Leistungsbilanzen

Negative US-Leistungsbilanz: Gut für die USA, gut für die Welt?

| 17. Juli 2025
IMAGO / Markus Tischler

Der Zollstreit zwischen den USA und der EU hat die Debatte über die Wirkung der US-Leistungsbilanzdefizite neu entfacht. Teilweise werden diese Defizite kritisch gesehen, nicht selten aber auch als vorteilhaft für die USA und unabdingbar für die Weltwirtschaft. Letzteres aber ist zweifelhaft.

Der US-amerikanische Präsident Donald Trump ist nicht gerade für scharfsinnige theoretische Analysen bekannt, die zu bedeutenden Erkenntnisfortschritten geführt haben. Er hat jedoch eine wichtige Diskussion über den Außenhandel und die Leistungsbilanzsalden angestoßen. Tatsächlich zeigen sich bei den Leistungsbilanzen große außenwirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen den Ländern. Während etwa die USA in den 40 Jahren von 1985 bis 2024 nur in einem einzigen Jahr einen Leistungsbilanzüberschuss aufwiesen, ansonsten aber (zumeist hohe) Leistungsbilanzdefizite, ist die deutsche Leistungsbilanz seit über 20 Jahren stets positiv.[1]

Üblicherweise wird die Leistungsbilanz als wichtiger Indikator der internationalen Wettbewerbsfähigkeit angesehen, wobei ein Überschuss eine relative Stärke, ein Defizit dagegen eine relative Schwäche anzeigt. Aus eben diesem Grund gelten die hohen US-Leistungsbilanzdefizite für viele Ökonomen als problematisch. Sie sind der entscheidende Grund für Donald Trumps Zollpolitik, bei der er zuletzt mit Zöllen in Höhe von 30 Prozent auf alle Waren aus der Europäischen Union ab dem 1. August drohte. Dabei sollen bereits existierende Sektor-Tarife bestehen bleiben; es würden also weiterhin 50 Prozent auf Stahl und Aluminium und 25 Prozent auf Autos und Autoteile gelten.

Trump will erreichen, dass die Importe der USA gebremst werden und somit das US-Leistungsbilanzdefizit sinkt. Dieses Defizit betrug im Jahr 2024 1,13 Billionen US-Dollar, was 3,9 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprach.

Profitieren die USA?

Allerdings sehen nicht alle die großen Leistungsbilanzdefizite der USA negativ. Eine Reihe von Ökonomen argumentiert, dass solche Defizite im Prinzip gut für das Defizitland seien, weil sie letztendlich auf einen Tausch von Bankguthaben gegen physische Güter hinausliefen. So veranschaulichte Larry Summers, bekannter US-Ökonom und früherer US-Finanzminister, in einem Gespräch mit Niall Ferguson diese Position wie folgt:

„Wenn China uns also Dinge zu wirklich niedrigen Preisen verkaufen will und die Transaktion darin besteht, dass wir Solarkollektoren erhalten, die dazu beitragen, dass es weniger globalen Klimawandel gibt, oder dass wir Batterien erhalten, die wir in Elektroautos einsetzen können, und wir ihnen im Gegenzug Papierstücke schicken, die wir drucken –   glauben Sie, dass das ein gutes oder ein schlechtes Geschäft für uns ist? Ich denke, es ist ein gutes Geschäft für uns“ (hier ab Minute 20:40; diese und alle folgenden Übersetzungen durch mich, G.G.).

In ähnlicher Weise äußern sich auch viele Vertreter der „Modern Monetary Theory“ (MMT), etwa Warren Mosler:

„In der Ökonomik ist es besser zu erhalten als zu geben. Deshalb wird im Wirtschaftsunterricht des ersten Jahres gelehrt: Importe sind realer Nutzen. Exporte sind reale Kosten. [...] Der reale Wohlstand einer Nation ist alles, was sie produziert und für sich selbst behält, plus alles, was sie importiert, minus das, was sie exportieren muss. Ein Handelsdefizit erhöht in der Tat unseren realen Lebensstandard. Wie könnte es auch anders sein? Je höher also das Handelsdefizit, desto besser“ (Mosler 2010, S. 59).

Sind US-Leistungsbilanzdefizite unumgänglich?

Eine andere Lesart der US-Leistungsbilanzdefizite ist, dass diese im Prinzip zwingend erforderlich seien, um die Versorgung der Welt mit US-Dollar sicherzustellen. So argumentiert beispielsweise Ansgar Graw auf Focus Online und verweist dabei auf das sogenannte „Triffin-Dilemma“:

„Benannt nach dem amerikanisch-belgischen Ökonom Robert Triffin (1911-1993), beschreibt es die Schwierigkeit für eine Wirtschaftsmacht, einerseits innenpolitisch stabile Zahlungsbilanzen anzustreben und andererseits global genügend Liquidität bereitzustellen. […] Sollte es Trump gelingen, das Handelsdefizit der USA abzubauen oder zumindest zu verkleinern, würde der Abfluss von US-Dollar ins Ausland gestoppt oder deutlich reduziert. Da der Dollar bislang die dominierende Währung im internationalen Handel und in Finanztransaktionen ist, könnte ein geringeres Angebot an Dollars auf dem Weltmarkt die Liquidität der globalen Wirtschaft reduzieren.“

In die gleiche Richtung äußert sich Udo Schwerd auf blogmbh.de, einem Blog für Gründer, Geschäftsführer und Berater:

„Das Problem: Wenn die USA weniger Dollars exportieren, sei es durch Handel oder Hilfen, fehlt in der globalen Weltwirtschaft essenzielle Dollar-Liquidität. Der Eurodollar-Markt, über den der Großteil der weltweiten Dollartransaktionen abgewickelt wird, braucht ständigen Nachschub. Fehlt dieser, droht ein globaler Liquiditätsengpass.“

Im Folgenden werden die beiden angeführten Argumentationen, nach denen es nicht sinnvoll wäre, die hohen US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizite abzubauen, einer kritischen Überprüfung unterzogen.

Eine statische Betrachtung

Die Vorstellung, dass ein Handels- beziehungsweise Leistungsbilanzdefizit für ein Land vorteilhaft sei, da es den realen Lebensstandard hebe, wird von Heiner Flassbeck scharf kritisiert:

„Bei den Diskussionen über den Handel und die Handelssalden, die von Donald Trump ausgelöst worden sind, zeigt sich häufig, dass eine statische Betrachtung der Leistungsbilanzsalden vorgenommen wird nach dem Motto, ist doch gut, wenn man mehr Güter einführt als man ausführt, dann steigt doch der Wohlstand (so beispielsweise auch Maurice Höfgen im beiliegenden Video ab Minute 21). Das ist falsch. Das ist eine Sichtweise, die das Entstehen von Überschüssen und Defiziten ausblendet und deswegen die Dynamik des Prozesses, um den es geht, nicht erfassen kann.“

Zweifellos ist es richtig, dass einem Land mit einem Leistungsbilanzdefizit zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr Güter zur Verfügung stehen, als es selbst hergestellt hat. Doch darf die Analyse nicht bei dieser banalen Erkenntnis stehenbleiben. Flassbeck stellt mit Recht fest: „Die relevante Frage ist, wie viele Güter das Land zur Verfügung haben könnte, wenn es nicht im Zuge des Entstehens des Defizits Einkommen, Produktion und Arbeitsplätze verloren hätte.“ Anders ausgedrückt: Die Importüberschüsse dürfen nicht als zusätzliche Güter interpretiert werden, die das Defizitland erhält und die seinen Wohlstand erhöhen – vielmehr müssen die Produktions- und Einkommenseinbußen gegengerechnet werden, die sich daraus ergeben, dass heimische Unternehmen Marktanteile an wettbewerbsstärkere ausländische Unternehmen verlieren oder gar ganz aus dem Markt gedrängt werden.

Eine gute Fiskalpolitik reicht nicht

Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass es zwar in einigen Industriezweigen zu Arbeitsverlusten kommen kann, dass es aber „mit der richtigen Fiskalpolitik immer genügend inländische Kaufkraft geben wird, um diejenigen beschäftigen zu können, die bereit und in der Lage sind zu arbeiten und die dann andere Waren und Dienstleistungen für unseren privaten und öffentlichen Verbrauch produzieren“ (Mosler 2010, S. 61).

Das greift zu kurz, wie auch Steve Keen kritisiert. Denn es ist wichtig, wohin das Geld geht. Die Einnahmen aus Exporten – beispielsweise dem Verkauf chinesischer Autos in den USA durch einen chinesischen Autohersteller – fließen auf das Bankkonto des Unternehmens, das die Exporte tätigt. Staatsausgaben in gleicher Höhe dagegen werden im Allgemeinen über viele Bankkonten verteilt.

Die durch die Auslandsverkäufe erzielten Einnahmen können von den betreffenden Unternehmen wiederum zur Festigung und zum Ausbau ihrer Marktposition genutzt werden: Viele Investitionen – darunter auch Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE) zur Hervorbringung von Produktinnovationen – werden aus einbehaltenen Gewinnen finanziert.  

Die Verkaufserlöse aus den Exporten ermöglichen es also den exportierenden Unternehmen, mehr zu investieren, als es ihnen allein mit den inländischen Einnahmen möglich wäre. Wenn in einem Land der Anteil solcher exportstarker Unternehmen hoch ist, so dass es Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse verzeichnet, wird es seine technologische Leistungsfähigkeit rascher erhöhen und schneller wachsen können als ein exportschwaches Land mit Leistungsbilanzdefiziten. Es ist unwahrscheinlich, dass der gleiche Innovationsstimulus wie im Leistungsbilanzüberschussland durch ein entsprechendes Defizit des Staates auch im Leistungsbilanzdefizitland erreicht werden kann.

Gefahr des „Abgehängtwerdens“

Erschwerend kommt der kumulative Charakter der Innovationsaktivitäten in den Unternehmen hinzu. In der herrschenden Lehre wird Technologie häufig mit allgemein anwendbaren, leicht reproduzierbaren und wiederverwendbaren Informationen gleichgesetzt (z.B. Arrow 1962), wobei die Unternehmen Innovationen hauptsächlich dadurch produzieren und nutzen, dass sie frei auf einen allgemeinen „Bestand“ oder „Pool“ an technologischem Wissen zugreifen.

So einfach ist es aber nicht, wie vor allem Autoren aus dem Umfeld der „Science Policy Research Unit“ der University of Sussex immer wieder herausgearbeitet haben (Dosi 1984; Dosi et al. (eds.) 1988; Dosi et al. 1990; Freeman/Soete 2004): Technischer Wandel vollzieht sich nicht zufällig – und zwar aus zwei Gründen: Erstens wird seine Richtung häufig durch den Stand der bereits verwendeten Techniken bestimmt. Es ist unwahrscheinlich, dass die Suchprozesse von Industrieunternehmen den gesamten Bestand an technologischem Wissen erfassen, bevor sie ihre technischen Entscheidungen treffen. Die Unternehmen werden vielmehr versuchen, ihre Technologie zu verbessern und zu diversifizieren, indem sie sich auf Bereiche konzentrieren, die es ihnen ermöglichen, ihre vorhandene technologische Basis zu nutzen und darauf aufzubauen. Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit technischer Fortschritte von Unternehmen, Sektoren und sogar Ländern (unter anderem) eine Funktion des von ihnen bereits erreichten technologischen Niveaus. Anders ausgedrückt: Der technische Wandel ist in hohem Maße eine kumulative Aktivität.

Daraus ergeben sich Probleme für Länder mit Leistungsbilanzdefiziten. Sicherlich gehen wenige Jahre mit solchen Defiziten nicht zwangsläufig mit einem sich beschleunigenden Prozess der Deindustrialisierung (Schrumpfung des industriellen Sektors) einher, der zum Verlust von hochqualifizierten, gut bezahlten Arbeitsplätzen führt, dem Produktivitätswachstum und der Innovationsfähigkeit schweren Schaden zufügt und das Land von importierten Waren und Dienstleistungen abhängig macht.

Langanhaltende, sich über viele Jahre oder gar über Jahrzehnte erstreckende Leistungsbilanzdefizite eines Landes dürften jedoch zur Folge haben, dass Industriebereiche an ausländische Konkurrenten verlorengehen. Dies ist besonders gravierend, wenn es sich dabei um innovative Industriebereiche mit hohem produkttechnologischen Neuerungspotenzial handelt. Ohne heimische Produktion droht das betreffende Land hier relativ rasch den Anschluss zu verlieren, da es zunehmend weniger über innovationsfähige Unternehmen verfügt, die in der Lage sind, im Laufe der Zeit spezifisches, zum Teil internalisierbares Wissen durch gleichermaßen spezifische Lernprozesse zu akkumulieren.

Sind in einem Land bestimmte industrielle Produktionen erst einmal verschwunden, besteht auf lange Sicht die Gefahr, dass auch das Wissen, das erforderlich ist, um sie zu betreiben, gänzlich verlorengeht.[2] Das aber ist nicht unproblematisch, da der industrielle Sektor immer noch der bedeutendste Träger des technischen Fortschritts ist. Die anderen Sektoren – insbesondere der Dienstleistungssektor – sind zwar ein wichtiger Nutzer von anderswo generierter Technologie, stellen aber insgesamt keine bedeutende Technologiequelle dar.

Hier irrt die MMT

Regelmäßigen Makroskop-Leser(inne)n wird vielleicht aufgefallen sein, dass hier von einem MMT-Anhänger Kritik an einer Position geübt wird, die von vielen anderen MMT’lern vertreten wird – nämlich, dass permanente Leistungsbilanzdefizite für ein Land nicht nur unbedenklich, sondern sogar von Vorteil seien. In der Tat handelt es sich dabei um einen der sehr wenigen Punkte, bei denen ich nicht mit der mehrheitlichen MMT-Meinung übereinstimme. Meine Probleme mit der genannten Vorstellung beginnen bereits auf der theoretischen Ebene, wenn etwa Bill Mitchell schreibt:

„Für eine Volkswirtschaft als Ganzes stellen Importe einen realen Nutzen dar, während Exporte reale Kosten bedeuten.

Exporte bedeuten, dass wir etwas Reales an Ausländer abgeben müssen, das wir selber nutzen könnten – das sind offenkundig Opportunitätskosten.

Importe bedeuten, dass die Ausländer uns etwas Reales geben, das sie selbst nutzen könnten, von dem aber wir profitieren. Die Opportunitätskosten liegen ganz auf ihrer Seite!“

Zur Theorie der Opportunitätskosten

Diese Argumentation Mitchells mit den Opportunitätskosten verwundert etwas. Die Opportunitätskosten bezeichnen in der Mainstream-Ökonomik das, worauf verzichtet werden muss, um etwas anderes zu erhalten. Wenn beispielsweise eine Volkswirtschaft ihre Produktionsfaktoren von der Konsumgüterproduktion zur Investitionsgüterherstellung umlenkt, erhöhen sich mit jeder zusätzlichen Einheit an Investitionsgütern die Opportunitätskosten im Sinne des erforderlichen Verzichts auf Konsumgüter. Dabei zeigt die sogenannte „Produktionsmöglichkeitenkurve“ die jeweiligen Outputkombinationen – im genannten Beispiel aus Konsumgütern und Investitionsgütern –, die in der Volkswirtschaft mit den existierenden Produktionsfaktoren (und der vorhandenen Produktionstechnik) möglich sind (vgl. etwa Mankiw/Taylor 2017, S. 565ff).

Problematisch an diesem Modell ist, dass es von Vollbeschäftigung ausgeht. Wenn keine Vollbeschäftigung herrscht, gibt es keine Opportunitätskosten: Man kann mehr Investitions- und Konsumgüter gleichzeitig haben, wenn man das Beschäftigungsniveau erhöht. Steve Keen bemerkt zu Recht:

„Ist es deshalb sinnvoll, Vollbeschäftigung anzunehmen, wenn es um den internationalen Handel geht – Vollbeschäftigung also in jedem Land zur gleichen Zeit? Nein, natürlich nicht! Das ist es, was die meisten Mainstream-Wirtschaftsmodelle tun, aber das ist die Art von unrealistischem Unsinn, von dem uns die MMT zu befreien helfen sollte.“

Schon das sei ein Grund, die Kosten-Nutzen-Argumentation der MMT bezüglich Exporten und Importen kritisch zu sehen:

„Wenn in einem Land weniger als Vollbeschäftigung herrscht, dann könnte mehr Export einer (oder beider!) Waren die Gesamtbeschäftigung steigern. Ebenso könnte der Import von Gütern, die im eigenen Land produziert werden könnten, die Beschäftigung verringern. Da das Erreichen von Vollbeschäftigung ein Kernziel der MMT ist, gibt es keine stichhaltige Grundlage für die Behauptung, dass ‚Exporte Kosten und Importe einen Nutzen darstellen‘.“

Argumentation auf Grundlage von Tauschhandel

Vor allem aber wird Mitchell und Mosler nicht nur von Keen, sondern auch von Richard Murphy vorgeworfen, dass sie mit der These von den Exporten als realen Kosten und den Importen als realem Nutzen – neoklassischer Tradition folgend – auf der Basis von reinem Tauschhandel argumentieren.

Dazu muss man wissen, dass in der traditionellen realen Außenhandelstheorie monetäre Prozesse keine wichtige Rolle spielen; auch die Weltwirtschaft wird mithin als eine weltweite Tauschwirtschaft betrachtet. In neoklassischer Denkweise über den Tausch im Allgemeinen (auf nationaler wie auf internationaler Ebene) verzichtet der Verkäufer einer Ware oder Dienstleistung auf den möglichen Nutzen ihres Konsums, um stattdessen Einnahmen zu erhalten. Das heißt, er gibt etwas mit potenzieller Nützlichkeit für ihn selbst auf.

Dass eine solche Herangehensweise zur Darstellung des Tausches in einer fortgeschrittenen kapitalistischen Wirtschaft nicht geeignet ist, wissen wir bereits seit Marx. In einer solchen Wirtschaft werden Güter nicht mit der Absicht produziert, sie entweder zu konsumieren oder sie zu verkaufen, wenn "der Preis stimmt", sondern mit dem Ziel, sie zu verkaufen. Marx kritisierte an den Vorläufern der neoklassischen Ökonomik, dass sie eine Art von Austausch beschreiben, wie er vielleicht bei anfänglichen Kontakten zwischen zwei fremden Gemeinwesen ohne eine vorherige Geschichte des Handels auftritt.

Wenn jedoch der Handel erst einmal etabliert sei, werde zumindest ein Teil der von jeder Gesellschaft produzierten Güter speziell für den Zweck des Austausches produziert. Die Ware, die der Produzent herstelle, habe für ihn keinen unmittelbaren Gebrauchswert, sie habe Gebrauchswert für andere: „Alle Waren sind Nicht-Gebrauchswerte für ihre Besitzer, Gebrauchswerte für ihre Nicht-Besitzer“ (Marx 1973, S. 100). Der wirkliche Nutzen einer Ware für den Produzenten bestehe darin, dass er sie mit Gewinn verkaufen könne. In Marx‘ Worten:

„Im Laufe der Zeit muß daher wenigstens ein Teil der Arbeitsprodukte absichtlich zum Behuf des Austausches produziert werden. Von diesem Augenblick befestigt sich einerseits die Scheidung zwischen der Nützlichkeit der Dinge für den unmittelbaren Bedarf und ihrer Nützlichkeit zum Austausch. Ihr Gebrauchswert scheidet sich von ihrem Tauschwerte“ (Marx 1973, S.103).

Wie auch Keen feststellt, weicht das deutlich von der Art und Weise ab, wie die neoklassische Ökonomik den Handel darstellt. Diese hält nämlich an der Vorstellung fest, dass die vom Verkäufer angebotenen Produkte Dinge sind, die er selbst nutzen könnte, wenn sie nicht verkauft würden – dass der Verkäufer also auf einen gewissen subjektiven Nutzen verzichtet, wenn er einen Verkauf tätigt.

Letztendlich folgt Mitchell dieser Sichtweise, wenn er über Exporte und Importe spricht: „Exporte bedeuten, dass wir etwas Reales an Ausländer abgeben müssen, das wir selber nutzen könnten“. Das ist nicht korrekt: Wenn der Export nicht stattfände, würde die Ware – z.B. ein Auto – gar nicht erst produziert (und verkauft) und der Auslastungsgrad des Automobilunternehmens wäre geringer.

Onshore- und Offshore-Geldschöpfung

Aber was ist mit dem oben erwähnten „Triffin-Dilemma“? Sind die Leistungsbilanzdefizite der USA tatsächlich unabdingbar, um die Welt mit genügend Dollar zu versorgen? Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Emittent der Reservewährung – also die USA – die Währung nicht nur über die Leistungsbilanz (z. B. ein Handelsbilanzdefizit), sondern auch über die Kapitalbilanz (Kreditvergabe) bereitstellt.[3]

Vor allem aber lässt die Behauptung der unerlässlichen US-Leistungsbilanzdefizite gänzlich das Offshore-Finanzsystem außer Acht, das es Geschäftsbanken ermöglicht, Verbindlichkeiten (Einlagen, aber auch andere kurz- und langfristige Finanzinstrumente) in einer anderen Währung als ihrer Landeswährung auszugeben. Theoretisch können Finanzinstitute am sogenannten „Eurodollar-Markt“ Einlagen in jeder Fremdwährung kreieren, aber in der Praxis sind es zumeist US-Dollar-Einlagen.

Zum besseren Verständnis ist es vielleicht sinnvoll, an die Funktionsweise der Geldschöpfung zu erinnern: Wie schon oft auf MAKROSKOP beschrieben (z. B. hier und hier), müssen sich Banken nicht vorab von Kunden oder von der Zentralbank Geld beschaffen, um ein Darlehen gewähren zu können. Vielmehr erzeugen sie bei jeder Kreditvergabe per Buchungssatz zusätzliche Einlagen. Das heißt, dass eine Bank, wenn sie einen Kredit gewährt, die damit verbundene Gutschrift für den Kunden als dessen Sichteinlage und damit als eine Verbindlichkeit auf der Passivseite ihrer Bilanz verbucht.

Wenig bekannt ist, dass es neben der Onshore-Geldschöpfung (bei der z.B. US-Banken Geld schaffen, indem sie Kredite an Kreditnehmer in den USA unter Verwendung des US-Dollar als Rechnungseinheit vergeben) auch eine Offshore-Geldschöpfung gibt. Eine solche Offshore-Geldschöpfung findet statt, wenn Institute, die rechtlich im Währungsgebiet eines Staates ansässig sind, Geldinstrumente ausgeben, die auf die Rechnungseinheit eines anderen Staates lauten. So kann beispielsweise eine französische Bank in London einem chinesischen Kreditnehmer einen US-Dollar-Kredit gewähren und im Zuge dessen auf US-Dollar lautende Einlagen außerhalb der Vereinigten Staaten schaffen (Murau/van `t Klooster 2023, S. 1323).

Einschränkend ist allerdings festzustellen: Wenngleich Nicht-US-Banken US-Dollar-Einlagen erzeugen können, müssen sie dennoch „reale US-Dollar“ (in Form von Zentralbankgeld) für Barabhebungen und das Interbanken-Clearing – die Aufrechnung und Saldierung der Positionen mit anschließendem Zahlungsausgleich der Nettobeträge – beschaffen, die nur vom Zentralbanksystem der USA oder dem US-Finanzministerium stammen können. Das heißt, dass das Offshore-System ohne eine Verbindung zum Onshore-System nicht funktionieren würde.

Dennoch: Wie die US-Banken selbst schaffen auch Nicht-US-Banken in US-Dollar denominierte Verbindlichkeiten „aus dem Nichts“. Nicht-US-Banken, die auf dem Eurodollar-Markt agieren, sind also nicht reine Finanzintermediäre zwischen auswärtigen Dollar-Sparern und Dollar-Kreditnehmern. Ihre Fähigkeit, auf Dollar lautende Verbindlichkeiten zu emittieren, ist unabhängig von der Höhe der US-Dollar-Einlagen außerhalb der Vereinigten Staaten.

Wer stützt das Offshore-Finanzsystem?

Wir können an dieser Stelle weder auf die Entstehungsgeschichte des Offshore-Finanzsystems, das in den 1950er Jahren in London seinen Anfang nahm (Binder 2023, S. 24ff), noch auf die Vielzahl der damit verbundenen Probleme eingehen. Nur so viel: Eines der größten Probleme ist, dass die Eurodollar-Transaktionen unreguliert sind und keine Unterstützung durch einen offiziellen Kreditgeber der letzten Instanz erfahren – also durch eine Zentralbank, die in einer Krise den Finanzinstituten auf Anfrage Reserven („unbares“ Zentralbankgeld) zur Verfügung stellt. Hier sprang beispielsweise in der globalen Finanzkrise 2008 die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) in die Bresche, die mittels sogenannter Zentralbank-Swaps 600 Milliarden US-Dollar bereitstellte, um den Eurodollar-Markt zu stabilisieren (Binder 2020, S. 6). Das heißt, die Fed lieh anderen Zentralbanken – etwa der Europäischen Zentralbank (EZB) – für eine kurze Zeit (meist wenige Monate) US-Dollar.

Zentralbank-Swaps sind Transaktionen auf Basis von Swap-Lines – das sind Vereinbarungen zwischen zwei Zentralbanken zum befristeten Tausch ihrer Währungen. Nimmt eine ausländische Zentralbank ihre Dollar-Swap-Line bei der Federal Reserve in Anspruch, verkauft sie einen bestimmten Betrag ihrer eigenen Währung an die Fed und erhält im Gegenzug US-Dollar – in der Regel zum aktuellen Marktwechselkurs. Gleichzeitig wird eine Rücktauschvereinbarung getroffen: Die ausländische Zentralbank verpflichtet sich, zu einem festgelegten zukünftigen Termin denselben Betrag ihrer Währung zum gleichen Wechselkurs zurückzukaufen. Die ausländische Zentralbank – beispielsweise die EZB – kann mit den auf diese Weise geliehenen US-Dollar den Banken helfen, die mit Liquiditätsengpässen in US-Dollar zu kämpfen haben.

Die Fed wurde damit indirekt zum Kreditgeber der letzten Instanz für Nicht-US-Banken, stützt in dieser Rolle bei Bedarf das Offshore-Finanzsystem und legitimiert so die Schöpfung von US-Dollar-Einlagen außerhalb US-amerikanischer Regulierung (Binder 2024).

Zum Umfang des Offshore-Finanzsystems

Nun mögen manche Leser(innen) vermuten, dass es sich bei dem Offshore-Finanzsystem um ein Randphänomen handelt, das vielleicht das erwähnte „Triffin-Dilemma“ gar nicht grundsätzlich in Frage stellt. Doch das ist weit gefehlt. So schätzen Binder et al. (2025) unter Anwendung einer neuartigen Messmethode auf Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) den Gesamtbetrag an unreguliertem Offshore-Geld in der internationalen Wirtschaft auf 75,8 Billionen US-Dollar. Davon bilden 11,4 Billionen US-Dollar den Kern des Systems (Kredite und Anleihen) und 64,4 Billionen US-Dollar entfallen auf die Peripherie des Systems (Offshore-Dollar-Derivate). Insgesamt werde damit das Volumen der regulierten grenzüberschreitenden US-Dollar-Instrumente übertroffen.

Das Fazit ist eindeutig: Anders als im „Triffin-Dilemma“ unterstellt, müssen die USA nicht allein die Welt mit US-Dollar versorgen und ebenso wenig den „Nachschub“ auf dem Eurodollar-Markt sicherstellen.

Die Konsequenzen für den Zollstreit zwischen USA und EU

Donald Trumps konfrontativer Kurs im Zollstreit mit der EU, bei dem er vor Drohungen und Provokationen nicht zurückschreckt, ist zweifellos schwer zu ertragen. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass die anhaltend hohen Leistungsbilanzdefizite der Vereinigten Staaten tatsächlich ein großes Problem für das Land darstellen. Versuche, diese Defizite damit zu rechtfertigen, dass sie den Wohlstand in den USA mehren und/oder die Welt mit den dringend notwendigen US-Dollar versorgen, können – wie gezeigt – nicht überzeugen.

Statt auf Trumps Zollpolitik mit Gegenmaßnahmen zu reagieren und damit eine weitere Eskalation des Handelskonflikts zu riskieren, sollte die EU einen kooperativen Ausweg suchen: Sie könnte etwa den USA – im Gegenzug für eine Senkung der bereits in Kraft getretenen US-Zölle – ihre Mithilfe beim Abbau des US-Leistungsbilanzdefizits anbieten, und zwar durch eine gezielte Stärkung der inländischen Nachfrage in den europäischen Leistungsbilanzüberschussländern. Eine deutliche Ankurbelung der Wirtschaft der Überschussländer könnte bei steigenden Importen (die Importnachfrage wird stimuliert, wenn das Volkseinkommen steigt) die Exportchancen der USA verbessern und damit längerfristig zu einer Reduzierung des US-Defizits im Handel mit der EU beitragen. Das wäre kein Einknicken vor Trump, sondern ein überfälliger Schritt zu einem ausgewogeneren Wachstumsmodell vor allem in Deutschland – weg von der einseitigen Exportorientierung, hin zu mehr Binnennachfrage.

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[1] Die Leistungsbilanz setzt sich als Teil der Zahlungsbilanz aus dem Warenhandel, den Dienstleistungen, den Primäreinkommen und den Sekundäreinkommen zusammen. Der wichtigste Posten in der Leistungsbilanz ist in der Regel die Handelsbilanz, also die Differenz zwischen Warenexporten und Warenimporten. Die Dienstleistungsbilanz dokumentiert unter anderem Reisen, Transportleistungen, IT-Dienstleistungen und Finanzdienstleistungen. Die Teilbilanz der Primäreinkommen erfasst grenzüberschreitende Transaktionen aus Erwerbstätigkeit und Vermögensanlagen (Zinsen und Dividendenzahlungen, Erträge aus Direktinvestitionen etc.). Und schließlich werden unter den Sekundäreinkommen regelmäßige grenzüberschreitende Zahlungen gezeigt, denen keine unmittelbare Leistung der anderen Seite gegenübersteht (Überweisungen der im Inland beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer in ihre Heimatländer, Zahlungen des Staates an internationale Organisationen usw.). Etwas vereinfacht ausgedrückt zeigen mithin Leistungsbilanzdefizite an, dass das entsprechende Land mehr Waren und Dienstleistungen konsumiert als produziert hat, also seine Importe die Exporte übertreffen. Wenn dagegen ein Land Leistungsbilanzüberschüsse verzeichnet, dann konsumiert es weniger, als es produziert hat. Das heißt, seine Exporte übertreffen die Importe.
[2] Ein besonders augenfälliges Beispiel hierfür ist die Raumfahrt mit ihren Mond-Missionen: Während der US-amerikanischen NASA Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre noch eine (bemannte) Mondlandung nach der nächsten glückte (mit einer Ausnahme), scheiterte in den letzten 20 Jahren rund ein Drittel der (unbemannten) Mond-Missionen verschiedener Länder teilweise oder ganz – und dies trotz des immensen technischen Fortschritts in der Zwischenzeit. Ein wesentlicher Grund ist das verloren gegangene Wissen: Mehrere Jahrzehnte lang bestand weltweit wenig Interesse an Mondlandungen. Jetzt sind die damals involvierten Forscher und Ingenieure alt oder nicht mehr am Leben und können mithin ihr Wissen und ihre Erfahrungen nicht mehr einbringen. Ulrich Walter, Professor für Raumfahrttechnik an der TU München und früherer Astronaut, bringt es so auf den Punkt: „Wir fangen heutzutage praktisch wieder bei null an“ (zitiert nach Welt vom 17.01.2024).
[3] Der Unterschied liegt darin, dass bei Leistungstransaktionen stets die Leistungs- und die Kapitalbilanz berührt werden, die Buchung reiner Finanztransaktionen dagegen ausschließlich in der Kapitalbilanz erfolgt.