Editorial

Was ist noch normal?

| 17. August 2021
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Liebe Leserinnen und Leser,

die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, so weit, dass mittlerweile schon einige Millionäre wünschen, mehr Steuern zahlen zu können. Zuerst in den USA, jetzt auch in Deutschland weisen Millionenerben und Erbinnen wie Marlene Engelhorn Politiker darauf hin, dass Eigentum verpflichtet, und fordern nach Jahrzehnten sinkender Spitzensteuersätze eine gerechte Steuerpolitik. Das ist einerseits ehrenwert, aber auch eine verkehrte Welt. „Wie wir die Ressourcen verteilen, trifft ins Herz der Demokratie“ – ein Satz, der nicht von einer Millionärin, sondern von einem Kanzlerkandidaten kommen müsste.

Zumal die Corona-Pandemie die Ungleichheit weiter zementiert hat. Vor allem unter Kindern kann von einer Generation Corona gesprochen werden, weil das Virus ihr Aufwachsen erheblich beeinträchtigt und die Pandemie als biografische Zäsur gewirkt, sie mehr als Erwachsene vorübergehend aus der Bahn geworfen und sich ihnen der Kontaktmangel als kollektive Schlüsselerfahrung möglicherweise für Jahrzehnte ins Gedächtnis gebrannt hat.

Zudem gehen vor allem Kinder aus ärmeren Elternhäusern als Bildungsverlierer aus der Krise heraus, denn unter ihnen fand das sogenannte Homeschooling mangels Ausstattung und adäquater Betreuung oft erst gar nicht statt. Monate ohne Bildung im 21. Jahrhundert – wer hätte das Anfang 2020 gedacht?

Gleichzeitig wird mit der „Generationengerechtigkeit“ ein verhängnisvoller Kampfbegriff ins Feld geführt. Über diese Misere haben der Armutsforscher Christoph Butterwegge und seine Frau Carolin Butterwegge ein Buch und zugleich eine Gegenwartsdiagnostik geschrieben: Kinder der Ungleichheit.

Risse in der Gesellschaft, Klimakrise, Versagen des Katastrophenschutzes, überforderte Verwaltungen und Gesundheitsdienste, marode Schulen: Die Deregulierungspolitik der vergangenen dreißig Jahre ist an erkennbare Grenzen gestoßen. Mit Weitblick schrieb bereits 1998 der Publizist Jan Roß, als das neoliberale Unheil unter Schröder seinen Anfang nahm: „Die linksliberalen Emanzipationsapostel und marktgläubigen Deregulierer ahnen gar nicht, daß sie am selben, verhängnisvollen Projekt arbeiten: an der Auflösung des Gemeinwesens“.

Deshalb fordern etliche Ökonomen eine Renaissance des Staates, darunter Marcel Fratzscher, Maja Göpel oder Moritz Schularick, die ebenfalls Bücher geschrieben haben. Allerdings verzichten die neuen Staatsfreunde in ihrem Plädoyer auf eine Neuorientierung der ökonomischen Lehre. Zwar sehen auch sie großen Handlungsbedarf, aber sie glauben, die erforderlichen öffentlichen Investitionen könne man mit Umschichtungen im Staatshaushalt und einer allenfalls moderaten Staatsverschuldung finanzieren. Das ist keine politische Wende, sondern das Aufhübschen des Ordoliberalismus mit einem Schuss „Bastard-Keynesianismus“: Man macht einmal kurz Schulden, um dann in „normalen“ Zeiten – wann immer die kommen mögen – zur Haushaltsdisziplin zurückzukehren und zu sparen.

So können sich am Ende Staatsfeinde, Staatsfreunde, EUROpäer und die Hüter der Generationengerechtigkeit wieder der kollektiven Sorge um die riesigen Schuldenberge widmen, die die nachwachsende Generation angeblich belastet. Nur mit der Ausnahmeklausel für „Naturkatastrophen“ sowie „außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“ akzeptiert man die Aussetzung der Schuldenbremse, um die staatlichen Überbrückungshilfen, Rettungspakete und Fördermaßnahmen zu finanzieren, weil in diesem Fall geradeso verfassungskonform.

Ist das alles noch normal, oder doch eher „verrückt“? Da es die Normalität nicht mehr zu geben scheint, spricht vieles für letzteres. Auch in den Europäischen Verträgen ist die Schuldenbremse fest verankert, weil man es so wollte. In nahezu allen Wahlprogrammen der Bundestagsparteien finden sich uneingeschränkte Bekenntnisse zu einer EU der neoliberalen Verrechtlichung samt Globalisierung und Schuldenbremse, was dafür spricht, dass so einiges verrückt ist. Für Paul Steinhardt leiden die Parteien unter einer Mischung aus konzeptueller Verwirrung und Realitätsverlust. Das Wort "normal" im Titel des Wahlprogramms der AfD verspreche daher schon einmal eine Pause von Weltbürgergesellschafts-Phantasien, deren praktischer Wert sich in einer Rechtfertigung des international agierenden Kapitals erschöpft. 

Freilich sollte man sich auch hier keinen Illusionen hingeben: Radikal wirtschaftsliberale Parteien wie die AfD werden bei der Wahl zwischen Interessen des Demos und des Kapitals im Zweifelsfall immer für die unternehmerische "Freiheit" und das "Leistungsprinzip" – sprich gegen den "Demos" und für das "Kapital" – votieren. Womit wir wieder am Anfang angelangt wären.