Plädoyer

Wer soll unsere Wählerstimmen bekommen?

| 28. Juli 2021
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Ist Wahlverweigerung eine Option? Den Gedankenspielen unseres Chefredakteurs entgegnet eine Leserin in einem Gastbeitrag. Wer etwas ändern wolle, müsse eine rot-rot-grüne Koalition anstreben. 

Zwei auf ihre Art jeweils sehr engagierte Bücher sind jüngst erschienen: zur sozialen Frage „Die Selbstgerechten“ von Sahra Wagenknecht und zur Klimafrage „Mensch Erde, wir könnten es so schön haben“ von Eckardt von Hirschhausen. Wagenknecht unterzieht die Parteien, die den Anspruch erheben, links zu sein, intensiver Kritik. Hirschhausen erwähnt politische Parteien überhaupt nicht. In beiden Fällen bleibt für die Leser unklar, was für eine Regierung denn in der nächsten Bundestagswahl in die Verantwortung gebracht werden kann, um die jeweils gewünschten Änderungen auf den Weg zu bekommen.

Gleichzeitig beobachte ich in Gesprächen in meiner Umgebung, dass neben Zukunftssorge die Ratlosigkeit ob der Wahlentscheidung tritt. Die Parteienskepsis scheint in Coronazeiten noch zugenommen zu haben.

Auch in der sonst hervorragenden Parteienanalyse von Paul Steinhardt „SchwarzGrün: Es wächst zusammen, was zusammengehört“ fragt sich der Autor am Ende, ob nicht vielleicht Wahlverweigerung eine Option sei.

Kurzum, diejenigen, die für Schritte in die richtige Richtung streiten, mögen keine Wahlempfehlung geben. Schlimmer noch, einige ziehen schweigenden Protest in Erwägung - sprich Wahlverweigerung.

Ich finde, dass es sehr wohl eine positive Antwort auf die Frage nach der richtigen Wahlentscheidung gibt. Hier mein Gedankengang:

Es kann nur zwei Ursachen für die Zurückhaltung bei der Wahlfrage geben. Entweder ist sie Resignation oder Strategie. Handelt es sich um Resignation, gibt es keinen legitimen Grund, diese zu verbreiten. Ist sie Strategie, so habe ich diese bisher jedenfalls nicht verstanden.

Die einzige zielführende Strategie ist es meines Erachtens, links zu wählen (SPD oder Linke) – die Grünen einmal außen vor gelassen, weil sie voraussichtlich genügend Stimmen bekommen werden – und entsprechend auch andere Wähler zu überzeugen. Doch wichtig ist auch noch etwas anderes: Neben der Aufforderung zur Wahlstimmenvergabe muss außerparlamentarisch öffentlicher Druck für eine Koalition „rot-rot-grün“ gemacht werden, und zwar vor und nach der Wahl.

Meine Gründe möchte ich in vier Ausgangspunkten unserer politischen Realität und vier für mich daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen ausführen:

  • Einem Großteil der Bevölkerung (ich zähle mich, meine Familie und viele meiner Freunde mit dazu) wird es mit Sicherheit schlechter gehen, wenn wir in der nächsten Wahlperiode ein „Weiterso wie bisher“ oder sogar eine Vertiefung der klientelorientierten neoliberalen Politik haben. Jeder Tag verfehlter politischer Maßnahmen lässt uns den bereits jetzt gefährlich nah herangerückten Kipppunkten für Klima und Demokratie weiter entgegentreiben.

  • Die aktuelle Parteienlandschaft ist ungünstig ausgerichtet. In den Parteien mit links-progressivem Potential haben Gruppierungen das Sagen, die wichtige linke Forderungen (intensive öffentliche Investitionen im Bereich Verkehr, Gesundheit, Umwelt, Bildung und Wissenschaft, Ordnungsrecht zum Ressourcen- und Klimaschutz, höhere Löhne für untere Einkommensschichten und höhere Steuern für oberste Einkommensschichten, solidarische Welthandelspolitik, rein defensive Militärstrategie) gar nicht oder nur unzureichend aufgreifen.

  • Parteien sind nicht obere Instanzen der Macht, denen wir ausgeliefert wären, sondern weiterhin wichtiger Bestandteil unserer Demokratie mit dem Verfassungsauftrag und der Funktion der politischen Willensbildung und durch die Basis veränderbar. Hinter ihnen stehen und in ihnen befinden sich heterogene Gruppierungen. Die parteiinternen Machtverhältnisse stehen in Wechselwirkung mit der Unterstützung, die die Partei durch Wählerstimmen und Resonanz von der Straße erhält. Es darf also nicht immer nur auf den von der aktuell dominierenden Gruppe gefahrenen Parteikurs geschaut werden. Es ist auch nicht so, dass der Kurs aller Politiker in Stein gemeißelt wäre. Es gibt Parteien und Politiker mit positivem Veränderungspotential und solche, die es definitiv nicht aufweisen.

  • Für Veränderungen braucht es einen breiten Konsens in der Bevölkerung. Kleine Splittergruppen mögen mit ihrer politischen Meinung noch so recht haben. Sie werden jedenfalls in absehbarer Zeit, ohne Anschluss an andere Gruppierungen, nichts erreichen.

Was folgt daraus?

1. Wir brauchen zur nächsten Wahlperiode eine Regierung, die wenigstens ansatzweise in die richtige Richtung lenkt. „Schwarz-grün“ wird das nicht tun. Denn dort fehlt der wirtschaftspolitische Ansatz, den Wohlstand der unteren und mittleren Einkommensgruppen zu heben und Rückgrat gegenüber Konzernen zu beweisen. Gleiches gilt für die große Koalition und die Ampelkoalition. Wir haben keine Zeit, auf eine optimalere Parteikonstellation zu warten. Wir müssen vielmehr gezielt eine authentische linksprogressive Koalition anstreben – durch Wählerstimmen für die Linken und SPD und außerparlamentarischen Druck von der Straße durch Demos, Veranstaltungen etc. Die Koalition, der ich als einziger das Potential für eine positive Veränderung zutraue, ist rot-rot-grün. Lieber „rot-rot-grüne“ Fehler zugestehen als vier Jahre weiteres Zerstörungswerk.

2. Wir müssen uns mit konkreten Forderungen an die reale Parteienlandschaft wenden. Je allgemeiner und ungefährer die Artikulation, desto leichter können sich die Adressaten dem Entziehen und in Nebendebatten ausweichen. Kritik erschöpft sich viel zu oft am nicht mehr korrigierbaren Vergangenen.

3. Positiver Wandel basierte immer schon darauf, dass Menschen sich und andere von einem neuen Weg überzeugt haben. Das kann auch heute gelingen. Denn es gilt nichts anderes, was schon frühere historische Wendepunkte auszeichnete. Wir sollten entschieden für mutige Veränderungen und die richtigen Priorisierungen (Klimaschutz, sozialer Ausgleich zum Schutz der Demokratie) eintreten und dabei den Mächtigen die Zähne zeigen, nicht aber die Parteien und die in ihnen wirkenden Politiker pauschal als korrumpiert ablehnen. Wir müssen genau hinschauen, wo klare Interessenpolitik gegen das Allgemeinwohl betrieben wird, wo politische und volkswirtschaftliche Irrtümer herrschen, wo aber auch Potential zur positiven Veränderung besteht. Fehler sollten öfter verziehen werden, wenn der aufrichtige Wille zum Wandel erkennbar ist.

4. Es darf nicht vergessen werden, dass Wandel Mehrheiten braucht. Deshalb müssen wir Kompromisse machen, Brücken bauen und die Mehrheiten für den linksprogressiven Wandel sammeln, wo wir können. Es müssen alle Willigen mitgenommen werden – und viele von ihnen sind bei den Linken, aber auch bei Grünen und SPD zu Hause. Die Unterstützung von der Straße (Demos, Aktionen, Petitionen, Briefe an Abgeordnete etc. etc.) zählt mehr, als viele von uns glauben mögen. Sie kann Dinge von jetzt auf gleich möglich machen.

SPD und Grüne sollten wir kritisch beäugen, uns aber nicht allein an ihren Fehlern aus der Vergangenheit festbeißen. Die Parteien sind da mit ihren guten Gründungsideen und ihren vielen guten Leuten. Es wäre leichtsinnig, anstelle eine links-progressive Regierung anzustreben, auf Parteineugründungen und Oppositionsarbeit zu setzen. Damit würden kostbare Ressourcen und Zeit verschwendet und auch die Glaubwürdigkeit eines engagierten Kampfes für Klimaschutz und Demokratie würde verschenkt.