Kriegstüchtig – aber unvernünftig?
Unser Denken über Krieg und Aufrüstung ist verzerrt. Wie können wir entgegenwirken? Ein Plädoyer für mehr kollektive Vernunft.
Der Ukrainekrieg stellt unser klares Denken auf eine harte Probe. Gegen zunehmende Bedrohungen müssen wir uns mit immer mehr Waffen und Abschreckung schützen. Das klingt vernünftig – aber ist es das?
Was uns als rational erscheint, ist in Wahrheit oft von Denkfehlern und kognitiven Verzerrungen durchzogen. Was uns gestern noch als Tabubruch galt, ist heute längst politische Normalität. Zunächst wurden Helme an die Ukraine geliefert, dann Kanonen, dann Panzer – inzwischen wird über Marschflugkörper und Langstreckenraketen diskutiert. Und eine Abgeordnete der Grünen trug in der Sitzung des Bundestages, in der über die Lieferung von Leopard Panzern entschieden wurde, einen Pulli mit Leoparden-Muster. Wer hat eigentlich gemerkt, dass die Grünen schon lange keine linke und erst recht keine Friedens-Partei mehr sind?
Die Psychologie bezeichnet das als Shifting Baseline-Verzerrung: Wir nehmen Veränderungen oft nicht wahr, die sich nur in kleinen Schritten vollziehen. Unser Verständnis von einem „normalen“ Zustand ändert sich allmählich, weil wir nur den aktuellen Zustand als Vergleichsmaßstab nehmen – nicht aber frühere oder ursprüngliche Zustände. Die Folge: Es wird nicht gehandelt, wo ein Eingreifen erforderlich wäre.
Auch unsere Sprache wird zunehmend verzerrt: Wörter wie „Kriegstüchtigkeit“, „Feind“ oder „Front“ haben nicht nur Einzug in Talkshows und Parteiprogramme gehalten – sie verändern auch unsere kognitiven Netzwerke. Wie Sprache das Denken beeinflusst, erklärt der US-Kognitionswissenschaftler George Lakoff in seiner Framing-Theorie: Wer „Sieg“, „Feind“ oder „Kriegsfähigkeit“ sagt, aktiviert bestimmte neuronale Netzwerke und unterdrückt andere – etwa solche, die mit „Verständigung“ oder „Kompromiss“ assoziiert sind. Eine Militarisierung der Sprache führt zur Militarisierung des Denkens. Wer sich daran gewöhnt, wird irgendwann vergessen, dass jeder Krieg vor allem Tod und Leid bedeutet.
Dabei spielt auch die Groupthink-Verzerrung eine Rolle. Die Mitglieder einer Gruppe unterdrücken dabei abweichende Meinungen und kritisches Denken, um Konflikte zu vermeiden und die Einigkeit nicht zu gefährden. Die Gruppe glaubt, sie könne keine Fehler machen, Warnungen und Gegenargumente werden wegerklärt, Kritiker oder Gegnerinnen abgewertet. So glaubt die Gruppe bald an ihre moralische Überlegenheit – oft auf Kosten realistischer Einschätzungen, ethischer Standards oder alternativer Lösungsmöglichkeiten. Gerade wenn sich eine Gruppe von außen bedroht fühlt, wächst die Anfälligkeit für diese Art des Gruppendrucks.
Selten zeigt sich das so deutlich wie in den medialen und politischen Diskursen über den Ukrainekrieg. Differenzierte Stimmen, die auf die Eskalationslogik von Waffenlieferungen hinweisen, werden schnell als naiv, gefährlich oder gar illoyal diskreditiert. Statt kritischer Auseinandersetzung dominiert ein moralisch aufgeladener Konsens, der jede Infragestellung als Tabubruch behandelt. Das Ergebnis ist eine kollektive Selbstbestätigung durch weitgehenden Ausschluss von Widerspruch.
Aus dem Blick gerät zum Beispiel, wer vom Krieg profitiert. Rheinmetall verzeichnet Rekordgewinne. Wer vor fünf Jahren eine Aktie des Rüstungsgiganten für rund 80 Euro gekauft hat, hält heute ein Papier im Wert von etwa 1.700 Euro in der Hand – also eine Verzwanzigfachung innerhalb von fünf Jahren. Dabei bezeichnen Ökonomen Waffen als volkswirtschaftlich unproduktiv. Sie schaffen keinen langfristigen Mehrwert, sie stehen nur herum und müssen gewartet werden. Der Ökonom Thomas Piketty fordert deshalb schon lange die demokratische Kontrolle sicherheitsrelevanter Industrien.
Die Verstaatlichung der Rüstungsindustrie wäre eine Option. Wenn wir schon glauben, Aufrüstung sei erforderlich, warum sollte der Staat dann die Produktion von Waffen und Rüstungsgütern nicht selbst übernehmen? Das wäre ein klares moralisches Signal: Die Produktion von Waffen soll den nationalen Sicherheitsinteressen dienen, nicht den finanziellen Interessen von Unternehmern. Das würde auch den wirtschaftlichen Anreiz für Kriege reduzieren.
Natürlich tut sich politisch nichts in diese Richtung. Die Investmentgesellschaft BlackRock ist mit rund 5 Prozent der größte Einzelaktionär von Rheinmetall – genau das Unternehmen, bei dem Bundeskanzler Merz im Aufsichtsrat der deutschen Tochter saß. Und in einer Talkshow fand Außenminister Johann Wadephuhl kürzlich nichts Verwerfliches daran, dass deutsche Konzerne mit Kriegen gute Geschäfte machen. Die kollektive Verdrängung funktioniert perfekt: Wer glaubt, im Dienst einer guten Sache zu handeln, nimmt in Kauf, dass dabei auch moralisch Fragwürdiges geschieht.
Eine weitere psychologische Frage gerät dabei aus dem Blick: Wer soll eigentlich kämpfen? Verteidigungsminister Pistorius spricht von über 460.000 Soldatinnen und Soldaten, die Deutschland im Ernstfall mobilisieren müsse. Aber wer sind diese Menschen? Sind die Jüngeren in diesem Land tatsächlich bereit, ihr Leben für ein Vaterland zu riskieren, von dem viele ohnehin enttäuscht sind?
Vieles in unserer Kultur lehrt junge Menschen, primär ihre individuellen Interessen zu verfolgen. Schon im Berufsleben fordern viele mehr Work-Life-Balance – und nirgends gibt es davon weniger als im Krieg. Wer sich in der Krise alleingelassen fühlt, in Bildung und Wohnen um Chancen kämpfen muss, fragt sich: Warum für ein System kämpfen, das sonst wenig für mich tut? Ja, Propaganda, Gruppendruck und nationalistische Aufladung kann Menschen in Kriegsbegeisterung versetzen – die Geschichte liefert dafür zahlreiche Belege. Doch diese Mechanismen greifen heute nicht mehr so einfach.
Und wenn, dann trifft es wieder die ökonomisch Schwachen. Der Soziologe Michael Mann beschreibt in seiner Analyse moderner Kriege, dass Eliten oft ideologische Mobilisierung betreiben, während die soziale Bürde des Krieges auf benachteiligte Gruppen fällt. Auch Studien zum Draft Inequality zeigen: Wehrpflichtige stammen überproportional aus ökonomisch schwächeren Schichten. Es sind nicht die Kinder aus Villenvierteln, die als Erste an die Front gehen. In Kriegen leiden diejenigen, denen es ohnehin am schlechtesten geht – und die sich am wenigsten wehren können. Auch im Ukrainekrieg gilt schon jetzt: Die Reichen liefern die Waffen, die Armen die Leichen.
Natürlich ist vernünftiges Denken gerade in Krisenzeiten schwierig. Oft bekommen Menschen dann einen Tunnelblick. Die Psychologie nennt das Motivated Reasoning: Wir neigen dazu, Schlussfolgerungen zu ziehen, die zu unseren Wünschen, Hoffnungen oder ideologischen Überzeugungen passen. Wir überbewerten Informationen, die unsere Meinungen bestärken, während andere Meinungen und Gegenargumente abgewertet werden.
Dabei spielt eine Vielzahl weiterer kognitiver Verzerrungen eine Rolle: Der berüchtigte Bestätigungsfehler beschreibt die Tendenz, Informationen so auszuwählen und zu bewerten, dass sie bestehende Überzeugungen stützen – selbst wenn gegenteilige Evidenz vorliegt. Der Negativitäts-Bias lässt uns negative Nachrichten überbewerten, weil sie potenziell bedrohlich sind. Der Verfügbarkeitsfehler sorgt dafür, dass besonders einprägsame oder medial präsente Ereignisse unser Urteil dominieren. Und der Dunning-Kruger-Effekt: Je geringer die Sachkenntnis, desto mehr überschätzen Menschen ihre eigene Kompetenz.
Das beste Mittel gegen solche Denkfehler ist kritische Reflexion und die Bereitschaft zur Selbstkritik. Gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten sollten wir uns fragen: Was weiß ich eigentlich wirklich über die aktuelle Situation? Welche Informationen habe ich, aus welchen Quellen stammen sie, und wie könnte ich manipuliert werden? Gibt es andere Perspektiven, die ich nicht bedacht habe? Haben nicht auch die Menschen, die eine andere Position vertreten, gute Gründe für ihre Meinung? Was wurde zur neuen Normalität – und sollte es das wirklich sein?
Die Psychologie nennt das metakognitives Denken – das Denken über das eigene Denken. Studien zeigen: Wer sich seiner kognitiven Prozesse bewusst ist, trifft in der Regel bessere Entscheidungen und ist weniger anfällig für Denkfehler, kognitive Verzerrungen und vorschnelle Urteile. Im Gehirn werden dabei Schaltkreise aktiv, die unser Denken überwachen und in vernünftigere Bahnen lenken.
Das macht niemanden zum „Putin-Versteher“ oder „naiven Pazifisten“. Im Gegenteil: Metakognitives Denken befähigt uns, Risiken und Handlungsoptionen rational und verantwortlich zu beurteilen – gerade dann, wenn es schwerfällt. Die NATO-Staaten haben soeben beschlossen, künftig fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung zu investieren. Man kann darüber unterschiedlicher Meinung sein – doch eine Frage sollten wir uns alle stellen: Brauchen wir wirklich mehr Waffen – oder doch mehr vernünftiges Denken?