Staatsschulden

Deutsche Schuldenängste und versäumte Investitionen

| 03. September 2024
Imago / Photoeck

Generationengerechtigkeit, Wachstumsfeindlichkeit oder Crowding Out – die Staatsverschuldungskritiker haben eine Reihe von Einwänden. Sie erweisen sich jedoch als schwach oder schlicht falsch.

Gegen den typisch deutschen Irrglauben an einen notwendigerweise ausbalancierten Staatshaushalt haben Autoren in MAKROSKOP über die Jahre hinweg wiederholt angeschrieben. Briten, US-Amerikaner und Franzosen, um nur drei Beispiele zu nennen, blicken kopfschüttelnd auf die Deutschen und ihre fixe Vorstellung von ausgeglichenen Staatsfinanzen als vermeintliches Zeichen einer gesunden Volkswirtschaft. Die Begründer dieses Magazins, Paul Steinhardt  und Heiner Flassbeck, aber auch Philipp Heimberger, Günther Grunert und Andere haben aus verschiedenen Blickwinkeln begründet, warum Staatsschulden eben nicht mit denen privater Haushalte oder Unternehmen zu vergleichen sind.

Das einhellige Argument: In einem Fiatgeldsystem herrscht ein fundamental notwendiger Unterschied zwischen dem Staatshaushalt als Quelle des gesetzlichen Zahlungsmittels und den Privaten als Nutzern dieses Zahlungsmittels. Anders formuliert: Der Finanzierungssaldo des staatlichen Sektors muss notwendig dem Saldo des privaten Sektors mit umgekehrten Vorzeichen und bereinigt um den Leistungsbilanzsaldo entsprechen und vice versa.

Aus diesem Umstand ergibt sich bereits, dass die Privaten überhaupt nur Geldvermögen bilden können, wenn sich wahlweise der Staat oder das Ausland oder beide zusammen verschulden – wobei aber nur der Staat die heimische Währung schöpfen kann. Wer sein Geldvermögen also nicht (ausschließlich) in ausländischer Währung anlegen möchte, wird unweigerlich auf den heimischen Staat zurückgeworfen.

Defizitäre Argumente

Auch der heterodoxe Volkswirt Martin Hellwig hat die Diskussion um Staatschulden aufgegriffen. Hellwig konzentriert sich auf einen Aspekt, den einschlägige Kreise in der Debatte um das Für und Wider von Staatsschulden systematisch unterdrücken. Denn sein Argument für staatliche Investitionen droht den Fetisch des ausgeglichenen Staatshaushalts bereits innerhalb des herkömmlichen Verständnisses von Staatsfinanzen, also analog zu privatwirtschaftlichen Budgetrestriktionen, zu entmachten.

Sogar entlang dieses fehlgeleiteten Verständnisses von Fiskalpolitik sei das Beharren auf einem ausgeglichenen Staatshaushalt schädlich für Volkswirtschaft und Generationengerechtigkeit, so Hellwig. Staatsverschuldung ist nach seiner Ansicht dann sinnvoll, wenn ihr eine gesellschaftlich relativ höhere Rendite gegenübersteht als der Schuldendienst an Kosten verursacht, was gerade bei Investitionen in Bildung unzweifelhaft der Fall sei.

Mit Blick auf die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Generationen stellt er außerdem fest: „Das deutsche Bildungssystem bietet heute viel weniger eine Grundlage für intergenerationelle soziale Mobilität als etwa 1980.“ Diesem Argument müssten eigentlich insbesondere auch Liberale zustimmen, die stets das Wort von ‚Chancengleichheit‘ als die wahre Gerechtigkeit im Munde führen: Ein Jeder soll seines eigenen Glückes Schmied sein, auf der Grundlage derselben Entwicklungschancen.

Hellwig plädiert in einem Interview mit der Volkswirtin Karen Horn daher für eine „nachhaltige Erhöhung der Infrastrukturinvestitionen“ durch den Staat. Aber dies würde am Ende private Investitionen verdrängen, lautet der traditionell vorgebrachte Einwand. Auch wenn das so wäre, ist es laut Hellwig noch kein Gegenargument:

„Die einfache Feststellung, eine Steigerung der öffentlichen Investitionen würde private Investitionen verdrängen, sagt noch nichts darüber, ob das wünschenswert wäre oder nicht. Implizit steckt in der genannten Aussage die Wertung, die Verdrängung privater durch öffentliche Investitionen sei an sich schon eine schlechte Sache."

Das ist ein Paradebeispiel für die Kurzsichtigkeit des Feldzugs gegen das sogenannte "Crowding Out", ein echtes Schreckgespenst für viele Ökonomen und von ihnen beratenen Politikern −  zumal wenn sie derselben Partei wie der Bundesfinanzminister Lindner angehören.[1] Auch nach 7 Jahren – so lange ist das Interview bereits her – ist wenig bis nichts passiert. Stattdessen bestärkt Lindner eher die Ressentiments, die Hellwig zurecht kritisiert.

Dabei ist die Rechnung im Hinblick auch auf realwirtschaftliche Ressourcen einfach: Natürlich können in einem gegebenen Geschäftsjahr die vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten nur für eine endliche Menge von Bauprojekten aufgewandt werden. Wenn aber die öffentliche Infrastruktur, auf deren Funktionsfähigkeit die Privaten angewiesen sind, zerbröselt, ist es sowohl im einzel- wie auch gesamtwirtschaftlichen Interesse, dass unter Umständen die öffentliche Investition tatsächlich die private verdrängt – schlicht, weil der gesellschaftliche Gesamtertrag höher ist.

Natürlich gibt es Investitionsruinen des Staates. Es gibt aber auch private Investitionen von fragwürdigem Nutzen (Stichwort Hellwig: Immobilienblase). Wenn sich Alle einig sind, dass die physischen Grundlagen privaten Wirtschaftens bedroht sind, sollte es eigentlich Konsens sein, deren Reparatur Vorrang zu geben – ganz abgesehen davon, dass sich aus dieser staatlich induzierten Nachfrage positive Impulse auch für die gesamtwirtschaftliche Binnennachfrage ergäben, die dann obendrein bislang exportierte Güter hierzulande verbrauchte.

Nebenbei würde so der exorbitante deutsche Leistungsbilanzüberschuss reduziert, der nicht zuletzt auch Ergebnis politischer Entscheidungen ist. Deutsche Autobahnbrücken, die Bahn, der stockende Ausbau von Telekommunikations- und Stromleitungsnetzen – das alles ist Ausdruck versäumter staatlicher Investitionen als Teil der Binnennachfrage, die die Bundesrepublik nun brutal einholen.

Wie gerecht aber ist so ein Verhalten gegenüber zukünftigen Generationen, wenn die Generationen vor ihnen die einmal errichtete Infrastruktur abnutzen und zum Ausgleich dafür weniger Staatsschulden hinterlassen – zumal keine Bahnstrecke, Überlandleitung oder auch Autobahn von heute auf morgen gebaut ist?

Was haben unsere Kinder und Enkel davon, dass sie – betriebswirtschaftlich gesprochen – weitgehend abgeschriebenes Anlagevermögen, dafür aber weniger Verbindlichkeiten erben? Immerhin Wahlfreiheit, könnte man entgegnen. Doch was ist diese Wahlfreiheit wert angesichts einer runtergewirtschafteten basalen Infrastruktur, die arbeitsteilige Wertschöpfung erst ermöglicht, zu der im Übrigen auch der von Ordoliberalen stets so beschworene Rechtsstaat zählt? Es kann sich eben keine Generation freien Stückens dafür entscheiden, auf bestimmte elementare Bestandteile einer modernen Volkswirtschaft zu verzichten – weil sie sich durch noch so viel private Initiative kaum oder gar nicht ersetzen lassen.

Es ist eigentlich recht einfach: Ohne öffentliche Infrastruktur kein privates Wirtschaften. Wenn diese Infrastruktur nicht vom Markt bereitgestellt wird, sei es, weil das politisch nicht gewollt oder aber betriebswirtschaftlich nicht anreizkompatibel umzusetzen ist, muss der Staat ran. Verweigert sich dieser dann der Rolle des ‚borrowers of last resort‘, verrottet die Infrastruktur weiter.

Ghana ungleich Japan

Es gibt noch ein letztes, immer wieder gern vorgebrachtes Argument für staatliche Haushaltskonsolidierung: die spätestens in den Jahren nach der Finanzkrise von 2007/08 gehegte Vorstellung, dass Staatsschulden ab einem bestimmten Niveau im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt gleichsam automatisch wachstumshemmend wirkten. So haben es beispielsweise die Ökonomen Stephen Cecchetti, Madhusudan Mohanty und Fabrizio Zampolli 2011 dargelegt, oder − geradezu notorisch − die Wirtschaftswissenschaftler Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff 2010.

Ein wachstumshemmender Schwellenwert wird laut Literatur meistens mit 85 bis 90 Prozent Staatsschuldenquote erreicht. Träfen diese Analysen zu, wäre das tatsächlich ein Problem für die bisherige Argumentation. Doch haben zum Beispiel Philipp Heimberger und Andere längst gezeigt, dass es sich bei diesen ‚Schwellenanalysen‘ um ökonometrisch nicht haltbare Untersuchungen handelt. Unter anderem deshalb, weil bei der mangelnden Vergleichbarkeit von Volkswirtschaften wie etwa Japan und Ghana kaum ein allgemeiner Schwellenwert vorstellbar ist, ab dem Staatsverschuldung automatisch und unvermeidbar zu Wachstumseinbußen führt.

Zumal liegt der spezifische Unterschied zwischen den beiden genannten Volkswirtschaften nicht nur in ihrer Größe, sondern vor allem in der Denomination ihrer Staatsschulden begründet: Japan nimmt Verbindlichkeiten in seiner eigenen Währung auf, während Ghana sich weit überwiegend in US-Dollar verschulden muss – und deshalb erst jüngst wieder zahlungsunfähig geworden ist.

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[1] Wobei mit diesem Begriff in der Regel vor allem die Verdrängung privater Investitionsnachfrage durch Staatsschulden gemeint ist, die auf Grund der dann vermeintlich steigenden Zinsen die privaten Investitionen verdrängen. Letzteres ist allerdings vor dem Hintergrund des Eingangs präsentierten Verständnisses des staatlichen Sektors, der in die Finanzierungssalden der Volkswirtschaft eingebunden wird, bereits grundsätzlich unsinnig. Hinzu kommt, dass die Zinsentwicklung mitnichten von der Höhe staatlicher Neuverschuldung abhängig ist.