Rettet die Vielfalt!
Ein Plädoyer für mehr Eigensinn und Gemeinsinn zugleich.
In Augsburg gibt es die Fuggerei. Das ist eine der ältesten Sozialsiedlungen der Welt. Jakob Fugger, der Reiche, ließ diese Siedlung 1521 bauen. In 140 Wohnungen wohnen auch heute noch bedürftige Augsburger. Sie zahlen nur 88 Eurocent im Jahr pro qm Miete. Dafür müssen sie drei Mal am Tag zum katholischen Gott beten. Das kann man für eine gute Sache halten.
Die Touristen dürfen eine mittelalterlich eingerichtete Wohnung begutachten und werden in einem Museum über dies und das aufgeklärt. Das Museum lässt uns wissen, dass es damals eine „Vielfalt der städtischen Gesellschaft“ gab. Die „diversity in civic society“ zeige sich in einer Einwohnerschaft, die „Bettler, Tagelöhner, Bedienstete und Handwerker ebenso wie Kaufleute, Handelsherren, Gelehrte, Kirchenleute und Patrizier“ umfasse. Die Ständegesellschaft wird dem modernen Zeitgenossen als „diversity“ verkauft. Die soziale Immobilität und Ungleichheit des Mittelalters verschwinden in historisch nicht informierten Marketingphrasen, die nur eins zeigen wollen: Wir sind zeitgeistig, und der Zeitgeist war schon immer divers.
„Dieser Sommer wird bunt“, verspricht ein Tourismusblättchen. Die buntqueere Bewegung ist mitten in der Gesellschaft angekommen, zumindest bei Verwaltungen und Unternehmen. Die Menschen selbst sind sich da nicht so sicher. Es reicht von einem „Endlich wird Deutschland divers!“ über ein „Ist mir egal!“ und „Dazu sage ich lieber nichts“ bis zu offenen Beschimpfungen, die tendenziell aus der rechten Ecke kommen. Das Gendersternchen und ähnlich schwer rezipierbare Veränderungen der Sprache stören viele – auch aus der linken Ecke. Man hält aber lieber den Mund, beugt sich dem Zeitgeist, um nicht als rechts beschimpft zu werden. Das ist gefährlich. Duckmäusertum war noch nie eine demokratische Tugend.
Hier eine Kritik, die dezidiert nicht aus der rechten Ecke kommt. Meine These ist, dass die Gender-, Vielfalts- oder Identitätstheoretiker mit ihrem angeblichen Kampf für diversity die Voraussetzungen menschlicher Individualität zerstören.
Sprache macht Freiheit und Selbstbestimmung erst möglich
Die Sprachphilosophie der Identitätstheoretiker ist von Michel Foucault (damit letztlich von Nietzsche) geprägt. Sprache ist für diese Theorie immer und nur Macht. Wenn einem Jungen gesagt wird, dass er ein Junge ist, dann ist das eine Form der Machtausübung. Er wird in ein soziokulturelles Konzept gezwängt, ohne dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, selbst zu bestimmen, wer er ist und sein möchte.
Richtig ist, dass Spracherwerb immer mit der Aneignung kulturellen Wissens verbunden ist, das die Welt durch eine bestimmte Brille betrachtet. Aspekte der Welt werden in der Sprachaneignung akzentuiert und differenziert, andere hingegen ausgeblendet und nicht wahrgenommen. Andere Möglichkeiten der Weltsicht gehen verloren. Hinzukommt, dass Spracherwerb ganz wesentlich mit Geboten und Verboten, mit Ansagen, was erlaubt ist und was nicht, was richtig und was falsch ist, verbunden ist. Kindlicher Spracherwerb und kindlicher Erwerb der sozialen Normen und Werte einer Gesellschaft sind dasselbe. Insofern ist Sprache ein Machtinstrument.
Spinnt man diesen Gedanken der Identitätstheorie zu Ende und will man eine machtfreie Erziehung, müsste man dafür plädieren, dass jedes Kind seine eigene Sprache entwickeln oder eine vorgefundene Sprache auf seine besondere Weise aneignen muss, um seine besondere Identität zu finden. Aller Einfluss von außen stellt eine Verstümmelung des sich selbst schaffenden Subjekts dar. So weit geht hoffentlich niemand.
Denn Sprache kann man nicht alleine lernen, es bedarf immer Dritter, die die regelkonforme Verwendung eines Ausdrucks bestätigen. Ohne das ist im Hirn nur Durcheinander.
Gegenüber dem identitätstheoretischen eindimensionalen Sprachverständnis muss man die Ambivalenz von Sprache betonen: (Kindlicher) Spracherwerb bedeutet nicht nur Machtausübung Dritter, Sprache ist auch die Voraussetzung dafür, dass Vernunft in die Welt und in den kindlichen Kopf kommt. Sprache ist Voraussetzung dafür, dass ich Freiheit erlange. Erst wer eine Sprache lernt, ist in der Lage seine Bedürfnisse zu formulieren, mit anderen die Regeln des Miteinander auszuhandeln und argumentativ darüber zu streiten, was denn der Fall ist.
Eine gelungene Sozialisation vermittelt den Heranwachsenden konkrete Normen, Werte und Traditionen einer Gesellschaft. Sie gibt ihnen aber auch die Kompetenz mit, sich von dem vermittelten Konkreten zu lösen. Im Laufe der Entwicklung macht der junge Mensch sich in modernen Gesellschaften auf die Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen. Vor dem Forum der im jungen Erwachsenen heranreifenden Vernunft müssen sich die Traditionen behaupten können. Der solide Sockel aus tradierten Werten und Normen gibt dem Kind und auch dem Erwachsenen Sicherheit.
Jede Tradition, die nicht in Frage gestellt werden muss, macht das Leben leichter, aber sie muss immer in Frage gestellt werden, wenn sie der Wahrheit im Wege steht. Das riecht nach viel Emphase, der Streit ums Wahre und Gute ist aber immer noch das Fundament moderner Gesellschaften trotz aller postmoderner Phraseologie. Menschen könnten in einer posttraditionalen Gesellschaft, in der wir heute leben, ansonsten gar nicht zusammen leben und arbeiten. Sprache steht nicht Freiheit und Selbstbestimmung im Wege, sondern macht beides erst möglich. Diese Einsicht fehlt der Identitätsbewegung.
Die Wahrheit hängt nicht in irgendeinem philosophischen Himmel. Sie ist kein goldener Schatz, nach dem wir in der tiefen Erde graben müssen. Sie ist das immer vorläufige und revidierbare Ergebnis eines diskursiven Streites, der um den Universalismus nicht herumkommt. Wer nach einer kasuistischen Moral lebt, die für alle Fälle des Lebens eine konkrete Anleitung zum richtigen Handeln hat, entwickelt keine Individualität. Man ist nur die Vollstreckerin von Vorgegebenem. Die Orientierung an der hochabstrakten Suche nach dem Wahren, Guten und Schönen löst mich von konkreten Normen und Vorgaben einer Gesellschaft und eröffnet mir zugleich die Möglichkeit, meinen besonderen Weg zu finden. Universalismus und Individualismus sind zwei Seiten einer Medaille.
Findet die Identitätsphilosophie zur Individualität?
Facebook hatte schon 2014 für seine Nutzer 60 Geschlechtsvarianten im Angebot. Diese Differenzierungen zeigen vor allem eins: Sie sind für den Unbedarften nicht verständlich. Die Identitätsbewegung will wohl mit solchen Differenzierungen und Differenzierungen der Differenzierungen wieder gut machen, was ihrer Meinung nach die Sprache den Menschen an Gewalt antut: Mit Differenzierungen soll dem Einzelnen und seiner Besonderheit Gerechtigkeit widerfahren.
Die Universitätskliniken in Brighton and Sussex haben 2021 entschieden, „genderneutral“ zu werden. Schwangere sind nicht mehr werdende Mütter, sondern „Mütter und andere gebärende Personen“. Es wird nicht mehr von Muttermilch geredet, sondern von Menschenmilch – es könnte ja auch ein Mann, bei entsprechender hormoneller Behandlung, oder eine Frau, die sich selbst als Mann definiert, dem Kind Milch geben wollen.
Eine der Entwicklerinnen dieser neuen Sprache, Helen Green, vermerkt in einem Blog, in dem sie eine Vielzahl von neuen Wörtern vorstellt, dass diese Auflistung einer permanenten Revision unterliegt und nicht als abschließend betrachtet werden darf. Sie beschreibt damit sehr schön, was dieser Prozess der künstlichen Sprachveränderung ist: Es ist ein unendliches Projekt, das sich in seinen Klassifizierungen und Differenzierungen verheddern wird. Die eine Klassifizierung erscheint dem einen als passend, eine andere fühlt sich diskriminiert, weil sie sprachlich nicht berücksichtigt ist. Die Alltagssprache verändert sich zwar permanent, aber eine solche verordnete Veränderung überfordert die Sprachgenossen und kann nur zu Widerstand führen. Die Identitätsbewegung will der Sprache etwas abtrotzen, was sie nicht leisten kann: den Ausdruck, der das ganz Besondere, das Einzigartige benennt. Herauskommt dabei nur ein Wirrwarr von Klassifikationen.
In der Literatur ist das Verhältnis der Identitätsbewegung zum Universalismus umstritten: Die einen sagen, sie war und ist universalistisch angelegt (Karsten Schubert, Lob der Identitätspolitik), andere werfen ihr vor, dass sie es nie war (Bernd Stegemann, Identitätspolitik) oder dass sie den einst universalistischen Pfad der Tugend verlassen hat: Der queere Autor Jens Balzer („After woke“) war geschockt von der Reaktion der queeren Bewegung auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf unschuldige israelische Bürger. Die Queeren („queers for palestine“) solidarisierten sich uneingeschränkt mit der Hamas. Die Grausamkeit des Überfalls und das Leid der israelischen Opfer werden ignoriert. Jens Balzer hat sich in Folge von der woken Bewegung losgesagt. Sie habe ihre universalistischen Ursprünge verraten. Wie konnte es dazu kommen?
Man kann dafür unterschiedliche Erklärungen finden. Eine könnte sein, dass die Verquickung der woken Bewegung mit der critical race theory dazu beigetragen hat. Diese Theorie will die Verhältnisse auf den Kopf stellen. War früher der weiße Mann der Unterdrücker aller anderen Rassen und Kulturen, so hat nun die Stunde der „anderen“ geschlagen und es gilt erbarmungslos zurückzuschlagen. Zu diesen anderen gehören auch Islamisten. Während der weiße Mann immer Rassist ist, ist es der Islamist nie. Israel ist in diesem Weltbild der Repräsentant des weißen Mannes im Nahen Osten und hat keine Gnade verdient. Dem weißen Mann werden seine Menschenrechte aberkannt (siehe dazu auch der Cicero).
Meines Erachtens muss die Erklärung, warum die Identitätsphilosophie ihre universalistische Herkunft verloren hat, grundsätzlicher ansetzen: Die Konsequenz der identitätsphilosophischen Theorie ist, dass alle Menschen in einen Kokon eingesponnen werden. Jeder Mensch muss in seiner Besonderheit geschützt werden. Sein Handeln und Denken darf nicht hinterfragt werden. Jeder hat das Recht seine besondere Identität zu bewahren. Das Ergebnis ist eine Hypersensibilität für die eigenen und eine Desensibilisierung für die Belange der anderen. Alles Fremde wird als Bedrohung empfunden. „Achtung! Triggerwarnung!“: Wenn selbst Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in den USA vor vielen Jahren schon als Gefahr fürs Selbst angesehen wurde, dann bleibt einem wohl nur, sich um sich selbst zu drehen. Aber schon Karl Valentin sagte: „Heute in mich gegangen. Auch nichts los.“ Die Identitätsbewegung schafft keine Individuen, sondern leere Klone der gerade aktuellen Mode. Und Toleranz und Empathie gehen verloren.
Woke Selbstermächtigung – oder: „Anything goes!
Diese radikale Selbstzentrierung wird nirgends besser gefördert, als wenn mir als Kind gesagt wird, dass ich mein Geschlecht selbst definieren darf. Dann werde ich als Herrscher über Gott und Natur inthronisiert. Mein Körper gehört nicht nur mir, sondern er ist das, wozu ich ihn erkläre. Wenn Sprache Macht ist, dann – so wohl die Logik – gewinne ich Macht zurück, wenn ich selbst definiere, was ist und was nicht ist. Es ließe sich wahrscheinlich eine Entwicklungslinie von christlich-neuzeitlicher Körperfeindlichkeit bis zur woken Selbstermächtigung ziehen, die als eine Geschichte der fortschreitenden Entfremdung vom Körper geschrieben werden könnte.
Wenn Kinder nicht im Schutz von für eine Gesellschaft Selbstverständlichem (Traditionen) aufwachsen – wovon sie sich in ihrer Entwicklung lösen können und oft müssen –, wenn ihnen von Anfang an zugerufen wird: „Anything goes! Du bist der Kreator deines Lebens!“, dann entstehen entweder unerreichbare Narzissten oder die Kinder sind verloren, weil sie orientierungslos durch Raum und Zeit irren. Wenn die Welt da draußen immer das Fremde ist, das ich von mir fernhalte, wenn es nicht die Herausforderung ist, an der ich mich abarbeite, dann ist mir der Weg zur Persönlichkeitsbildung verschlossen. Welterschließung und Selbsterschließung gehören zusammen.
Wer aus dem Kokon schlüpft und den Raum der guten Gründe betritt, muss sich mit anderen Weltinterpretationen auseinandersetzen. Die selbstverständliche Annahme des Gesprächs ist dabei immer, dass es nur eine Welt gibt. Es gibt Konsens und Dissens zwischen den Diskutanten und Revisionen des als sicher Gemeinten gibt es öfter, als uns allen lieb ist. Und jeder von uns musste schon einmal die frustrierende Erfahrung machen, dass er mit seinen doch so guten Argumenten die anderen nicht erreichen kann. Wir bekommen Rückmeldungen von den anderen über unser Verhalten und über unsere Gefühlsäußerungen. Dies kann dazu beitragen, dass wir mehr über uns selbst erfahren. Wir buchstabieren aus, welche moralischen Regeln universell gelten müssen (es sind wahrscheinlich nur wenige) und welche zu unserem besonderen Lebensstil gehören. In diesem Prozess lerne ich nicht nur die Welt und die Gesellschaft kennen, sondern kann auch meine Position, meine Bedürfnisse, meinen Lebensplan finden.
Doppelpunkt und Gendersternchen kommen so harmlos daher. Dahinter steckt aber eine sehr bestimmte Sicht auf die Welt, insbesondere der Geschlechter. Schon die Vertreterin des Binnen-Is macht sich bei den Vielfaltstheoretikern verdächtig, steht doch das I für die gestrige Zweigeschlechtlichkeit, während die Sternemacher sich für die gesamte Vielfalt der Geschlechter einsetzen. Ich möchte keine Diskussion darüber führen, wie viele Geschlechter es gibt. Dafür fehlt mir die Kompetenz. Wer da auf Natur und Kultur mit welcher ideologischen Brille und welchen Vorurteilen guckt, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht ist die Zweigeschlechtlichkeit eine gesellschaftliche Konstruktion, aber darf eine Gesellschaft nicht mit ihren Konstruktionen leben? Die Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft hält an der Zweigeschlechtlichkeit fest. Das wird sich so schnell nicht ändern. Es gehört zur „diversity“ einer Gesellschaft, dass es in ihr Gruppen gibt, die das queere Weltbild ablehnen. Nicht jeder, der daran Zweifel hat, dass es viele Geschlechter „gibt“ (was immer das genau heißt), ist ein demokratieloser Rechter.
Von der Mehrheitsgesellschaft ist aber Toleranz denjenigen gegenüber zu erwarten, die sich nicht in diesem binären Raster aufgehoben fühlen, wie von diesen zu erwarten ist, dass eine Gesellschaft ihre Sprache und ihre Bürokratie (man denke an den Gendereintrag) nicht den Bedürfnissen einer kleinen Minderheit unterwirft.
Verkörpert die queere Bewegung die Vielfalt der Gesellschaft? Natürlich nicht! Die queere Vielfalt ist eine monothematische Bewegung, die um Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung kreist. Es ist eine internationale Community, die in den letzten Jahrzehnten laut um Aufmerksamkeit gekämpft und auch berechtigterweise auf Missstände von Diskriminierung hingewiesen hat. Sie ist aber nur eine gesellschaftliche Gruppe neben vielen anderen. Andere Bürger mögen damit nichts zu tun haben wollen oder sie lehnen das queere Weltbild der vielen Geschlechter ab. Und für viele Bürger oder soziale Gruppen sind andere Themen wichtiger als der Kampf für mehr Queerität in der Gesellschaft. Nur wechselseitige Toleranz kann uns vor der einen oder der anderen Verhärtung bewahren.
Zurück zum generischen Maskulinum?
Linguisten werden nicht müde zu betonen, dass mit dem generischen Maskulinum „alle“ gemeint sind. Die Verteidiger des generischen Maskulinums sollten aber nicht vergessen, dass es kein Zufall ist, dass unsere generischen Ausdrücke in der Regel männlich sind. Unsere patriarchalische Geschichte lässt grüßen.
Wahrscheinlich haben wir im Augenblick nichts Besseres als das generische Maskulinum. Wir können davon ausgehen, dass die Genderzeichen aus der Sprache wieder verschwinden. Aber vielleicht können wir dem Anliegen der Genderbewegung (Sichtbarmachung verschiedener Geschlechter) entgegenkommen, indem jeder in Texte nach Lust und Laune kleine Sprachinnovationen oder Sprachirritationen einbaut. Da ist dann Fantasie gefragt – und vielleicht findet sich etwas, das im Laufe der Zeit gerne in der Alltagssprache sein Zuhause findet. Diese Zeichen fungieren wie kleine Taschenlampen, die mit ihren schwachen Lichtkegeln aus einer fernen Zukunft leuchten – aus einer Zukunft, in der „alle“ Geschlechter ihren lustvollen Frieden gefunden haben; aus einer Zukunft, in der die Sprache egal ist, weil die Menschen im Leben zueinander gefunden haben.
Letztlich ist Sprache nicht entscheidend. Dem Wolf im Genderpelz, der aus Konformismus oder Kalkül brav sein Sternchen oder seinen Doppelpunkt setzt, letztlich aber nichts an formellen oder informellen Machtverhältnissen in Betrieb oder Alltag ändern will, gehört das Handwerk gelegt.
Und nun?
Europa gibt sich kämpferisch. Es will die Demokratie Zuhause retten und (immer noch) in die Welt tragen, aber eigentlich ist es verunsichert. Glaubte man früher, dass Demokratie die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg und Wohlstand ist, sehen wir heute Asien an uns vorbeiziehen. In diesen Kulturen geht die Gemeinschaft vor, Individualität und Demokratie sind nur sekundäre Werte, die im Zweifel nicht zählen.
Wir sollten schauen, was wir von diesen Kulturen lernen können, ohne unsere Identität aufzugeben. Vielleicht kann Europa seine Verunsicherung überwinden, wenn wir es schaffen einen nicht narzisstischen, also lernfähigen Eigensinn und einen Gemeinsinn zu vereinen. Vielleicht schaffen wir es, wenn wir auf der einen Seite anerkennen, dass wir unsere jeweilige Einzigartigkeit wesentlich der (gelungenen) Sozialisation in einer modernen Gesellschaft verdanken.
Wir sind also nicht – wie der libertäre Irrglaube annimmt – allein und in erster Linie der Schmied unseres glücklichen Lebens. (Das befreit die Einzelne freilich nicht davon, ab einem bestimmten Punkt des Lebensweges die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.)
Wenn Gemeinsinn und Eigensinn „wunderbar“ in den Bürgern und Bürgerinnen vereint sind, dann verliert auch die Durchschnittsgesellschaft die Angst vor allen sich besonders Gerierenden – weiß sie doch, dass jeder sich seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft bewusst ist, weil jeder weiß, dass er ohne diese Gesellschaft nichts wäre.
Wir stehen also vor dieser doppelten Aufgabe: echte Individualität zu ermöglichen und echten Zusammenhalt. Hier müssen Erziehung und Bildung ansetzen. Wenn die Individuen konsequent lernen, dass sie das, was sie sind, nur zum kleineren Teil sich selbst verdanken, dass sie das, was sie sind, ohne den Entwicklungsstand der Gesellschaft, in der sie leben, nicht wären – dann besteht die Chance, dass aus einer Gesellschaft von Egoshootern doch noch was Gutes wird. Ansonsten fährt Europa (darf man die USA noch einschließen?) sich selbst vor die Wand – vor die Wand, hinter der die Asiaten in aller Ruhe an ihrem Konzept von guter Gesellschaft arbeiten.
Darf so viel Utopie in diesen dystopischen Zeiten sein, in denen Europa und seine Demokratien sich selbst zerlegen? Es muss sein.