Agenda 2010 reloaded
Zu hohe Sozialabgaben belasten die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, heißt es in der Wirtschaftspresse. In Wirklichkeit geht es vor allem darum, wer mit der wachsenden Branche der gesundheitlichen und sozialen Dienste ein Geschäft machen kann.
Die Wirtschaftspresse, allen voran die FAZ, betreibt seit Monaten einen Kampfjournalismus gegen den Sozialstaat. Der von der FDP vom Zaun gebrochene Streit der Ampelkoalition über die Grundsicherung für Kinder und Arbeitsuchende wird zum Anlass genommen, den Sozialstaat als Ursache für Haushaltsdefizite, konjunkturelle Einbrüche und sogar Einschränkungen in der Militärhilfe für die Ukraine und der Ausrüstung der Bundeswehr hinzustellen.
Die Dramaturgie und die Parolen dieser Kampagne ähneln denen vor über zwanzig Jahren, als die Leitmedien zusammen mit Arbeitgeberverbänden und neoliberalen Ökonomen die rot-grüne Koalition mit Parolen von einem Reformstau und einer nicht mehr wettbewerbsfähigen deutschen Wirtschaft vor sich hertrieben. Die Diagnose des Sprachrohrs der Finanzwirtschaft The Economist (03.06.1999), Deutschland sei der „kranke Mann des Euro“ wurde von deutschen Publizisten und Ökonomen übernommen. Kernursache für die Malaise seien die zu hohen Lohnkosten, die vor allem auf die viel zu hohen Sozialabgaben zurückzuführen seien. Sie hätten die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beschädigt und zur sinkenden Binnennachfrage geführt.
Alte Parolen und Stammtischgerede
Auch heute wird der Economist zum Kronzeugen für das Menetekel eines Niedergangs der deutschen Wirtschaft gemacht. Im August 2023 stellte er die Diagnose, die deutsche Wirtschaft brauche wieder eine ähnlich „kräftige Reformdosis“ wie in der Agenda 2010. Diese hätte vor zwanzig Jahren ein „goldenes Zeitalter“ der deutschen Wirtschaft eingeleitet.
Das ist eine steile These, weil von der mit der Agenda 2010 eingeleiteten Politik des Lohnkostendumpings zwar die deutsche Exportwirtschaft profitierte, aber die sozialen Disparitäten größer wurden und das Armutspotenzial durch Kürzungen bei den Renten und der Arbeitslosenunterstützung stieg. Das hat die deutschen Wirtschaftspublizistik schon immer geleugnet.
Sie hat wie vor zwanzig Jahren die Steilvorlage aus London bereitwillig aufgenommen und ein Trommelfeuer auf den Sozialstaat eröffnet. Man beschwört einen „Kollaps der Sozialkassen“ (Die Welt, 15. 08. 2024) herauf, sieht die „Sozialpolitik auf Abwegen“ (FAZ, 16.08.2024) und fordert, wie weiland der Bundespräsident Roman Herzog, einen „Ruck“, der das Land „aus seiner Lethargie reißt“ (FAZ, 17.08.2024). Zur Flankierung werden Interviews mit Leuten wie dem CEO des Versicherungsgiganten München-Re Joachim Wenning gedruckt (Süddeutsche Zeitung, 14.08.2024). Der posaunte hinaus, was beim Lunch im Vorstands-Casino oder an der Bar des 19. Lochs im Golf-Club wohl so geredet wird. Es brauche, so Wenning im modischen Manager-Sprech, „bundesweit eine neue Performancekultur“ und „eine neue Agenda“. Die Deutschen sollten mehr arbeiten und später in Rente gehen, der Kündigungsschutz müsse gelockert und etliche Feiertage sollten gestrichen werden. Auf kritische Nachfragen zu diesem reaktionären Geschwätz verzichtete die SZ, sie hat damit wohl kein Problem.
Seit jeher werden in den wirtschaftspolitischen Leitmedien die gleichen Phrasen von einem die Arbeitsbereitschaft aushöhlenden und zur Vollkaskomentalität führenden Sozialstaat gedroschen und mit Faktenverdrehungen unterlegt:
- Die Begrenzung der Sozialabgaben verbessere die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, senke die Arbeitslosigkeit und fördere den privaten Konsum.
- Die Sozialleistungen seien aufgebläht und kämen auch Leuten zugute, die für sich selbst sorgen könnten. Das Sozialbudget könne man auf ein Drittel kürzen, wenn es nur den wirklich Bedürftigen zugutekäme.
- Der Sozialstaat produziere eine kostspielige Anspruchshaltung, die für die steigenden Sozialausgaben wesentlich verantwortlich sei.
Gefährden steigende Sozialausgaben den Wohlstand?
Eigentlich steht die Gemeinde der Sozialstaatsfeinde vor einem großen Rätsel. Ihren seit Jahrzehnten verbreiteten Tatarenmeldungen von den unseren Wohlstand auffressenden Sozialleistungen steht die Tatsache gegenüber, dass sich der Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt seit 1960 von 17 auf über 30 Prozent (2023) fast verdoppelt hat und zugleich der allgemeine Lebensstandard gestiegen ist. Auch hat Deutschland nach wie vor einen riesigen Handelsüberschuss von über 224 Milliarden Euro (2023), dessen Wachstum auch auf deutlich sinkende Importe zurückzuführen ist (2023 gegenüber 2022: minus 9,2 Prozent).
Aber für die dahinterstehende sinkende Konsumneigung der Deutschen machen FAZ & Co. nicht zu niedrige Löhne verantwortlich, sondern zu hohe Sozialabgaben. Sie würden den Lohnempfängern immer weniger Netto vom Brutto übriglassen und zu nicht mehr wettbewerbsfähigen Lohnkosten führen. Deshalb müssten die Leistungen der Sozialversicherung in die private Verantwortung überführt werden.
Das würde aber schon rein rechnerisch nur dann zu einem per Saldo besseren Ergebnis für die Sozialversicherten und ihre Arbeitgeber führen, wenn die Privatisierung der Absicherung dieser Risiken für beide Seiten kostengünstiger wäre. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, es wird für die Versicherten und auch ihre Arbeitgeber teurer, vor allem in der Krankenversicherung.
Die Leistungsausgaben der privaten Krankenversicherung sind pro versicherte Person um ein Drittel höher als die der gesetzlichen, die Veraltungsausgaben sind sogar doppelt so hoch. Die missratene Riester-Rente, mit der die Absenkung der Sozialrenten kompensiert werden sollte, kennt nur einen Gewinner: die Versicherungswirtschaft. Gering- und Durchschnittverdiener können sie sich gar nicht leisten. Machte man sie zur Pflichtversicherung, müssten sie staatlich subventioniert werden. Durch die Absenkung des Rentenniveaus erhöhen sich die Ausgaben für die Grundsicherung im Alter, die vom Staatshaushalt getragen und damit zur Hälfte aus Umsatz- und Verbrauchssteuern finanziert werden. Das hat wachsende Lebenshaltungskosten zur Folge, die in den Tarifverhandlungen geltend gemacht werden. Die Privatisierung der Sozialversicherungsleistungen kommt also auch die Arbeitgeber teuer zu stehen.
Versorgt der Sozialstaat die Falschen?
Die gleiche Milchmädchenrechnung steht hinter der Behauptung, die Sozialversicherung käme Leuten zugute, die sie eigentlich gar nicht brauchten. Da gelte insbesondere für die soziale Kranken- und Pflegeversicherung. Letztere habe sich zu einer „Erbenschutzversicherung“ entwickelt, weil sie auch für Wohlhabende gelte, deren Vermögen nicht mehr durch Pflegeleistungen für Angehörige geschmälert werde. Deshalb sei die von den Sozialverbänden geforderte Anhebung der Pflegeleistungen auf das Niveau einer Vollversicherung auch aus der sozialpolitischen Perspektive Unsinn.
Die FAZ zitiert in diesem Zusammenhang den Geschäftsführer des Verbandes der Privaten Kranken- und Pflegeversicherung Florian Reuther, der darin „eine unbezahlbare Sozialpolitik mit der Gießkanne“ sieht (FAZ 12.08.2024). Eine gezielte Unterstützung der „wirklich Hilfsbedürftigen“ erfordere nur ein Drittel der jetzt von den Pflegekassen getragenen Kosten.
Das wäre freilich nur dann der Fall, wenn mit der Verlagerung des Pflegerisikos in die Privathaushalte keine professionelle Hilfe mehr nötig wäre. Mit anderen Worten, das Pflegerisiko müsste wieder bei den Familien abgeladen werden. Das ginge vor allem zu Lasten von Frauen, die ihre Berufstätigkeit ganz oder teilweise aufgeben müssten. Was das nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für den Arbeitsmarkt bedeutet, lässt sich leicht ausmalen.
Die Versicherungswirtschaft wird solche gesellschaftlichen Effekte ihres Geschäftsmodells natürlich leugnen. Sie will mit der Pflegeversicherung mehr Geld verdienen und sich auch beim Staat bedienen, der die private Pflegeversicherung von weniger betuchten Menschen subventionieren müsste. Der Versicherungswirtschaft soll ein sicheres Geschäft zugeschanzt werden. Darum geht es bei der Kampagne gegen die Sozialversicherung, und um sonst nichts.
Steigende Sozialausgaben wegen Vollkaskomentalität?
Die CDU will laut neuem Parteiprogramm die Sozialversicherung auf mehr „Eigenverantwortung“ umprogrammieren und Anreize schaffen, nur die wirklich erforderlichen Leistungen in Anspruch zu nehmen. Das kann eigentlich nur die Krankenversicherung gelten, weil dort bei der Inanspruchnahme von Leistungen das Bedarfsprinzip herrscht. Das müsse stärker eingegrenzt werden, meint der CDU-Gesundheitspolitiker Tino Sorge (Ärzte-Zeitung, 13.07.2023): „Wir müssen weg von der Vollkaskomentalität.“
Diese seit Jahrzehnten verkündete Parole ist ein sicheres Zeichen für gesundheitspolitische Ignoranz. Die auch von etlichen Gesundheitsökonomen gepflegte Vorstellung, finanzielle Anreize für Krankenversicherte würden zu einer rationalen Inanspruchnahme von Leistungen führen, geht an der Realität vorbei. Es gibt keinen belastbaren empirischen Beleg für diese Behauptung. Zwar zeigen verschiedene Studien, dass die Zahl der Arztkontakte mit der Höhe der privaten Zuzahlungen der Versicherten sinkt. Das gilt auch für Einschränkungen der Leistungsbereiche der Krankenversicherung. Aber finanzielle Anreize zur Nicht-Inanspruchnahme haben nachweisbar negative Effekte auf den Gesundheitszustand der Versicherten, sind also wohlfahrtsökonomisch gesehen kontraproduktiv.
Auch aus der ökonomischen Perspektive sind private Zuzahlungen zu den Behandlungskosten ohne sinnvolle Steuerungseffekte. Finanzielle Anreize können nur bei einer Konsumentensouveränität funktionieren, die es im Gesundheitswesen nicht gibt. Darauf hat schon vor 60 Jahren Kenneth Arrow hingewiesen, der Begründer der Public-Choice-Lehre. Kranke Menschen sind auf medizinische Behandlung angewiesen und haben keine Alternative zum Aufsuchen einer Arztpraxis oder eines Krankenhauses.
Ärztinnen und Ärzte haben das gesellschaftliche Mandat, Krankheiten zu diagnostizieren und eine erforderliche Behandlung einzuleiten. Damit können sie den Umfang ihrer Leistungen selbst bestimmen – und es wäre naiv anzunehmen, dass dabei ökonomische Interessen keine Rolle spielen. Daher ist die Steuerung des medizinischen Versorgungsangebots die zentrale Fragestellung der Gesundheitsökonomie.
Wachstumsbranche
Das Wachstum des Sozialbudgets (siehe oben) ist weder das Ergebnis einer Anspruchsmentalität der Deutschen noch einer prinzipiellen Unwirtschaftlichkeit der Sozialbehörden, wie uns die Sozialstaatsfeinde glauben machen wollen. Es ist vor allem auf eine ökonomische Gesetzmäßigkeit zurückzuführen. Während sich die Ausgaben für Lohnersatzleistungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung weitgehend an der allgemeinen Lohnentwicklung orientieren, haben die gesundheitlichen und sozialen Dienste eine eigene Ausgabendynamik. Ihr Anteil am Sozialbudget liegt bei 40 Prozent, mit einer weiter steigenden Tendenz.
Dienstleistungen haben per se wegen ihrer geringeren Rationalisierbarkeit die Tendenz, im Vergleich zu materiellen Konsumgütern teurer zu werden. Das ist aber kein wirkliches ökonomisches Problem, sondern hat nur eine unproblematische Verlagerung innerhalb der Lebenshaltungskosten zur Folge. Vor vierzig Jahren kostete ein Farbfernseher etwa die Hälfte eines durchschnittlichen Monatslohns, heute muss man für ein technisch weit besseres Gerät nur noch einen Wochenlohn zahlen. Dafür sind im selben Zeitraum die Gesundheitsausgaben um 50 Prozent gestiegen.
Beim Streit um die Sozialabgaben geht es in Wirklichkeit vor allem darum, wer mit der wachsenden Branche der gesundheitlichen und sozialen Dienste ein Geschäft machen kann. Die Privatisierung dieses Sektors eröffnet profitable Möglichkeiten, führt aber zugleich zu einer Verteuerung der Leistungen und einer Verschlechterung der Versorgung für die große Mehrheit der Bevölkerung.
Wenn man an dem Grundsatz der modernen Zivilgesellschaft festhalten will, allen Menschen den Anspruch auf eine umfassende medizinische und pflegerische Versorgung zu gewähren und Altersarmut zu vermeiden, ist die soziale Absicherung dieser Risiken alternativlos.