Roboter-Ökonomie

Wir sind keine Zylonen

| 14. Juli 2022
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Bringt uns eine Roboter-Ökonomie endlich den langersehnten homo oeconomicus? Und was bedeutet das für die unsichtbare Hand des Marktes?

Unter dem Eindruck des Jugoslawienkonflikts schrieb der Volkswirt Adolf Wagner 1992 in seinem Bändchen „Volkswirtschaft für jedermann“:

„In Kriegs- und Krisenzeiten erfährt der alte Schopenhauer immer wieder, tausendfach und auf ganz entsetzliche Weise die Bestätigung seines dunklen Menschenbildes. Man kann vom Umgang der Serben, Kroaten und Bosnier miteinander (…) und aus beliebigen Bänden der Menschheitsgeschichte Anschauungsmaterial bis zum Überdruß beziehen. Es ist deshalb wichtig, daß eine Volkswirtschaft, die Bestand haben soll, nicht auf das Gute im Menschen, nicht auf einen erdachten und erst noch heranzuziehenden besseren, neuen Menschen angewiesen ist. Für Systeme der volkswirtschaftlichen und der staatlichen Steuerung ist der Mensch so zu nehmen, wie er ist.“

Der Krieg war für Wagner damals Anlass, darauf hinzuweisen, dass der Markt, wenn man ihn nur lässt, den Menschen von der Verantwortung für sein eigenes Handeln entlastet. Er sorgt dafür, dass sich das Handeln des Menschen – obwohl er ist, „wie er ist“ – zum Guten wendet. Seit Bernard Mandevilles Bienenfabel wird dieses geheimnisvolle Wirken immer wieder bemüht. In den Worten Wagners: „Per Marktmechanismus folgt aus den eigenmotivierten Aktivitäten ein Gesamtergebnis, das ‚Wohlstand für alle‘ ermöglicht.“

Zum Marktmechanismus im Großen gehört im Kleinen der Mechanismus des rationalen Nutzenmaximierens, verkörpert im Modell des homo oeconomicus. Auch dazu weiß Wagner etwas zu sagen:

„Als Unternehmer will der homo oeconomicus für seinen Einsatz Gewinn statt Verlust, und einen möglichst hohen Gewinn hat er lieber als einen niedrigen. Als Privathaushalt verfolgt der homo oeconomicus das Ziel, mit Geldausgaben für Konsum möglichst viel Genuß zu erleben und mit Arbeitseinsatz möglichst hohe Entlohnung zu erlangen. Wird er als Beamter fest besoldet, zeigt er eine gewisse, vernünftige Neigung, seine Leistung zu minimieren.“

Damit sind die Zutaten für den Basismythos des volkswirtschaftlichen Mainstreams beisammen. Der Mensch, „wie er ist“, mit seinen realen Bedürfnissen und Bewegungsgründen, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Das Erdachte wird zum Wirklichen, das Wirkliche zur auszublendenden statistischen Störgröße. Leute wie der Wirtschafts-Nobelpreisträger Gary Becker wollen hier sogar Grundsätzliches aus der menschlichen Anthropologie erkennen: Alles menschliche Verhalten ist als Suche nach dem ökonomischen Vorteil zu verstehen.

Damit wird der Mensch in dem Maße irrationalisiert, in dem er vom Ideal des homo oeconomicus abweicht. Wer an so etwas wie Freundschaft glaubt, ist demnach ökonomisch dumm. Amartya Sen, ebenfalls Wirtschafts-Nobelpreisträger, sah umgekehrt den homo oeconomicus als „rationalen Dummkopf“. Bis heute scheint jedenfalls auch in steuerberaterisch bestmöglich optimierten Partnerschaften nicht der homo oeconomicus die Beziehungsgrundlage zu sein. Mit dem Satz „ich liebe dich nicht, aber du nützt mir“ beginnt keine Hollywood-Romanze.

Wer wäre überhaupt der ideale homo oeconomicus? Der Modellfall des Modells? Viren? Viren denken nicht, aber sie repräsentieren in guter Weise das Verhalten, das manche als Inbegriff des egomanen Wettbewerbs sehen: Survival of the fittest. Viren stehen in einem evolutionären Wettbewerb untereinander, mit dem Immunsystem ihrer Wirte und den Rahmenbedingungen ihres Biotops insgesamt.

Menschen sind aber keine Viren. Sie denken, zumindest sind sie im Prinzip dazu in der Lage, und sie leben gesellschaftlich nicht als Monaden, sofern man nicht Thatchers Glaubenssatz „there is no such thing as society“ für wahr hält. Die menschliche individuelle Existenz ist gesellschaftlich vermittelt. Bereits der frühkindliche Spracherwerb zeigt das. Kein Kind auf der Welt kommt als Individuum, als Kaspar Hauser, zur Sprache. Man kann es bei so verschiedenen Geistern wie Michael Tomasello oder Klaus Holzkamp nachlesen.

Ein anderes geeignetes Modell für den homo oeconomicus könnten Maschinen sein. Mit Henry Fords Bemerkung, Autos würden keine Autos kaufen, muss es ja nicht zu Ende sein. Die künstliche Intelligenz nimmt eine immer prominentere Rolle ein, neuerdings kombiniert mit Big Data, ebenfalls über visionäre Zukunftsphantasien. Es gibt inzwischen selbstfahrende Autos, teilweise von Robotern gebaut, angeblich erfolgreiche Anwendungen der predictive analytics bei der Vorhersage von Verbrechen, Computer, die besser Schach spielen als Menschen, computergestützte Beweise in der Mathematik und mitfühlende Kaffeemaschinen.

Vor ein paar Jahren hatte ich hier dazu auf offene Fragen der Roboter-Ökonomie hingewiesen, unter Verweis auf Science Fiction-Geschichten über intelligente und selbständige Maschinen. Bei Stargate sind es die Replikatoren, bei Battlestar Galactica die Zylonen, intelligente Roboter, die sich nicht nur gegen die Menschen erhoben haben, sondern auch ihr Zusammenleben und ihre Reproduktion autonom organisieren.

Roboter sind sicher in der Lage, in idealer Weise als homo oeconomicus zu funktionieren, Vorteile und Nachteile von Handlungsweisen sachlich rational abzuwägen und das verfügbare Wissen optimal zu nutzen. Vielleicht bräuchten sie nicht einmal Märkte, weil jedes Individuum über alle relevanten Informationen verfügen könnte, die bei uns wissensmäßig unzulänglichen Menschen, wie mit Friedrich August von Hayek ein weiterer Nobelpreisträger glaubte, nur der Markt bereitstellen könne.

Hayek und verwandte Geister haben dem Glauben, makroökonomisch regle auch sonst der Markt alles am besten, neuen Schwung verliehen. Mit Ronald Reagan und Thatcher haben sich ihre Ansichten im Kleid des Neoliberalismus global durchgesetzt. Und mikroökonomisch? Mehr oder weniger „handelt“ oder funktioniert hier eben der homo oeconomicus – und was dabei herauskommt, fügt der Markt zum Guten.

Nur, was ist das? Der Schweizer Ökonom Peter Ulrich sagt zu Recht: „Wirtschaften ist ja nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des guten Lebens“. Sätze, für die es übrigens keinen Nobelpreis gibt.

Roboter mögen den homo oeconomicus gut verkörpern, aber was wäre ein gutes Leben aus der Sicht eines Roboters? Stets gut geölt zu sein? Was wären die mikro- und makroökonomisch treibenden Kräfte in einer Roboter-Ökonomie? Gewinnmaximierung als betriebswirtschaftliches Kalkül einer kapitalistischen Volkswirtschaft? Aber warum sollten Roboter Gewinne erzielen und ihr Kapital vermehren wollen? Handelt es sich doch um ein recht menschliches Interesse.

Ist Gewinn vielleicht im Sinne der Neoklassik ein Indikator auf dem Weg zum effizienten Ressourceneinsatz? Aber Ressourceneinsatz für welche Ziele? Für länger haltbare Bauteile? Für ein Gleichgewicht zwischen Reproduktion und Erhaltung der Umwelt, weil auch Roboterwelten nicht im luftleeren Raum existieren? Hätten die Zylonen überhaupt individuelle Präferenzen? Wie würde sich so etwas bei ihnen ontogenetisch herausbilden?

Und was nach wie vor nicht klar ist: Würden hier bei der volkswirtschaftlichen Aggregation individueller Präferenzen doch auch wieder Rangordnungsprobleme entstehen, wie sie Kenneth Arrow beschrieben hat? Oder wären ihre individuellen Präferenzen Teil einer prästabilisierten Harmonie, also einer im Voraus festgestellten Einheit? Vielleicht erfahren wir es mit den Fortschritten der künstlichen Intelligenz, aber vorerst werden wir noch unsere eigene bemühen müssen. Arrow, um das noch anzumerken, hatte den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten.

Adolf Wagner hatte anlässlich des Jugoslawienkonflikts die unsichtbare Hand des Marktes, das „Gespenst des Kapitals“ (Joseph Vogl), in tradierter Weise als heilende Hand vorgestellt. Dieses Bild hat allerdings seit Jahren wieder an Leuchtkraft verloren, der Neoliberalismus seine hohe Zeit hinter sich. Der Ukrainekrieg gibt keinen Anlass mehr, dem Markt zu huldigen. Vielmehr werden lautstark Zweifel angemeldet, ob Handel zu Wandel führt und die unsichtbare Hand die Dinge auch zwischen Staaten zum Guten wendet.

Aber vielleicht wird der Mensch doch nicht von der Ökonomie erlöst, zumindest nicht von einer Ökonomie, die nicht dem guten Leben dient, die nicht für bezahlbares Wohnen sorgt, nicht für eine menschenwürdige Pflege, die auf Ausbeutung hierzulande in den Fleischfabriken oder in den Sweatshops in der Dritten Welt beruht oder auf der Zerstörung der Umwelt.

Daher werden wir wohl selbst mehr Rücksicht auf unsere menschlichen Bedürfnisse nehmen müssen, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft und für eine Ökonomie mit weniger „Entfremdung“ sorgen müssen, um einen alten Begriff zu bemühen. Wir sind keine Zylonen.