Editorial

Inflation steuern oder Steuern senken?

| 28. Juli 2021
istock.com/federico cardaio

Liebe Leserinnen und Leser,

spätestens mit der Auflage des sogenannten „Securities Markets Programme“ im Jahr 2010 hat sich die „Geldpolitik“ der EZB grundlegend verändert. Seither haben die monetären Interventionen der EZB einen fundamental anderen Charakter und auch eine andere Funktion. Das Wort „Geldpolitik“ ist nur noch eine Reminiszenz an das formale Mandat der EZB. Was nichts anderes heißt, als dass die Mandatsüberschreitung verschleiert werden soll.

Der veränderten „Geldpolitik“ hat die Zentralbank jüngst auch formal Rechnung getragen, in dem sie ihre Leitzinsstrategie neuformulierte, um weiter an Null- und Negativzinsen festzuhalten. Das Inflationsziel wurde dabei von 1,9 auf 2 % angehoben. „Die EZB ist auf dem Weg in den ewigen Nullzins“, titelte die WirtschaftsWoche.

Gleichzeitig geht der Trend bei den Erzeuger- und Verbraucherpreisen schon seit August 2020 nach oben. In der Eurozone lagen erstere im Mai 9,6 % höher als im Vorjahresmonat. Entsprechend stiegen auch die Verbraucherpreise in der Eurozone, im Mai lag die Inflationsrate mit 1,9 % weiter nahe der neuen Zielinflationsrate der EZB.

Höhere Rohstoffpreise infolge der anziehenden Weltkonjunktur, Lieferengpässe und Sondereffekte wie der Wegfall der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung sowie die CO2-Bepreisung in den Bereichen Verkehr und Wärme gelten als Treiber. Und schon streiten einige Chefvolkswirte wieder über eine drohende Inflationsspirale, die die EZB geflissentlich in Kauf nehme. Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank, glaubt etwa Parallelen zu den 60er- und 70-Jahren zu sehen. Auf längere Sicht könne sich eine zu große Staatsverschuldung aufbauen, die wiederum Inflation nach sich zieht. Seien die Staaten aber zu hoch verschuldet, könne es passieren, dass die EZB nicht frei ist, zu einer strafferen Geldpolitik überzugehen, um die finanzielle Stabilität der Euro-Zone zu sichern, warnt Holstein.

Doch hat die EZB überhaupt die Mittel, um die Inflationsrate zu steuern? Angesichts der neuen Realitäten ist es erstaunlich, dass die EZB die Leitzinsen noch immer für das „bedeutendste geldpolitische Instrument" hält. Tatsächlich stellt sich aufgrund der gegenwärtigen systemweiten Überschussreserven (Zentralbankgeldguthaben) auf den Bilanzen der Geschäftsbanken selbst die Beeinflussung von Marktzinsen mithilfe des Leitzinses als unmöglich dar.

Das eigentliche Problem ist, dass sich die Zentralbanken in eine Situation manövriert haben, die es sehr schwer macht, ihre großzügigen Subventionen des Finanzmarkts zu beenden. Mit anderen Worten: eine demokratisch nicht legitimierte Organisation betreibt eine Politik, die sich mit Blick auf das Gemeinwohlinteresse nicht rechtfertigen lässt. Auch ein Grund, warum der Mantel des Schweigens über die "Public-Private-Partnership" zwischen EZB und Finanzmärkten gelegt wird, welche de facto die Perversionen des Finanzkapitalismus auf die Spitze treibt.

Doch während Keynesianer wie Peter Bofinger es weiter mit einer Inflationssteuerung via Geldpolitik halten, glauben andere an Steuersenkungen, die das Wirtschaftswachstum steigern. Vielleicht sind es die zwei beliebtesten Säue, die durchs Dorf der Ökonomik getrieben werden. Die populäre Behauptung, dass eine Flut aus Unternehmenssteuersenkungen alle Boote durch mehr Wachstum anhebt, ist ein Kernelement der "angebotsseitigen" Ökonomie. Nach wie vor hat diese Vorstellung im Geiste der „Reaganomics“ Fürsprecher – einschließlich bürgerlicher und liberaler Parteien in Deutschland, die im Wahlkampf Steuersenkungen als Rezept gegen die Pandemie verkaufen.

Umso interessanter mutet da die Studie der jungen Ökonomen Philipp Heimberger und Sebastian Gechert an. Sie haben nachgewiesen, dass die prominente Rolle, die den Steuersenkungen für Unternehmen in politischen Debatten beigemessen wird, völlig übertrieben ist. Steuersenkungen haben in den letzten Jahrzehnten zwar den internationalen Steuerwettbewerb angeregt, nicht aber das Wachstum gefördert. Das Pikante dabei: Jene Studien, die Steuersenkungen signifikante Effekte für das Wachstum beimessen, haben bessere Chancen, in den einschlägigen wissenschaftlichen Journals veröffentlicht zu werden, als solche, die das nicht tun.