volkswirtschaftliche Sektoren vorgegeben, überprüft und die zuständigen Ministerien entsprechend in die Pflicht genommen wurden. Ein gutes Zeichen?
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