Parlamentswahl

Frankreich: Von der Krise ins Chaos

| 10. Juli 2024

Die wichtigste Konsequenz aus den Wahlen zum EU-Parlament hatte niemand auf dem Schirm: Macrons Entscheidung, nach seiner Niederlage und dem Erfolg von Le Pen die Nationalversammlung neu wählen zu lassen, ist von enormer Tragweite – weitaus mehr als die im Vergleich eher nachrangige EU-Wahl.

Er wolle die Situation klären, so Macrons Rechtfertigung. Tatsächlich ist aus der Krise, in der seine Präsidentschaft spätestens mit der Protestbewegung der Gelbwesten 2019 geraten war, jetzt eine chaotische Situation für das ganze Land entstanden. Zum ersten Mal in der Fünften Republik stehen sich in der Nationalversammlung drei große Lager gegenüber, die alle weit von der absoluten Mehrheit von 289 Sitzen entfernt sind – und damit von der Fähigkeit, eine stabile Regierung zu bilden.

Quelle: Ministère de l’intérieur et des Outre-mer

Varianten für Macron

Mit seiner Fehlkalkulation hat Macron sich selbst ins Knie geschossen und sein eigenes Lager geschwächt. Nicht nur innenpolitisch, sondern auch im Ausland wird er für den Rest seiner Amtszeit 2027 als lame duck gelten.

Andererseits hat er aber auch nicht mehr viel zu verlieren, da die Verfassung eine erneute Kandidatur nicht zulässt. Auch wenn er angeschlagen ist, als gerissener Machtpolitiker bleibt er gefährlich für seine Gegner – und das ist nicht nur Le Pen, sondern mindestens in gleichem Maße die stärkste Kraft in der Nouveau Front Populaire (NFP), Mélanchons La France Insoumise (LFI).

Zunächst dürfte das linke Lager, das sich mit der relativen Mehrheit der Sitze als Sieger fühlt, Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten erheben. Das war bisher so demokratischer Brauch, aber es ist kein von der Verfassung verbrieftes Recht. Selbst wenn Macron dabei mitmachte, würde eine linke Regierung schon die erste Vertrauensabstimmung gegen die beiden anderen Lager nicht überstehen.

Als Präsident hat er das verfassungsmäßige Recht, den Ministerpräsidenten zu ernennen. Das muss aber nicht der Kandidat der stärksten Fraktion sein. So hat er in einem „Brief an die Franzosen“ am 10. Juli alle politischen Kräfte zum Dialog aufgefordert, die „die republikanischen Institutionen, sowie den Rechtsstaat, den Parlamentarismus anerkennen, pro Europa und die französische Unabhängigkeit sind (…) eine solide und notwendigerweise pluralistische Mehrheit zu bilden.“ Zwar sagt er nicht ausdrücklich, wer nicht in dieses Raster passt, aber mit dem Kriterium „pro Europa“ würde LFI mit ihrer EU-kritischen Position von links und das RN mit seinem nationalistisch motivierten Konzept des „Europas der Vaterländer“ ausgeschlossen. Gleichzeitig hat er angekündigt, seinen jetzigen Ministerpräsidenten Attal geschäftsführend im Amt zu halten, bis eine Regierung zustande kommt.

Die Strategie war zu erwarten. Es geht ihm zum einen darum, das linke Bündnis zu spalten, die Sozialdemokraten und die Grünen herauszusprengen und Mélenchons LFI zu isolieren. Dafür könnte er Unterstützung bei den Konservativen gewinnen. Deren Fraktionschef, Wauquiez, hat bereits signalisiert, dass er zwar nicht in eine Regierungskoalition eintreten will, sich aber einen „Pakt zur Gesetzgebung“ vorstellen könnte.

Zum anderen soll das, was sich als „politische Mitte“ versteht, wieder stark gemacht werden. Schützenhilfe von den liberalen Medien, aus Brüssel und anderen Hauptstädten ist ihm dabei gewiss.

Die Strategie mag vielleicht nicht gleich funktionieren. Denn auch der geschäftsführende Ministerpräsident kann per Misstrauensvotum gestürzt werden, und alles ginge dann auf Anfang zurück. Aber nach einiger Zeit mit Blockade und Chaos dürften viele Sozialdemokraten und manche Grüne sich staatstragend geben, und aus ‚staatsbürgerlicher Verantwortung‘ der Bildung eines neuen Blocks der Mitte zustimmen. Vorausgesetzt Les Républicains machen mit, würden rein rechnerisch 61 Abgeordnete aus dem Linksbündnis genügen um das Präsidentenbündnis zur absoluten Mehrheit aufzustocken (siehe Grafik 2).

Möglicherweise wären auch zwei Rückfallpositionen denkbar: entweder eine Technokraten-Regierung, also mit Personal von außen mit dem Image parteipolitischer Neutralität, die von der absoluten Mehrheit toleriert wird. Das ist ein Modell, das mehrfach in Italien praktiziert wurde, zuletzt mit Mario Draghi 2021-2022. Oder aber eine Minderheitenregierung des Macron-Bündnisses mit den Konservativen, die von Le Pen toleriert wird – mit entsprechenden programmatischen Zugeständnissen an das RN, versteht sich.

Alle Varianten würden Macron erlauben, seine präsidentialen Spielräume voll zu nutzen.

Wirkung über Frankreich hinaus

Aber unabhängig davon, welches Szenario eintreten wird, verursacht das innenpolitische Chaos auch Effekte außerhalb Frankreichs. Die traditionell große Reputation im Ausland, seine soft power, nimmt Schaden. Und das in einer Situation historischer Umbrüche im internationalen System mit zunehmenden Spannungen, Konflikten und Kriegen. Der geopolitische Abstieg, der bereits vor den aktuellen Ereignissen mit dem Rauswurf aus der postkolonialen Einflusszone im frankophonen Afrika spektakulär sichtbar wurde, beschleunigt sich.

Aber auch die Turbulenzen in der ohnehin krisengeplagten EU werden sich verstärken, wenn ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und einzige Nuklearmacht nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Unkalkulierbarkeit und Verunsicherung nehmen zu. Auch die Sehnsucht nach geopolitischem Weltmachtstatus, die inzwischen alle Politikfelder der EU durchwuchert, bekommt einen Dämpfer. Davon ist auch das transatlantische Verhältnis als wichtigste Stellgröße der Außenpolitik tangiert. Vor den US-Wahlen mit Trump ante portas werden Bemühungen um „strategische Autonomie“ an Gewicht verlieren.

In der deutsch-französische Achse, die schon seit längerem gewaltig eiert, werden sich die Gewichte weiter zu den Deutschen verschieben. Auch wenn die Ampelkoalition ihrerseits in der Bredouille steckt und die Symptome ökonomischen und infrastrukturellen Niedergangs ihr bereits den Titel ‚kranker Mann Europas‘ eingebracht haben, wandert das machtpolitische Zentrum der EU nach Osten. Davon profitieren auch Polen und andere Osteuropäer, die sich als Frontstaaten in der Konfrontation mit Russland fühlen.

Le Pen so stark wie nie zuvor

Das Rassemblement National hat die absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Dennoch hat die Partei inzwischen ein stabiles Wählerpotential von etwa 30 Prozent. Richtig ist, dass ein Mehrheitswahlrecht damit theoretisch eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze ermöglichen würde. Die britischen Unterhauswahlen, bei denen die Labour Party mit einem Drittel der Stimmen zwei Drittel der Sitze holte, haben das gerade gezeigt. Nicht ganz so krass, aber durchaus ähnlich verzerrt das französische System die Proportionen zwischen Stimmen und Sitzen. Mit 8,7 Millionen Stimmen (32 Prozent) liegt nämlich das RN auch im zweiten Wahlgang mit einem Vorsprung von 1,7 Millionen klar vor NFP (25,7 Prozent), und fast zweieinhalb Millionen vor dem Präsidentenlager.

Insofern ist der Sieg der Linken und der zweite Platz der Macron-Truppen bei den Parlamentssitzen zu relativieren. Für eine realistische Einschätzung der Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft darf man das nicht unter den Teppich kehren. Auf jeden Fall ist auch die Sitzverteilung immer noch das beste Ergebnis, das Le Pen bei Parlamentswahlen je erreichte.

Quelle: Ministère de l’intérieur et des Outre-mer

Würde nach deutschem Verhältniswahlrecht gewählt, hätte das RN zwar auch um die 30 Prozent, könnte aber durch die Bildung entsprechender Regierungskoalitionen in der Opposition gehalten werden. Das ist gegenwärtig auch die Lage der CDU, obwohl sie stärkste Partei ist. In Italien wurde auf diese Weise die Kommunistische Partei nach dem Zweiten Weltkrieg 40 Jahre lang von der Regierung ferngehalten.

Wie immer auch die innenpolitische Entwicklung weitergeht, das RN hat Chancen weiter zuzulegen. Denn die absehbare Verunsicherung und das Chaos im politischen System sind Wasser auf seine Mühlen. Unter den Bedingungen von Unübersichtlichkeit und Chaos gibt es so etwas wie einen Regierungsbonus nicht mehr, sondern eher einen Oppositionsbonus.

Bestätigt wird das unter anderem von einem Forschungsverbund von Umfrageinstituten, der seit 15 Jahren regelmäßig die Stimmung in der Bevölkerung erfasst. In der letzten Ausgabe von 2023 sehen 82 Prozent das Land im Abstieg. Wut, Angst und Misstrauen in die Politik haben einen Höchststand erreicht. 83 Prozent misstrauen den Parteien, 67 Prozent den Medien, 57 Prozent der EU und selbst die Justiz erwischt es noch mit 55 Prozent. Das höchste Vertrauen genießen dagegen Polizei und Militär. Zwar finden sich ähnliche Tendenzen auch in anderen Ländern, in Frankreich sind sie aber besonders weit fortgeschritten.

Welche Regierungsoption auch immer zum Zuge kommt, die prekären Kräfteverhältnisse werden keine substantiellen Lösungen für die Probleme des Landes ermöglichen – darunter die soziale Polarisierung, Wohnungsnot, die Krise des Gesundheitssystems, die Kluft zwischen Metropolen und dem Rest, die gescheiterte Integration der migrantischen Milieus in den Banlieus, die matten Maßnahmen gegen den Klimawandel, oder die hohe Staatsverschuldung. Unzufriedenheit und Protesthaltungen werden daher weiter zunehmen.

Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlich, dass die Chancen Le Pens für die Präsidentschaftswahlen wachsen werden. Sie wird sich als die Kraft der Ordnung und Sicherheit gegen Unordnung und Chaos präsentieren können.

Und die Linke?

Die Neue Volksfront gilt als linkes Projekt. Das Programm, mit dem sie ins Rennen ging, ist das auch über weite Strecken, vor allem bei der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die entsprechenden Passagen tragen die Handschrift von LFI und der KP. Allerdings haben sich beim brennenden Thema Ukrainekrieg Sozialdemokraten und Grüne durchgesetzt. LFI ist eigentlich für Verhandlungen, trägt aber jetzt eine Position mit, die für eine militärische Niederlage Russlands und die Verurteilung Putins vor dem Internationalen Strafgerichtshof plädiert, die offiziellen Kriegsziele Kiews übernimmt und „die dafür notwendigen Waffen liefern" will. Dass ist weniger links, als vielmehr der Sound von Baerbock und NATO.

Wichtiger noch als die programmatischen Differenzen ist die Rivalität um die Führung im Bündnis. Die Sozialdemokraten waren nach der Ära Hollande völlig am Boden. Bei den Wahlen zum Europaparlament lagen sie aber mit 13,8 Prozent vor LFI mit 9,9 Prozent. Auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung hat die PS stark vom Verzicht schlechter platzierter Kandidaten profitiert, auch wenn LFI noch die stärkste Kraft im Bündnis ist.

Quelle: Le Monde

Offenbar gibt es eine Wanderungsbewegung von Macrons zerfallender Partei hin zur PS. Zudem ist der neue Stern am Himmel der Sozialdemokratie, Raphael Glucksmann, kein Linker, sondern gehört zum New-Labour-Typus von Sozialdemokratie und ist von fanatischer Russophobie beseelt. Auch Ex-Präsident Hollande hat es auf dem Ticket von NFP ins Parlament geschafft, und wird versuchen, wieder vorne mitzumischen. Das Ziel ist, LFI zu überrunden. Schließlich war das Zustandekommen von NFP keine Liebesheirat, sondern vor allem eine Negativkoalition zur Verhinderung einer RN-Regierung. In dem Maße, wie der Druck zu einer absoluten Mehrheit der „Mitte“ wächst, steigt deshalb auch das Risiko, dass die Neue Volksfront auseinanderbricht.

Für LFI muss das nicht einmal so schlecht sein. Es würde Le Pen das Monopol auf den Oppositionsbonus streitig machen und vielleicht den Weg ebnen, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 ein ernst zu nehmendes Gegengewicht von links zu Le Pen zu werden. Denn Regierungsbeteiligungen zum falschen Zeitpunkt können toxisch sein. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt, der Niedergang der einst großen und stolzen Kommunistischen Partei Frankreichs als Juniorpartner unter Präsident Mitterand ist ein klassisches Beispiel für politisches Harakiri.