Die instabile Demokratie
Liebe Leserinnen und Leser,
in unserem neuen Themenheft „Wahlprogramm sucht Partei“, das im August erscheint, werden sie einen bemerkenswerten Gastbeitrag von Saagar Enjeti finden. Der US-amerikanische Journalist fragt, ob der (Links)Populismus überhaupt noch eine politische Rolle spielt. Er beschreibt den Wertekonflikt und die kulturelle Kluft, die sich zwischen den amerikanischen Linken, die behaupten, für die Arbeiter zu sprechen, und den tatsächlichen Wählern der Arbeiterklasse selbst bildete. Die Progressiven, so Enjeti, hätten sich selbst zu Richtern darüber erkoren, was populistisch ist und was nicht. Doch ihr kulturelles Empfinden sei in dramatischer Weise von dem der gewöhnlichen Amerikaner entrückt.
Schlimmer noch: Die amerikanischen Linkspopulisten unter Sanders oder Ocasio-Cortez ignorierten die Tatsache, dass fast alle ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge in der Sprache der professionellen Managerelite formuliert und deren unpopulären soziokulturellen Positionen untergeordnet seien. Das erkläre, warum Arbeiter Parteien wählen – im Falle der USA Trumps Republikaner –, die in sozioökonomischen Fragen ihre Interessen gar nicht vertreten.
Die These, die daraus folgt, ist so wuchtig wie unangenehm: Die Republikaner könnten sich stur an eine libertäre Wirtschaftspolitik klammern, solange sie die Frustration von Millionen von Amerikanern ansprechen, die sich dem Marsch der kulturellen Linken widersetzen.
Es drängt sich geradezu die Frage auf, ob die Analyse Enjetis ebenso Antworten für Europa bereithält. Auch in Frankreich und Deutschland tobt ein Kulturkrieg. Erklärt die kulturelle Kluft, die immer tiefer zu werden scheint, auch diesseits des Atlantiks das schwache Abschneiden von linken Parteien und den Zulauf, den Marine Le Pen oder die AfD gerade von Arbeitern bekommt? Ist es doch andersherum, als es Linke gerne behaupten: Es gäbe keinen kulturellen, sondern nur einen sozialen Konflikt? Müssen Linke diesen Irrtum einräumen, wenn sie wieder siegen lernen wollen?
Erinnert sei an das Buch „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon. Ähnlich wie Enjeti für die USA liefert Eribon eine Analyse des sozialen und intellektuellen Lebens seit den fünfziger Jahren in Frankreich und fragt, warum ein Teil der Arbeiterschaft zum Front National übergelaufen ist.
Im gegenwärtigen Frankreich, das in mannigfaltigen Krisen versinkt, glauben 65 Prozent der Franzosen, dass „die Zivilisation, wie wir sie kennen“ in den nächsten Jahren zusammenbrechen wird. Die soziale Ungleichheit hat einen Höchststand wie seit 20 Jahren nicht mehr erreicht. Mit der Wahl von Macron 2017 wurde das politische System mit seinem traditionellen Links-Rechts-Schema auf das Heftigste durcheinandergewirbelt. Die Sozialdemokratie (Parti socialiste) schrumpfte von einer Regierungspartei auf 8 Prozent. Doch auch die Hoffnungen, die sich an das linke Projekt La France Insoumise (LFI) 2017 geknüpft hatten, sind inzwischen wieder verflogen. Bei Umfragen dümpelt LFI um die 10 Prozent.
Zwar stellt sich die Situation anders dar als in den USA. Doch auch hier ist das politische Klima von einem explosiven Gemisch an Konflikten bestimmt, in dem eine weit verbreitete Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Gesellschaft zum Ausdruck kommt.
Und Deutschland? Tektonische Plattenverschiebungen in der Parteienlandschaft sind hier ebenso wie in Frankreich zu beobachten. Die Umfragen vor der Bundestagswahl zeugen von hoher Fluktuation. Hinzu kommt eine im Trend sinkende Wahlbeteiligung, schwindendes Vertrauen, gesellschaftliche und parteipolitische Fragmentierungsprozesse, das Verschwinden der Volksparteien, Repräsentationskrisen, die Gefahr einer „Zwei-Drittel-Demokratie“ und damit einhergehend ein Trend hin zur identitätspolitischen Codierung des politischen Prozesses. Und weder können SPD noch Die Linke von den Umwälzungen profitieren, im Gegenteil. Die Demokratie ist instabil geworden.