Integration

Ohne Mitte zerfällt das Ganze – Warum Deutschland seine Integrationspolitik neu ordnen muss

| 15. Juli 2025

Die Bundesrepublik hat spät begonnen, sich mit den Folgen der Migration auseinanderzusetzen. Zu spät? Was wir von Singapur und Dänemark lernen können.

Es gehört zu den großen Illusionen der Gegenwart, dass multiethnische Gesellschaften dauerhaft harmonieren – ohne institutionelle Steuerung, ohne klare Erwartungen, ohne soziale Bindekräfte. Deutschland hat diese Illusion lange gepflegt. Das Ergebnis ist sichtbar: In vielen Städten entstehen Milieus, in denen weder das Grundgesetz als gemeinsamer Rahmen, noch die deutsche Sprache, noch ein Gefühl von Zugehörigkeit selbstverständlich sind.

Was in der öffentlichen Debatte gerne als „Vielfalt“ verklärt wird, ist in der Realität oft schlicht die Verfestigung kultureller Parallelwelten – mit eigenen Normen, eigenen Loyalitäten, teils eigenen Rechtssystemen. Der Staat zieht sich zurück, wo er gefordert wäre. Der soziale und kulturelle Kitt löst sich auf.

Dass Integration nicht durch Appelle zur Toleranz, sondern nur durch politische Gestaltung, klare Regeln und Verpflichtungen gelingt, zeigt ein Vergleich mit Singapur und Dänemark. Deutschland braucht eine neue, ordnende Integrationspolitik – oder es wird sich in soziokulturelle Fragmente auflösen, deren einziges Band die Bürokratie ist.

So „schaffen“ wir es nicht

Die Bundesrepublik hat sich spät als Einwanderungsland begriffen – und noch später begonnen, sich mit den Folgen auseinanderzusetzen. Statt eines klaren normativen Rahmens setzte man auf einen liberalen Multikulturalismus, der Kultur als Privatsache behandelte und Integration zur Bringschuld der Aufnahmegesellschaft erklärte. Die Erwartungen an Zugewanderte sind gering, die staatlichen Steuerungsinstrumente schwach, das Vertrauen in Selbstregulierung, Sozialarbeiter und ehrenamtliche Helfer hoch.

Diese Haltung rächt sich spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015. In vielen Stadtteilen existieren heute kulturell geschlossene Milieus, in denen die deutsche Sprache kaum gesprochen, zentrale Freiheitsrechte (insbesondere von Frauen) nicht gelebt und die Loyalität zur Verfassung kaum formal, geschweige denn innerlich vorhanden ist. Polizei, Schulen und Justiz stoßen dort regelmäßig an Grenzen, die das liberale Integrationsmodell nicht einmal benennen kann. An Angela Merkes Durchhalteparole „Wir schaffen das“ glaubt zehn Jahre später so gut wie niemand mehr.

Singapur: Durchmischung mit Ordnung

Welche Herausforderungen Einwanderung und ethnische Diversität für ein Gemeinwesen schaffen, zeigt das Beispiel Singapur. Die rigide Steuerung von Ethnizität und Religion durch den erst 1965 gegründeten Stadtstaat hat ihren Ursprung in den gewaltsamen Ausschreitungen, die der ehemalige Freihafen der britischen East India Company im Zuge der Entkolonialisierung durchleben musste.

So kam es 1950 zu schweren Unruhen zwischen malaiischen Muslimen und katholischen Eurasiern mit 18 Toten und 173 Verletzten. 1964, nach dem kurzlebigen Anschluss an die malaiische Föderation, eskalierte der Konflikt zwischen Malaien und Chinesen: 36 Tote und über 500 Verletzte. Es waren keine bloßen Straßenschlachten, sondern Ausdruck existenzieller Angst – die Chinesen fürchteten eine Islamisierung durch eine malaiische Übermacht, die Malaien wiederum die wirtschaftliche Dominanz der chinesischen Bevölkerung.

Heute achtet Singapur darauf, dass sich das „Mischungsverhältnis‟ der chinesischen, malaiischen und indischen Bevölkerungsgruppen nicht zugunsten oder zulasten einer ethnischen Gruppe verschiebt. Das gilt nicht nur für die prozentualen Anteile an der Gesamtbevölkerung, in der Chinesen mit 74 Prozent die Mehrheit ausmachen, sondern auch für die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Religionen. Mit Argusaugen wacht der Staat darüber, dass sich keine fundamentalistischen Strömungen verbreiten. Missionarische Aktivitäten und Publikationen, mit denen die „religiöse Harmonie‟ gestört werden könnte, sind gesetzlich verboten. Muslimas dürfen an den öffentlichen Schulen des Landes kein Kopftuch tragen.

Der Employment Pass in seinen unterschiedlichen Abstufungen steuert die Einwanderung nicht nur nach demographischen, sondern auch nach konjunkturellen Gesichtspunkten. Geht es der Wirtschaft in einem Bereich schlecht, werden dafür weniger Ausländer zugelassen. Umgekehrt wird die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für Migranten in Boomphasen sektoral erhöht.

Zentrales Element der Integrationspolitik, die „Säule der Nation“, ist aber der öffentliche Wohnungsbau mit seinen ethnisch durchmischten Wohnquartieren. Rund 80 Prozent der Singapurer leben in staatlich geförderten Wohnungen. Die sogenannte Ethnic Integration Policy schreibt den zum Kauf und Verkauf von staatlichen Wohnungen berechtigten Bürgern vor, in welchem Gebäude sie wohnen dürfen.

Schulen verpflichten zur Vermittlung gemeinsamer Werte und die politische Kommunikation ist durchweg auf den Erhalt der gesellschaftlichen Einheit ausgerichtet. Neuankömmlinge sollen so integriert werden, dass sie mit der Zeit Singapurer werden, „in their outlook and identity‟.

Ergebnis: Es existieren keine ethnischen Ghettos, die politische Stabilität ist hoch, interkulturelle Konflikte bleiben marginal. Singapur macht keine Identitätspolitik – es verwaltet Unterschiedlichkeit als Realität, aber unterwirft sie einem gemeinsamen nationalen Rahmen. Kritiker sehen in dieser Praxis einen autoritären Zugriff. Tatsächlich handelt es sich um ein Beispiel gelingender Verfassungsintegration: Die kulturelle Heterogenität wird zwar gelebt, aber nicht auf Kosten des Ganzen.

Im Umkehrschluss zeigen die umfangreichen Bemühungen Singapurs, wie fragil eine ethnisch heterogene Gesellschaft ohne eine bewusst gelenkte, institutionell abgesicherte und national eingebettete Integrationspolitik ist. „Ich täusche mich keinen Moment darüber, dass unsere ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Unterschiede verschwunden sein könnten‟, warnte etwa Singapurs Staatsgründer Lee Kuan Yew 2011.

Dänemark: Integration durch Selbstbehauptung

Aber auch ehemals ethnisch homogene Gesellschaften können sich durch ungesteuerte Migration innerhalb kürzester Zeit verändern und destabilisieren. Dänemark war über Jahrhunderte eine kulturell relativ geschlossene Gesellschaft, mit einheitlicher Sprache, Religion und Rechtskultur. Die moderne Einwanderung begann vergleichsweise spät – mit den Gastarbeitern der 1970er-Jahre und dem starken Zuzug aus muslimischen Ländern seit den 1990ern.

Das lange dominierende skandinavische Modell der offenen Sozialstaatlichkeit geriet unter Druck, als immer deutlicher wurde, dass Teile der Zuwanderergruppen – insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern – die Erwartungen an sprachliche, kulturelle und normative Integration nicht erfüllten. Der Konsens, dass Integration durch staatliche Angebote automatisch gelinge, bröckelte.

Nachdem erkannt wurde, dass staatliche Toleranz oft als Schwäche gedeutet wird, endete auch das liberale Integrationsmodell. Spätestens seit 2015 begann Dänemark mit einer verschärften Integrations- und Migrationspolitik gegenzusteuern: strikte Begrenzung der Einwanderung, Sprachpflicht, verpflichtende Vorschule, schärfere Gesetze, Maßnahmen gegen Parallelgesellschaften, das Verbot religiöser Symbole in bestimmten Bereichen und – hier ähnlich wie in Singapur – Quotenregelungen für Wohnviertel.

Anders als Singapur zielt Dänemark dabei auf die Assimilation in die dänische Mehrheitsgesellschaft. Was das kleine Land mit Schrecken befürchtet, ist eine verstärkt sozialräumliche Polarisierung der Gesellschaft wie in den USA: der ethnischen und sozioökonomischen Enklave – dem Ghetto einerseits, der Gated Community andererseits.

Während in Deutschland Strategien residentieller Integration angesichts des Verpönens staatlicher Restriktionen weitestgehend ausbleiben, sieht das dänische „Ghetto-Gesetz“ vor, dass in Problemvierteln mit hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität nicht mehr als 30 Prozent „nicht-westliche Ausländer“ leben. Ist ein Stadtteil fünf Jahre in Folge auf der Brennpunkt-Liste, behält sich die Regierung sogar vor, Sozialbauten abzureißen und Bewohner umzusiedeln.

Eltern werden der Integration wegen verpflichtet, ihre Kinder ab dem 1. Geburtstag in den Kindergarten zu schicken. Wer sich weigert, dem wird die Sozialhilfe gekürzt. Und Aufenthaltstitel können bei Fehlverhalten wieder entzogen werden. Seit 2018 herrscht zudem ein Verhüllungsverbot. Seitdem darf niemand sein Gesicht mit Burka oder Niqab verschleiern

Die Maßnahmen sind umstritten, in Dänemark aber überparteilicher Konsens – und sie zeigen Wirkung. Dänemark hat auf erste Anzeichen von Kontrollverlust und sozialer Spannungen nach 2015 früh mit einem klaren Kurswechsel reagiert. Wer bleiben will, muss sich einfügen – in eine Gesellschaft, die nicht bereit ist, ihr Selbstverständnis und ihren Wohlfahrtsstaat zur Disposition zu stellen. Rechte gibt es nicht ohne Pflichten.

Deutschland: Zwischen Utopie und Selbstverleugnung

Nicht, dass der deutsche Flächenstaat mit über 80 Millionen Einwohnern und einer eigenen Kultur und Geschichte das singapurische oder das dänische Modell eins zu eins kopieren könnte. Nur – Deutschland hat auch kein eigenes Modell. Die integrationspolitische Praxis ist geprägt von Widersprüchen, Illusionen, Blauäugigkeit und einem normativen Vakuum.

Dabei hatte die Bundesrepublik durchaus einmal Phasen klarer integrationspolitischer Steuerung. Unter der sozialliberalen Koalition Willy Brandts versuchten einige Bundesländer durch gezielte Zuweisung von Wohnraum oder Einschränkungen bei der Vergabe von Sozialwohnungen eine zu starke ethnische Ballung zu vermeiden. 1971 verabschiedete die Kultusministerkonferenz der Länder eine Empfehlung, wonach an Schulen ein Ausländeranteil von maximal 15 Prozent nicht überschritten werden sollte. Quotenempfehlungen, die seit den 1980er- und 1990er-Jahren gelockert oder de facto ignoriert werden. Der jüngste Vorstoß von Bildungsministerin Karin Prien (CDU) für eine Migrantenquote an Schulen ist vor diesem Hintergrund zu lesen.

Doch was damals sozialliberaler Konsens war – Integration braucht Begrenzungen, um zu funktionieren – gilt heute als „rechts“ oder „illiberal“. Auf der einen Seite steht eine Bürokratie, die Integrationskurse organisiert, niedrigschwellig Sozialleistungen und neuerdings die deutsche Staatsbürgerschaft auch ohne nennenswerte Sprachkenntnisse vergibt. Auf der anderen Seite ein gesellschaftliches Klima, das jede Forderung nach Anpassung als Diskriminierung diffamiert und eine seltsam entrückte Diversitätspolitik trägt.

Deutschland bleibt in einer Art integrationspolitischer Scheinwelt. Der Staat beteuert, Integration sei „wichtig“, „herausfordernd“, „notwendig“ – aber was das konkret bedeutet, bleibt vage. Im Zweifel geht es um Sprachkurse, Arbeit und Antidiskriminierung. Doch Integration heißt mehr als nur die Eingliederung in den Arbeitsmarkt: Sie ist ein Prozess, an dessen Ende Identifikation, Loyalität und die Akzeptanz gesellschaftlicher Grundnormen der Aufnahmegesellschaft stehen.

Aber was in jeder WG oder Hausgemeinschaft selbstverständlich wäre, wird im Staate Deutschland nur zögerlich eingefordert. Der Staat beugt sich zunehmend den identitätspolitischen Dogmen einer akademischen Minderheit. Symptomatisch für die Zerfahrenheit der Debatte sind zwei extreme Pole, die jedoch gefährliche Parallelen offenbaren:

Von rechter Seite versuchte sich jüngst der AfD-Spitzenpolitiker Maximilian Krah mit seinem Konzept eines „Binnen-Ethnopluralismus“ zu profilieren. Die Idee: kulturelle Gruppen bleiben unter sich, geteilt durch symbolische Grenzen. Der Nationalstaat wird zum bloßen Container konkurrierender ethnischer Milieus.

Die Vorstellungen linker Identitätspolitik laufen ironischerweise auf das Gleiche hinaus, da hier jede Forderung nach Integration als strukturell rassistisch angesehen wird, als unzumutbarer Zwang der „weißen Mehrheitsgesellschaft“, ein „Wir“ als Unterdrückung von Differenz. Exemplarisch das 2018 erschienene Buch Desintegriert euch! von Max Czollek. Die Idee eines gesellschaftlichen Zentrums lehnt Czollek – natürlich mit dem stets unvermeidlichen Verweis auf die deutsche Geschichte – ab.

Beide Positionen sind eine Absage an die republikanische Idee der Demokratie und des Staatsbürgers, weil sie das Gemeinsame aufgeben. Eine Gesellschaft, die sich nach ethnischen Linien organisiert, verliert ihre Fähigkeit zu gemeinsamen politischen Projekten. Ein Gemeinwesen, das keine Vorstellung davon hat, wer „wir“ sind, kann auch niemanden aufnehmen, der dazugehören will. Dass der Preis dieser Haltung die Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ist, wird ausgeblendet.

Ohne kulturellen Anker kein Gemeinwesen

Dass der deutsche Staat an das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot gebunden ist, heißt nicht, dass er ein bloßer Rechtsverwalter von „Vielfalt“ ist. Es braucht ein klares Bekenntnis zur eigenen politischen Ordnung, zur deutschen Sprache, zu den sozialen Regeln des Zusammenlebens. Das bedeutet nicht kulturelle Gleichmacherei – aber es bedeutet, dass das Gemeinwesen nicht kulturell indifferent sein kann, wenn es überleben will.

Die Vorstellung, Integration gelinge durch „Dialog“ oder „Aushandlungsprozesse“, ist naiv. Sie gelingt durch Verbindlichkeit, durch gemeinsame Institutionen, durch gelebte Öffentlichkeit. Es braucht eine Schule, die nicht nur Wissen, sondern Orientierung vermittelt. Eine Verwaltung, die nicht wegsieht. Und eine Gesellschaft, die bereit ist, ihre Ordnung auch gegenüber jenen zu verteidigen, die sie ablehnen oder ignorieren.

Die vielbemühte „Vielfalt“ ist, soll sie keine realitätsfremde Worthülse bleiben, an Voraussetzungen gebunden, vor allem aber: an eine gemeinsame politische Kultur. Singapur gelingt das durch Regierungstechnik, Dänemark durch Härte und Verbindlichkeit. Deutschland müsste es durch Überzeugung, Temporegulierung, klar kommunizierte Anforderungen und am Ende durch die Aussicht auf Zugehörigkeit jenseits reiner Rechtsnormen schaffen.

Ein Gemeinwesen ist mehr als ein Wirtschaftsraum mit Sozialtransfers. Es ist ein kollektives Projekt, das gemeinsame Regeln, Sprache, Institutionen und Pflichten voraussetzt. Integration darf kein unverbindliches Angebot sein. Sie ist eine Notwendigkeit – ohne die der Staat auf Dauer zum Zuschauer seiner eigenen Auflösung wird.