Editorial

Europas verlorenes Gleichgewicht

| 17. Juli 2025
IMAGO / Ralph Peters

Liebe Leserinnen und Leser,

die globale Ordnung gerät ins Wanken – und Europa sieht zu. Während sich die USA mit protektionistischer Schärfe neu positionieren, bleibt die EU in ökonomischer Abhängigkeit und politischer Passivität gefangen. Drei aktuelle Beiträge auf MAKROSKOP zeigen exemplarisch, wie tief das Problem reicht: Es geht nicht nur um falsche Antworten, sondern um das grundsätzliche Unvermögen, die richtigen Fragen zu stellen.

Eric Bonse beschreibt, wie die EU auf Trumps Drohungen mit massiven Strafzöllen von 30 Prozent nicht etwa mit strategischer Gegenwehr reagiert, sondern mit Beschwichtigung. Die von der Leyen-Kommission übt sich in Deeskalation, wo es um Selbstbehauptung ginge. Während China eine klare Linie fährt, klammert sich Brüssel an die Illusion, Trumps Zoll-Streich ließe sich durch weitere Verhandlungsrunden abwenden. Dass diese Haltung die strukturelle Schwäche Europas nur weiter offenlegt, wird verdrängt.

Dabei wäre ein nüchterner Blick auf die ökonomischen Hintergründe des Schlamassels längst überfällig. Günther Grunert zeigt: Die chronischen US-Leistungsbilanzdefizite sind nicht einfach die Kehrseite der Dollarhegemonie – sie spiegeln eine reale industrielle Erosion wider, die auf Dauer nicht tragfähig ist. Doch Europa macht sich selbst zum Erfüllungsgehilfen des US-Defizits – durch seine Exportfixierung, die schwache Binnennachfrage und die makroökonomische Unfähigkeit zu Gegenmaßnahmen. Die Asymmetrie der Handelsbilanz ist kein Naturgesetz, sondern Ausdruck politischer Entscheidungen auf beiden Seiten des Atlantiks.

Geradezu absurd wird es, wenn man sich das institutionelle Rahmenwerk innerhalb der EU ansieht. Malte Kornfeld analysiert das sogenannte „Ungleichgewichtsverfahren“ als ein technokratisches Ritual ohne ökonomischen Kompass: Ein Verfahren basierend auf schlecht begründeten Schwellenwerten, das makroökonomische Abweichungen pauschal sanktioniert – gleich ob es sich um zu hohe Defizite oder zu große Überschüsse handelt. Wirtschaftspolitik wird damit zur Frage der Regelkonformität, nicht der Zielorientierung.

Was diese drei Perspektiven eint, ist die Diagnose einer wirtschaftspolitischen Selbsttäuschung Europas. Die EU verteidigt ein institutionelles Gefüge, das Stabilität und Gleichgewicht versprechen soll, aber strukturelle Handlungsunfähigkeit zementiert. Sie moralisiert über Ungleichgewichte, die sie selbst aufrechterhält, und ruft nach Regeln, wo politische Strategie gefragt wäre.

Grunert hätte einen strategischen Ausweg parat: So könnte die EU den USA aktiv ihre Kooperation beim Abbau des US-Leistungsbilanzdefizits anbieten – nicht als Zugeständnis, sondern als Gegenleistung für die Rücknahme von Zöllen. Der Schlüssel dafür liegt in Europa selbst: in einer gezielten Stärkung der inländischen Nachfrage in den Leistungsbilanzüberschussländern. Es wäre der erste Schritt heraus aus der Logik der Schuldzuweisungen – hin zu einer Politik des Ausgleichs.

Alle Artikel dieser Ausgabe:

  • Ohne Mitte zerfällt das Ganze – Warum Deutschland seine Integrationspolitik neu ordnen muss Die Bundesrepublik hat spät begonnen, sich mit den Folgen der Migration auseinanderzusetzen. Zu spät? Was wir von Singapur und Dänemark lernen können. Sebastian Müller
  • It’s Politics, Stupid! Warum Trumps Kampf gegen die Staatsverschuldung eher politisch denn ökonomisch motiviert ist. Yotam Givoli
  • Kapitulation auf Raten US-Präsident Trump hat der EU den Handelskrieg erklärt und mit noch höheren Zöllen gedroht. Doch statt sich endlich zu wehren, setzen Berlin und Brüssel weiter auf Verhandlungen. Woran liegt das? Es gibt drei mögliche Erklärungen, eine heiße Spur führt nach Deutschland. Eric Bonse
  • Ungleichgewichtsverfahren: Die Willkür der EU Wie willkürliche Indikatoren ganze Volkswirtschaften knebeln können, zeigt der Blick hinter die Fassade europäischer Krisenpolitik. Malte Kornfeld
  • Wie Chinas industrielles Wunder möglich wurde Chinas Industrie dominiert weltweit die Hightech-Märkte – trotz niedrigem Pro-Kopf-Einkommen. Wie gelang dieser Aufstieg? Der Schlüssel liegt in Bildung, Infrastruktur und einem kaum beachteten Wettbewerbsmodell. Zhang Jun
  • Negative US-Leistungsbilanz: Gut für die USA, gut für die Welt? Der Zollstreit zwischen den USA und der EU hat die Debatte über die Wirkung der US-Leistungsbilanzdefizite neu entfacht. Teilweise werden diese Defizite kritisch gesehen, nicht selten aber auch als vorteilhaft für die USA und unabdingbar für die Weltwirtschaft. Letzteres aber ist zweifelhaft. Günther Grunert
  • Die Gentrifizierung von Mallorca Die Mallorquiner haben genug von Ballermann-Touristen. Was ist passiert? Wie sie ihre Heimat verlieren und warum diese Entwicklung paradigmatisch für ein Problem in ganz Südeuropa ist. Nikita Hollmann
  • Gefährdet Trump unsere Arzneimittelversorgung? Donald Trump will die US-Pharmaindustrie dazu zwingen, ihre Präparate in den USA zum niedrigsten Preis zu anzubieten, den sie in anderen Ländern verlangen. Kommen auf uns bald so hohe Medikamentenpreise wie in den USA zu? Hartmut Reiners
  • Kriegstüchtig – aber unvernünftig? Unser Denken über Krieg und Aufrüstung ist verzerrt. Wie können wir entgegenwirken? Ein Plädoyer für mehr kollektive Vernunft. Markus Knauff