Editorial

Kipppunkte

| 14. September 2023

Liebe Leserinnen und Leser,

willkommen in einer neuen Woche. In den letzten Jahren hat der von Adam Tooze geprägte Begriff der „Polykrise“ Konjunktur erfahren. Gemeint sind kulminierende krisenhafte Ereignisse, die zeitversetzt oder sogar parallel auftreten und sich zum Teil gegenseitig bedingen und verstärken. Man könnte auch von verschiedenen Kipppunkten sprechen: Grenzwerte, an denen eine kleine zusätzliche Störung zu einer qualitativen Veränderung im System führen kann. Da wäre zuallererst die Klimakrise zu nennen, die von den makroökonomischen Gleichgewichtsmodellen unterschätzt wird, aber weit verheerendere Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben könnte als bisher angenommen. Das betrifft ebenso den Ukraine-Krieg, der nicht nur die deutsche Wirtschaft mit in die Rezession getrieben hat, sondern auch das Potential für weitere Eskalationsstufen mit sich bringt. Oder die Ungleichheit, welche sich durch Migration, Inflation und hohe Energiepreise weiter verschärft und die Stabilität der westlichen Demokratien untergräbt. Die Polykrise sorgt für tektonische Plattenverschiebungen der kulturellen und gesellschaftlichen Lebenswelt, deren Tragweite noch nicht absehbar sind, die aber irreversibel erscheinen.

Wir leben in einem Zeitalter der Kipppunkte.

Diese und weitere Themen finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Unterschätzt die Makroökonomie die Klimakrise? Vor fünfzehn Jahren haben die meisten Makroökonomen sie nicht kommen sehen: die Große Rezession. Jetzt, da die Klimawissenschaftler warnen, spielen viele Klimaökonomen die Auswirkungen einer Erwärmung des Planeten auf die Wirtschaft herunter. Dirk Bezemer
  • Der größte Preistreiber ist die Ungleichheit Mieten, Krankenkassen, Strom – alles wird teurer. Daran ist nicht zuletzt die immer größere Ungleichheit schuld. Werner Vontobel
  • Ist das Soros-Imperium am Ende? Die Open Society Foundation will sich aus Europa zurückzuziehen. Was beim progressiven europäischen Establishment Panik auslöst, ist für die Demokratie keine schlechte Nachricht. Thomas Fazi
  • Hatte Russland keine Wahl? Die Ursachen des Ukraine-Krieges sind komplex. Vor einseitigen Narrativen sollte man sich auf beiden Seiten des Meinungsspektrums hüten. Sebastian Müller
  • Das Denken des Undenkbaren beginnt Es wird wahrscheinlicher, dass Moskau aus diesem Krieg gestärkt und nicht geschwächt hervorgeht. Für den Westen heißt das: Das Nachdenken über einen Plan C ist jetzt offiziell erlaubt. Tarik Cyril Amar
  • ...und dann kamen die Chicago-Boys Es gibt ein anderes 9/11, das heute fast vergessen ist. Am 11. September 1973 wurde die demokratisch gewählte Regierung Allendes in Chile Opfer eines brutalen Militärputsches. Die Folgen sind bis heute spürbar. Ulrike Simon
  • Raus aus dem Ego-Kapitalismus Eine soziale, ökologische und ökonomische Abwärtsspirale lässt sich nur mit einer neuen Wirtschaftspolitik abwenden. Das geht auch ohne radikalen Systemwechsel. Patrick Kaczmarczyk
  • Updates zur Konjunktur Während alle Prognosen von einem Minuswachstum der deutschen Wirtschaft in diesem Jahr ausgehen, hebt die EZB den Leitzins auf ein Allzeithoch. Kein Wunder, dass der Pessimismus in der Industrie ungebrochen bleibt. Die Redaktion