Keine Probleme mit Ausbildungsstellen?
Hohe Ausbildungslosigkeit, immer wieder beschworener „Fachkräftemangel“: Hat die Bundesregierung den Ernst der Lage erkannt? Mitnichten – der Berufsbildungsbericht 2024 verbreitet beste Stimmung.
Mitte Mai gab die Bundesregierung ihren Berufsbildungsbericht 2024 heraus. Auf über 600 Seiten samt Daten- und Tabellenteilen schildert sie die Ausbildungssituation im Jahr 2023. Doch die Daten gehen nicht wesentlich über jene hinaus, die bereits Ende 2023 vorlagen.
Neu und interessant an dem Berufsbildungsbericht 2024 ist, wie die Bundesregierung die Lage auf dem Ausbildungsmarkt einschätzt und wie sie darauf zu reagieren gedenkt. Dazu seien vorweg die wichtigsten Ergebnisse zur Ausbildungssituation 2023 rekapituliert:
- Nur 48 Prozent der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten 422.059 Bewerberinnen und Bewerber für eine Berufsausbildungsstelle haben auch tatsächlich eine Ausbildung begonnen, 52 Prozent sind ausbildungslos geblieben.
- Von den 422.059 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Jugendlichen sind 37 Prozent Altbewerber, das heißt, sie haben in den letzten 5 Jahren bereits mindestens einmal bei der Bundesagentur um Unterstützung nachgesucht. Nur 39 Prozent der Altbewerber sind in eine Ausbildung eingemündet.
- Fast ein Fünftel (genau 19 Prozent) der Bewerber haben die ausländische Staatsangehörigkeit. Von ihnen haben nur 37 Prozent eine Ausbildung beginnen können.
- Die Ausbildungslosigkeit ist in Bundesländern wie Berlin (mit 64 Prozent der Bewerber), in Bremen (mit 61 Prozent) oder Schleswig-Holstein (mit 58 Prozent) besonders hoch.
- Immer weniger Betriebe bilden aus. Die Ausbildungsbeteiligung der Betriebe ist von 24,1 Prozent im Jahr 2007 auf 19,1 Prozent im Jahr 2021 gefallen.
Dies alles sind empirische Belege für die von mir herausgearbeitete Nichtausbildungstendenz der Betriebe. Ich habe sie damit begründet, dass kein rational handelnder Betrieb in etwas investiert (einen Auszubildenden), was ihm nicht gehört – ausgenommen, Betriebe können bereits während der Ausbildung Netto-Ausbildungskosten erwirtschaften (Nutzungsthese) oder, wenn es ihnen gelingt, die Ausgebildeten nach dem Ausbildungsende an ihren Betrieb zu binden (vor allem durch eine betriebsspezifische Ausbildung).
Gute Stimmung trotz schlechter Zahlen
Man könnte nun meinen, dass die Bundesregierung angesichts dieser hohen Ausbildungslosigkeit und des immer wieder beschworenen „Fachkräftemangels“ den Ernst der Lage erkannt hat und wirksame Gegenmaßnahmen ergreift. Der Berufsbildungsbericht 2024 verbreitet aber gute Stimmung. Dies bewirken zwei Methoden:
Methode eins: Die 52 Prozent Ausbildungslosen werden gar nicht thematisiert. Stattdessen wird der Begriff der „Unversorgten“ eingeführt, wie an folgender Grafik zu sehen ist:
Es sollen lediglich sechs Prozent der Bewerber „unversorgt“ geblieben sein, was im Umkehrschluss bedeutet, dass 94 Prozent „versorgt“ worden wären, und zwar nicht nur die 48 Prozent Eingemündeten (in Berufsausbildung), sondern auch die
- drei Prozent, die eine bereits vor dem Berichtsjahr begonnene Ausbildung fortsetzen (Allenfalls diese drei Prozent könnte man zu den „Versorgten“ hinzuzählen, befinden sie sich doch in einer Ausbildung. Allerdings sollte man bedenken, dass sie einen anderen Ausbildungsplatz wollten, vermutlich weil sie im Vorjahr irgendeine Ausbildung begonnen haben, die nicht ihrer Vorstellung entspricht),
- 16 Prozent, von denen 14 Prozent in Warteschleifen wie (Berufs-)Schule oder Praktikum gelandet sind und zwei Prozent ein Studium antraten,
- sieben Prozent, die eine Erwerbstätigkeit aufgenommen haben,
- ein Prozent, die Freiwillige Dienste (zum Beispiel Bundesfreiwilligendienst oder FSJ) leisten,
- zwei Prozent, die Fördermaßnahmen (Berufsvorbereitung oder Einstiegsqualifizierung) besuchen,
- vier Prozent, die sich arbeitslos melden mussten und
- 13 Prozent, deren Verbleib unbekannt ist.
In der Öffentlichkeit und den Medien werden nun die „Unversorgten“ mit den Ausbildungslosen gleichgesetzt. Selbst in der linken Tageszeitung Junge Welt hieß es am 5. Juni, es gäbe „mehr als 26.000 junge Leute, die im vergangenen Jahr keinen Ausbildungsplatz finden konnten“. Das ist falsch und eine schlimme Verharmlosung der miserablen Ausbildungssituation: Es waren 287.567 Ausbildungslose.
Die Zahl der Ausbildungslosen dürfte tatsächlich aber noch erheblich höher liegen. Laut Abbildung sind 16 Prozent der Bewerber in „Schule, Studium, Praktikum“ verblieben, wobei nur zwei Prozent (oder absolut 8.385) der Bewerber auf „Studium“ und 14 Prozent (oder absolut 58.122) der Bewerber auf „Schule, Praktikum“ entfallen.
Faktisch haben aber, wie im Berufsbildungsbericht auf Seite zehn zu finden ist, 249.800 Jugendliche im Jahr 2023 eine Maßnahme im „Übergangsbereich“ (so werden Warteschleifen im Behördendeutsch genannt) begonnen. Man muss sich daher fragen, woher diese so viel höhere Zahl kommt. Der Grund: Die Arbeitsagenturen zählen nur diejenigen Jugendlichen als „Bewerber“, die ihnen für eine Ausbildung als „geeignet“ erscheinen. Die „ungeeigneten“ Nicht-Bewerber werden dann zumeist in Warteschleifen „wegberaten“.
Methode zwei: Hat man erst einmal den Begriff „Unversorgte“ eingeführt, lassen sich allerlei Berechnungen und Überlegungen anstellen. So wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es mehr unbesetzte Berufsausbildungsstellen als „Unversorgte“ gäbe. So heißt es gleich zu Beginn des Berufsbildungsberichts 2023 auf Seite sechs:
„Auch in 2023 ist die Zahl der unbesetzten Ausbildungsstellen weiter gestiegen auf 73.400. [...] Aber es blieben mit 26.400 auch mehr Bewerberinnen und Bewerber unversorgt.“
Womit suggeriert wird, dass die Lage nicht so schlimm ist. Weiter heißt es dann auf Seite acht:
„Für junge Menschen auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz hat sich die Marktlage rein rechnerisch in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert.“
Denn: „Der Anteil unbesetzter Stellen am betrieblichen Angebot liegt weiterhin höher als der Anteil noch suchender Bewerberinnen und Bewerber an der Nachfrage.“ Es seien „keine flächendeckenden Probleme mit der Versorgung mit Ausbildungsstellen zu erwarten“ (S. 16; Hervorhebung vom Autor).
Die „zentrale Herausforderung am Ausbildungsmarkt“ seien vielmehr die „Passungsprobleme“. Damit ist gemeint, dass sich Angebot und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen insbesondere auf regionaler und beruflicher Ebene nicht immer in Übereinstimmung bringen ließen. Das Problem müssen dementsprechend zum einen Betriebe und zum anderen die Bewerber angehen. Die „Betriebe und Behörden“ gelte es „weiter darin zu bestärken, in die Ausbildung von schwächeren jungen Menschen zu investieren, auch wenn dies zunächst mit höheren ‚Kosten‘ einhergehen kann.“ (Seite 22 f)
Eine derartige Appellpolitik verfolgt die Bundesregierung jedoch seit Jahren und hat damit bisher nichts bewirkt. Sie offenbart zudem die Theorielosigkeit der Autoren des Berufsbildungsberichts – denn sie scheinen ernsthaft zu meinen, man könne mit moralischen Appellen die Nichtausbildungstendenz der Betriebe außer Kraft setzen.
Den jungen Menschen wird dagegen mehr abverlangt. Sie sollen „regionale Mobilität und berufliche Flexibilität“ entwickeln, denn dies seien „wichtige Hebel, um eine bessere Passung von Angebot und Nachfrage im dualen System zu erreichen.“ (Seite 17) Dazu sollen insbesondere mehr Berufsorientierung und mehr Jugendberufsagenturen dienen. In der „Gemeinsamen Stellungnahme von Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Länderbank“ zum Berufsbildungsbericht 2023 heißt es dazu:
„Als Unterstützungsmaßnahmen zählen insbesondere eine flächendeckende und qualitativ hochwertige Berufsorientierung sowie die Vermittlung einer Berufswahlkompetenz in allen Schulformen, um mehr junge Menschen für die Berufsbildung zu gewinnen. Eine weitere Unterstützungsmaßnahme ist die Förderung der Mobilität, beispielsweise durch ein deutschlandweites Azubi-Ticket und mehr Wohnraum für Auszubildende.“ (Seite 153).
Und weiter:
„Die drei Bänke im BIBB-Hauptausschuss [Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Bundesländer – Anm. d. Red.] sind sich einig, dass ein systematisches Management am Übergang zwischen Schule und Ausbildung notwendig ist, bei dem Jugendberufsagenturen mit der rechtskreisübergreifenden Zusammenarbeit eine zentrale Rolle spielen können.“ (Seite 153 f)
Was kann Berufsorientierung?
Olaf Scholz hat 2011 im SPD-Regierungsprogramm nach der Bürgermeisterwahl versprochen, „dass alle jungen Erwachsenen in Hamburg entweder das Abitur machen oder eine klassische Berufsausbildung absolvieren“ sollten. Dort werden Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen jedoch bereits seit Jahren betrieben – ohne Erfolg.
Im letzten Jahr haben in Hamburg von den Schulabgängern nach Klasse 10 der Stadtteilschulen gerade einmal 44,3 Prozent einen Ausbildungsplatz bekommen, davon 32,8 Prozent einen betrieblichen und 11,5 Prozent einen schulischen. Die „Ausbildungsvorbereitung“ ist in Hamburg mit 44,4 Prozent der größte Ausbildungsgang. Trotzdem rühmt die Schulbehörde in Hamburg dieses miserable Ergebnis unter der Überschrift: „Frühe berufliche Orientierung für einen reibungslosen Start in den Traumberuf“.
Mehr Berufsorientierung und mehr Jugendberufsagenturen auf Bundesebene schaffen keine zusätzlichen Ausbildungsplätze und helfen nicht gegen den grassierenden Ausbildungsplatzmangel. Wenn die Bundesregierung meint, sie könne den Problemen auf dem Ausbildungsmarkt mit Berufsorientierungsmaßnahmen begegnen, so steckt dahinter die Annahme, es läge an den Jugendlichen, wenn diese keinen Ausbildungsplatz finden. Man müsse nur ihre Berufsorientierung verbessern und sie Bewerbungstrainings absolvieren lassen, dann würde es schon funktionieren. Das ist in etwa so, wie wenn man gegen den Wohnungsmangel in Deutschland mit Wohnungsorientierung bei den Wohnungssuchenden und Wohnungsagenturen vorgehen wollte.
Berufsorientierung und Jugendberufsagenturen sind nicht nur teuer und ineffizient, sie haben darüber hinaus eine bedenkliche Wirkung und Funktion, die irgendwann auch zu unerfreulichen Wahlergebnissen führen. Sie erzeugen bei den Jugendlichen und ihren Eltern den Eindruck, es läge an ihnen, wenn sie keinen Ausbildungsplatz finden. So wird aus einem objektiven Versagen von Wirtschaft und Politik ein subjektives Versagen der Jugendlichen gemacht.
Immerhin gehen die Gewerkschaften, die diese falschen Forderungen mittragen, über die verstärkte Berufsorientierung und mehr Jugendberufsagenturen hinaus in die richtige Richtung, wenn sie eine „echte“ Ausbildungsgarantie fordern:
„Zudem brauchen junge Menschen durch eine Ausbildungsgarantie das Versprechen, eine Ausbildung aufnehmen zu können und die Chance, einen vollqualifizierenden Ausbildungsabschluss zu erhalten. Wem dies nicht durch den unmittelbaren Sprung in eine betriebliche Ausbildung gelingt, soll nicht durch jahrelange Warteschleifen entmutigt werden. Stattdessen muss ein Angebot auf eine außerbetriebliche Ausbildung diese jungen Menschen auffangen und – wenn eine Vermittlung in betriebliche Ausbildung scheitert – ihnen die Möglichkeit auf einen Berufsabschluss eröffnen.“ (Seite 158 f).
Damit hat der DGB den wunden Punkt getroffen. Zwar verspricht mittlerweile die Bundesregierung eine Ausbildungsgarantie. Im Berufsbildungsbericht 2023 ist aber davon nicht die Rede. Sie soll nur in Regionen mit einer „erheblichen Unterversorgung an Ausbildungsplätzen“ gelten, was nach dem Willen der Bundesregierung etwa 19 (= 12,7 Prozent) der insgesamt 150 Agenturbezirke wären. Das wird kaum etwas an der grassierenden Ausbildungslosigkeit der Jugend ändern.
Man kann schon jetzt davon ausgehen, dass weiterhin Jahr für Jahr gut die Hälfte der Bewerberinnen und Bewerber für eine Berufsausbildungsstelle ausbildungslos bleiben werden. Der Berufsstart ins Leben wird für sie zu einem Fehlstart.