AusgetrEUmt
Wenn die Besten den Verstand verlieren, liegt die Vermutung nah, dass die Welt nicht mehr in Ordnung ist.
Ende Juli gab Wolfgang Schäuble, jetzt elder statesman ohne öffentliches Amt, der Welt am Sonntag ein Interview. Darin verabschiedete er sich öffentlich von seiner lebenslangen Vision eines deutsch-französischen Kerneuropas, offenbar in der Hoffnung, damit zu retten, was nach dem Krieg in der Ukraine von der, schon immer unwahrscheinlichen, Möglichkeit eines unabhängigen Europas mit einer unabhängigen Sicherheitspolitik übrig geblieben ist. Wie man erfährt, nicht viel.
Was Schäuble, einer der letzten intellektuell respektablen konservativen Politiker, in dem Interview versucht, ist eine aktualisierte Version seines alten deutsch-gaullistischen Europa-Konzepts zu entwerfen. Diese aber entpuppt sich als so weltfremd, dass sie, von jemandem kommend, der für seinen rücksichtslosen politischen Realismus bekannt ist, wie ein subversives Argument gelesen werden kann, dass mit dem Krieg alle Träume von einem Europa mit "strategischer Souveränität", wie Macron es nennt, nicht nur von rechts, sondern auch von links, für immer zu Hirngespinsten geworden sind.
Europa a trois
Was schlägt Schäuble vor, um Europa, wenn nicht jetzt, dann nie mehr, zu einer souveränen Macht nach der Zeitenwende zu machen? Da es dem deutsch-französischen Tandem nicht gelungen ist, den Krieg zu verhindern oder zumindest dabei mitzureden, schlägt Schäuble vor, es zu einem Triumvirat, einem Dreierdirektorium, zu erweitern und Polen einzuladen, sich Deutschland und Frankreich "als gleichwertiges, gleich wichtiges Mitglied in die Führung der europäischen Einigung" anzuschließen. Da "Verteidigung nach den Regeln des Lissabonner Vertrags […] der gegenwärtigen Herausforderung nicht gerecht werden" kann, müsste das neue Direktorium außerhalb der Europäischen Union agieren. Frankreich, Deutschland und Polen würden andere europäische Länder einladen, sich ihnen anzuschließen, wofür Schäuble das Konzept einer "Koalition der Willigen" akzeptiert. Das gleiche Prinzip, so schlägt er vor, sollte auch auf Themen wie Einwanderung und Asylpolitik angewendet werden.
Im Endeffekt würde dies zu einem "Europa à la carte" führen, das den Supranationalismus aufgibt und ihn durch das ersetzt, was man in Brüssel mit einem obligatorischen Ausdruck der Abscheu als Intergouvernementalismus bezeichnet. Längerfristig könnte damit das gesamte Brüsseler Establishment zugunsten einer multinationalen strategischen Allianz unter der Führung dreier souveräner Nationalstaaten ins Abseits geraten. So weit, so gut.
Aber das ist nur der Anfang. Die Hauptaufgabe für das Dreierdirektorium wäre der Aufbau einer nuklearen Verteidigung für Europa. Laut Schäuble steht es, "nachdem Putins Helfershelfer (!) jeden Tag mit einem Atomschlag drohen (...) unverrückbar fest: Wir brauchen auch auf europäischer Ebene die nukleare Abschreckung. Während Frankreich die Waffen hat, hat Deutschland das Geld. Aus ureigenen Interesse müssen wir Deutschen im Gegenzug für eine gemeinsame Nuklearabschreckung einen finanziellen Beitrag für die französische Nuklearmacht leisten. (...) Gleichzeitig müssen wir mit Paris in eine verstärkte strategische Planung eintreten. (...) Jedenfalls ist die europäische Verteidigungskapazität ohne die nukleare Dimension nicht denkbar (...)."
Immer wieder betont Schäuble, dass dies alles nicht in Widerspruch zu den europäischen Verpflichtungen im Rahmen der NATO stehen darf. "Was Frankreich dabei leisten muss, ist, dass sich das alles in die NATO einfügen muss". Schäuble begründet die Aufnahme Polens in sein Direktorium unter anderem damit, dass seine Anwesenheit garantieren würde, dass "die europäische Verteidigung nicht alternativ, sondern komplementär zur NATO gestaltet wird". Und an anderer Stelle: "Immer muss gelten: alles mit der NATO, niemals gegen sie".
Verzweifelte Illusionen
Schäubles Vorschlag für eine Neuordnung Europas muss als verzweifelter Versuch verstanden werden, die letzte, eine noch so winzige Aussicht auf ein strategisch unabhängiges Europa am Leben zu erhalten. Die Glaubenssprünge, die er dafür machen muss, sind allerdings enorm. Um dem Aufstieg Osteuropas als neues europäisches Machtzentrum nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Rechnung zu tragen, lädt Schäuble Polen ein, sich Deutschland und Frankreich als europäischer Co-Hegemon anzuschließen, in der zutiefst kontrafaktischen Hoffnung, dass dies das Land aus seiner symbiotischen Beziehung zu den Vereinigten Staaten herauslösen wird. (Die polnische Regierung hat Deutschland gerade eine Rechnung über mehr als eine Billion Euro für Reparationen für den Zweiten Weltkrieg vorgelegt und ist zuversichtlich, dass dies ihr helfen wird, die nächsten Wahlen zu gewinnen.)
Schäuble erwartet auch, dass Frankreich, nachdem eine Führung Europas durch zwei Länder, zusammen mit Deutschland, gescheitert ist, ein drittes Land als europäischen Mitregenten akzeptiert und Deutschland und Polen gemeinsam zugesteht, was es Deutschland alleine seit den 1960er Jahren immer verweigert hat, nämlich ein Mitspracherecht beim Einsatz seines Atomwaffenarsenals.
Je genauer man hinschaut, desto verblüffender erscheinen die Illusionen, die ein europapolitischer Vordenker wie Schäuble kultivieren zu müssen glaubt, um zu so etwas wie einem Konzept europäischer strategischer Souveränität zu gelangen. Eine der Säulen der US-Macht in Europa ist die deutsche Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag Anfang der 1960er Jahre, die Deutschland für seine Verteidigung während des Kalten Krieges vom amerikanischen Nuklearschirm abhängig machte. Heute besteht diese Abhängigkeit in der Präsenz einer unbekannten Anzahl amerikanischer Atombomben auf deutschem Boden sowie in der Lizenz für die deutsche Luftwaffe, auf amerikanisches Kommando amerikanische Atomsprengköpfe mit von den Vereinigten Staaten gekauften Kampfflugzeugen zu von den Amerikanern ausgewählten Zielen zu transportieren, was offiziell als "nukleare Teilhabe" bezeichnet wird.
Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die USA, NATO oder nicht NATO, davon überzeugt werden könnten, dass Deutschland zusätzlich Zugriff auf französische Atomsprengköpfe haben müsste, und sei es auch nur indirekt, indem es für sie bezahlt. Es besteht auch keinerlei Aussicht darauf, dass Frankreich Deutschland und Polen ein Mitspracherecht einräumt, wenn es darum geht, Paris zugunsten von Berlin oder Warschau aufs Spiel zu setzen; in der Vergangenheit wurden französische Versuche, Deutschland an den Kosten der force de frappe zu beteiligen, schon dann immer wieder aufgegeben, wenn Deutschland im Gegenzug lediglich einen Blick in den Zielkatalog der französischen Atomraketen werfen wollte.
Und man an darf sich wohl auch fragen, wie jemand, der so lange dabei ist wie Schäuble, erwarten kann, dass eine europäische Sicherheitspolitik unter polnischer Mitregierung etwas anderes sein könnte als eine Verlängerung der amerikanischen Sicherheitspolitik, angesichts der beiden Hauptziele polnischer Außenpolitik: Unabhängigkeit von Deutschland und eine starke Präsenz der USA in Europa, um Russland in Schach zu halten, als Alternative zu den unzuverlässigen europäischen Nachbarn, die im Gegensatz zu den USA im Ernstfall um ihre eigene Sicherheit fürchten könnten.
Partnerschaft mit Russland?
Wo Schäubles Interview endgültig zu einem Dokument der Verzweiflung wird und sein deutsch-französisch-polnisches Triumvirat sich als nichts anderes herausstellt als die Fata Morgana eines verdurstenden Reisenden in der Wüste, ist, wo er am Ende versucht, dem Interviewer und sich selbst weiszumachen, dass sein atomares Dreierbündnis "einen partnerschaftlichen Umgang mit einem Russland anstreben“ würde, „das die Grundregeln partnerschaftlicher Zusammenarbeit respektiert". "Auch die Polen“, so Schäuble, "werden zustimmen, wenn wir sagen, dass eine Partnerschaft mit einem Russland, das dem Gewaltverzicht, der Unverletzlichkeit der Grenzen und den grundlegenden Regeln des Völkerrechts verpflichtet ist, politisch richtig ist. Mit einem solchen Russland können und wollen wir gut zusammenarbeiten. Aber: Mit Putin wird das schwierig werden" – aber jedenfalls auch nicht unmöglich.
Schäuble kann nicht daran gezweifelt haben, dass für Polen und seinen privilegierten Beschützer, die Vereinigten Staaten, eine ausgehandelte Sicherheitsarchitektur in Europa, die Russland einschließt, allenfalls eine zweitbeste Lösung ist; ihr bevorzugtes Ergebnis des Krieges ist ein besiegtes Russland, das durch überlegene militärische Kräfte in Schach gehalten wird. Europa wird in diesem Szenario nicht von Deutschland oder Frankreich oder beiden, sondern von den USA geführt, und zwar nicht nur auf dem eurasischen Kontinent, sondern auch global, insbesondere gegenüber China (das Schäuble nur einmal am Rande erwähnt).
Wie Schäuble erwarten kann, dass seine wiederholten Zusicherungen, dass sein Dreierbündnis sich als Teil der NATO betrachten wird – und er geht sogar so weit, vorzuschlagen, dass das Vereinigte Königreich, der selbsternannte subcomandante der USA weltweit, auch eine Rolle bei der nuklearen Verteidigung Europas spielen solle –, die Vereinigten Staaten sollten täuschen können, entzieht sich jedem Verständnis. Dass jemand wie Schäuble sich auf die fromme Hoffnung zurückzieht, die USA würden notfalls wegschauen, kann als Indiz dafür gewertet werden, wie sehr der Krieg in der Ukraine den Schwerpunkt der europäischen Sicherheitspolitik nach Osten, und damit auch nach Westen in Richtung USA, verschoben hat.
NATO statt EU
Wo Schäuble ausnahmsweise mit dem europäischen Zeitgeist übereinstimmt, ist, dass die EU als real existierende internationale Organisation in seinem Projekt überhaupt keine Rolle mehr spielt; sie wird sogar explizit ausgeschlossen. Was Schäuble vorschwebt, ohne dass er es ausspräche, ist, was Macron in einigen seiner überschwänglichen Momenten eine Neugründung Europas, eine refondation, nennt (es gibt freilich wenig, was Macron nicht neu gründen möchte). In den letzten Jahren haben von der Leyens Truppe und die von ihr verwaltete supranationale community method bei den europäischen Staats- und Regierungschefs dramatisch an Ansehen verloren. Der Umgang Brüssels mit der Pandemie wurde weithin als Desaster betrachtet, obwohl es Merkel war, die der EU die Beschaffung von Impfstoffen aufgebürdet hatte, auf die sie nicht vorbereitet war. Dies sollte verhindern, dass Deutschland zuerst bedient würde, zu einem Zeitpunkt, als es sich im Sommer 2020 darauf vorbereitete, für ein halbes Jahr die Präsidentschaft der Union zu übernehmen, das letzte Mal unter Merkel; das Ergebnis war eine zweimonatige Verzögerung der Impfung auf dem europäischen Kontinent. Auch hatte die EU versäumt, Masken und Schutzkleidung vorrätig zu halten und sich generell auf einen medizinischen Notfall wie Covid-19 vorzubereiten. Stattdessen verlegte sie sich darauf, vergeblich zu versuchen, die Schengen-Mitgliedstaaten dazu zu bringen, ihre Grenzen in Zeiten steigender Infektionsraten offen zu halten.
Kurze Zeit später folgte die Erkenntnis, dass der gefeierte NGEU-Corona-Wiederaufbaufonds viel zu klein und zu bürokratisch verwaltet war, um irgendetwas für das Land zu tun, für das er in erster Linie gedacht war, nämlich Italien – siehe den erbärmlichen Sturz des Weißen Ritters der EU, Mario Draghi, als Ministerpräsident seines Heimatlandes nach nur einem Jahr im Amt. Hinzu kommt das Gefeilsche mit Polen und Ungarn um die "Rechtsstaatlichkeit" zu einer Zeit, als Osteuropa zu einem neuen Machtzentrum der Union wurde, ganz zu schweigen von der völligen Abwesenheit der EU, als die Minsker Vereinbarungen scheiterten und die Vereinigten Staaten das Management des Konflikts mit Russland in der Ukraine an sich zogen. Sobald dabei die Realpolitik ihr hässliches Haupt erhoben hatte, verwandelte sich die EU im Nullkommanichts in eine Hilfsorganisation der NATO, beauftragt unter anderem mit der Ausarbeitung von Sanktionen gegen Russland, die großenteils nach hinten losgingen, sowie mit der Formulierung einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik, eine von Anfang an schlechthin unlösbare Aufgabe.
Wie sehr die europäische Führung den Vereinigten Staaten in die Hände gefallen ist und wie nachhaltig die EU die Kontrolle über sich selbst verloren hat, zeigen die Auseinandersetzungen um die Aufnahme neuer EU-Mitglieder – ein zunehmend unübersichtliches Schlachtfeld im Kampf darum, wer Europa regiert und zu welchem Zweck. In den 1990er Jahren bestanden die USA darauf, dass die EU im Rahmen der USA-geführten sogenannten New World Order die ehemaligen Warschauer-Pakt-Mitglieder Polen, Ungarn, Tschechien, Bulgarien und Rumänien aufnehmen müsse, um sie wirtschaftlich zu sanieren und institutionell umzustrukturieren, mit dem Ziel, sie fest im "Westen" zu verankern. Später folgten die baltischen Staaten, die eine Zeit lang Teil der Sowjetunion gewesen waren. Ebenfalls wurde erwartet, das langjährige NATO-Mitglied Türkei aufzunehmen, was der EU gemeinsame Grenzen mit Syrien, dem Irak und dem Iran sowie einen potenziellen Krieg zweiter Mitgliedstaaten, Türkei und Griechenland, beschert hätte. Dies wurde von Frankreich zusammen mit Deutschland unter Merkel, Weltmeisterin in der Kunst des passiven Widerstands, verhindert, auch wenn die Türkei nach wie vor offiziell Beitrittskandidat ist.
Liebe kann man nicht kaufen
Die Integration neuer Mitglieder stellt hohe Anforderungen an die EU-Bürokratie, die ihnen die Feinheiten des so genannten acquis communautaire beibringen muss, des in Unendliche gewachsenen gemeinsamen Besitzstands an Regeln, die neue Mitgliedstaaten als Voraussetzung für ihren Beitritt umsetzen müssen. Je ärmer sie sind und je mehr es von ihnen gibt, desto größer müssen die Strukturfonds der Union werden, die bislang allein aus den nationalen Haushalten finanziert werden. Außerdem gilt hier wie im normalen Leben, dass Geld oft nicht in der Lage ist, Liebe zu kaufen; so haben die neuen Mitgliedstaaten im Osten ihre eigenen Vorstellungen davon, wo sie den Anweisungen aus Brüssel folgen sollen und wo nicht, und ihr Beitritt vergrößert regelmäßig die Heterogenität der in der EU vertretenen Interessen, was die Handlungsfähigkeit der EU insbesondere nach außen beeinträchtigen kann.
Infolgedessen haben sich die Wartezeiten in den letzten Jahren dadurch verlängert, dass sich die Aufnahmeverhandlungen unter dem Druck der etablierten Mitgliedstaaten in die Länge ziehen. Das letzte neue Mitglied war Kroatien, das 2013 nach zehnjährigen Verhandlungen aufgenommen wurde, nachdem seine institutionellen Reformen halbwegs zur Zufriedenheit der EU abgeschlossen waren. Auf der Warteliste stehen noch Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nord-Mazedonien und Serbien, die sogenannten Westbalkanstaaten, die jedoch in absehbarer Zeit keine Aussicht auf Aufnahme haben, nachdem sich Frankreich öffentlich dagegen ausgesprochen hat.
Sterben für die "europäische Perspektive"
Auftritt die Ukraine, die durch ihren allgegenwärtigen Präsidenten die sofortige Vollmitgliedschaft fordert, tutto e subito, wohl kaum ohne Ermutigung durch ihre amerikanischen Verbündeten, die jemanden brauchen, der für den Wiederaufbau des Landes bezahlt, wenn der Krieg vielleicht einmal beendet sein und die USA sich zurückgezogen haben wird. Mitte Juni verkündete von der Leyen auf Twitter, wie so oft in diesen Tagen in Blau und Gelb gekleidet und wie immer kitschige Töne nicht scheuend, dass "die Ukrainer bereit [sind], für die europäische Perspektive zu sterben. Wir wollen, dass sie mit uns den europäischen Traum leben" (Ukrainians are ready to die for the European perspective. We want them to live with us the European dream).
Doch was ein Einzug in Brüssel in Rekordgeschwindigkeit zu werden versprach, kam sehr bald zum Stillstand. Zumachst dürfte der Westbalkan protestiert haben, vor allem aber scheint den bestehenden Mitgliedstaaten, nachdem sich die Erregung nach der Bildschirmansprache Selenskyjs vor dem Europäischen Rat gelegt hatte, die Einsicht gekommen zu sein, dass ein Beitritt der Ukraine den EU-Haushalt endgültig sprengen müsste – ganz zu schweigen von dem oligarchischen politischen System des Landes, das Polen und Ungarn, die illiberalen Erzfeinde der liberalen Mehrheit des EU-Parlaments, wie skandinavische Demokratien aussehen lassen würde.
In dieser Situation war es Olaf Scholz, der – ganz a la Merkel – die Notbremse zog, indem er forderte, dass die EU vor der Aufnahme neuer Mitglieder "Strukturreformen" durchführt, zu denen sie vorhersehbar nicht fähig ist. Einer seiner Vorschläge betraf die Zusammensetzung der Kommission. Heute gibt es für jeden Mitgliedstaat einen Kommissar, was ein Kollegium von 27 ergibt, schon jetzt zu groß, einer Brüsseler Redensart zufolge, als dass sich die Mitglieder, wenn die Kommission als Ganze tagt, ohne Ferngläser gegenseitig in die Augen schauen könnten. Dies ist allerdings kein Grund gerade für kleinere gegenwärtige und zukünftige Mitgliedstaaten, nicht auf einem Kommissionssitz pro Land zu bestehen, da die EU ihren Kommissaren deutlich mehr zahlt als die ärmeren Länder ihren Premierministern.
Eine Verringerung der Zahl der Kommissare erfordert eine Änderung der Verträge, der jeder Mitgliedstaat zustimmen muss. Zusätzlich forderte Scholz Ende August in einer Rede an der Karlsuniversität in Prag, die als Gegenstück von Macrons Sorbonne-Rede von 2016 aufgezogen war, schärfere Bestimmungen über „Rechtsstaatlichkeit“ in den Verträgen und wirksamere Befugnisse für die EU, Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen diese zu sanktionieren, wohl wissend, dass dies für Polen und Ungarn, und vermutlich auch für andere, inakzeptabel wäre. (Ferner schlug Scholz ein gemeinsames Luftverteidigungssystem für Europa vor, einzurichten von Deutschland zusammen mit benachbarten Mitgliedstaaten, unter Umgehung von EU und NATO). Scholz bestand außerdem auf Mehrheitsentscheidungen im Rat über die EU-Außenpolitik, wobei die Stimmen nach der Größe der Länder gewichtet würden, um den neuen Ostblock daran zu hindern, Deutschland und Frankreich auf Anregung der Vereinigten Staaten zu überstimmen. Allerdings kann jede Beendigung von Einstimmigkeit in der EU nur einstimmig beschlossen werden, eine Hürde, die selbst Angela Merkel nicht überwinden konnte.
Unterdessen lässt in Deutschland Außenministerin Baerbock, eine der Young Global Leaders des Weltwirtschaftsforums, die deutsche Öffentlichkeit wissen, dass der Krieg in der Ukraine „noch Jahre dauern könnte“ und dass „die Ukraine auch im nächsten Sommer noch neue schwere Waffen von ihren Freunden braucht". Abgesehen von der Abgeordneten von Rheinmetall, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Bundestagsabgeordnete für die FDP und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, sind die Grünen mit Abstand die kriegerischsten unter den deutschen Politikern.
Ein Grund könnte sein, dass sie eine Generation repräsentieren, die im Gegensatz zu den verachteten peaceniks von einst keinen Militärdienst zu leisten hat und dies auch in Zukunft ebenso wenig wird tun müssen wie ihre Kinder. Dies verleiht ihren unaufhörlichen Dankesbekundungen an die tapferen Ukrainer, die "unsere Werte verteidigen", indem sie ihr Leben nach Maßgabe einer – auf Männer begrenzten – strengen Wehrpflicht riskieren müssen, einen besonderen Beigeschmack. Es hilft auch, ihre uneingeschränkte Identifikation mit den Kriegszielen des jetzt regierenden Flügels des ukrainischen Nationalismus (Baerbock: "Auch die Krim gehört zur Ukraine... Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung. Und wir unterstützen sie finanziell und militärisch – und zwar so lange es nötig ist. Punkt.") zu verstehen. Die Entsendung von Waffen und die Beobachtung ihres Einsatzes aus der Sicherheit ihres Wohnzimmers heraus (auf Twitter finden sich jede Menge jubelnder deutscher Sesselberichte über ukrainische Artillerie, die russische Ziele trifft, ähnlich wie die Berichte von Ego-Shootern über ihre Erfolge in Computerspielen) geht einher mit fast täglichen Versicherungen, dass die NATO, einschließlich Deutschlands, niemals Truppen auf die ukrainischen Schlachtfelder schicken wird, wo Ukrainer "für uns alle kämpfen und sterben". Offensichtlich hilft dies den neuen Bellizisten, auf Krieg bis zum Endsieg zu bestehen und Verhandlungen über ein Ende des Krieges solange abzulehnen, wie der Krieg nicht schon mit einem bedingungslosen russischen Rückzug zu Ende gegangen ist.
Die Welt als großes Schlachtfeld
Bislang war die Vergrünung dessen, was die Deutschen einst Friedenspolitik nannten, bemerkenswert erfolgreich. Der Raum für eine legitime öffentliche Debatte über Krieg und Frieden hat sich dramatisch verengt. Der Chef des Verfassungsschutzes, mittlerweile unter Grünen beinah die angesehenste deutsche Bundesbehörde, fühlte sich bewogen, der Regierung öffentlich zu versichern, dass er ein wachsames Auge auf jeden haben wird, der behauptet, der russische Angriff auf die Ukraine könnte mit einer vorangegangenen amerikanischen Aufrüstung an der russischen Peripherie zusammenhängen – mit anderen Worten, auf alle Putinversteher. Dazu rezitiert die Presse wie das Evangelium als letzte Weisheit der internationalen Beziehungen das alte römische Sprichwort "si vis pacem para bellum", in Vergessenheit geraten unter dem Einfluss sentimentaler Friedensstifter wie Willy Brandt.
Auf diese Weise soll die neuere Erkenntnis überlagert werden, die zum Teil auf keinen Geringeren als Friedrich Engels zurückgeht, dass nämlich die Vorbereitung auf einen Krieg mit modernen Waffen ein Wettrüsten auslösen kann, das das genaue Gegenteil von Frieden zur Folge haben kann. Die beispiellose militärische Aufrüstung der USA in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, einschließlich der Aufrüstung der Ukraine nach 2014, die mit Abstand die eindrucksvollste Kriegsvorbereitung der Geschichte darstellte und obendrein mit der Aufkündigung aller Rüstungskontrollverträge aus der Zeit des Kalten Krieges einherging, darf in diesem Zusammenhang niemals erwähnt werden und wird es auch so gut wie nie, in den Zeitungen, Qualität oder nicht, im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen, in der Politik.
Tatsächlich ist alles Anathema, was sich auf die Vorgeschichte des Krieges bezieht, insbesondere die Minsker Verhandlungen und die Wintermonate des Jahres 2021. Die einzige Ausnahme ist jener mythische Moment, in dem "Putin", wer auch immer das sein mag, seinen völkermörderischen Hass auf alles Ukrainische entdeckte. Ein weiterer Glaubensartikel, der sich ideal für einen Loyalitätstest aus der credo quia absurdum-Schule eignet, ist, dass Russland – das nicht in der Lage war, Kiew, weniger als hundert Meilen von der russischen Grenze entfernt, zu erobern –, wenn es den Krieg in der Ukraine überlebt, in Finnland, den baltischen Staaten und Polen einmarschieren und diese erobern wird, gefolgt von Deutschland und, warum nicht, dem Rest Westeuropas, aus keinem anderen Grund als einer allgemeinen Verachtung für die europäische Lebensweise.
Dass der von der Bundesregierung drei Tage nach Kriegsbeginn angekündigte 100-Milliarden-Euro-Sonderverteidigungsetat erst in etwa fünf Jahren erste Wirkungen vor Ort entfalten wird, bedeutet deshalb nicht, dass er vergeudet wäre; es bedeutet nur, dass er mit dem Ukraine-Krieg als solchem nichts zu tun hat. Worauf sich Deutschland vorbereitet, ist eine Welt, die ein einziges großes Schlachtfeld ist, das ungeduldig auf out-of-area-NATO-Einsätze wartet, auf die globale Durchsetzung der Demokratie notfalls mit Waffengewalt und auf Gelegenheiten für überfütterte postheroische Bürger, von ihrem Sessel aus für westliche Werte einzutreten, in Befolgung von mit Nachdruck vorgetragenen Bitten ihrer amerikanischen Freunde.
Mitte August schickte Deutschland sechs Eurofighter-Kampfjets auf eine Reise um den halben Globus, nach Australien, auf dem Weg dorthin das chinesische Festland und Taiwan passierend, diesmal nur zu gemeinsamen Manövern mit Südkorea und Neuseeland, aber als Demonstration pflichtschuldiger Bereitschaft zu mehr. Zur Vorbereitung ließ die deutsche Presse treuherzig verlauten, dass "das neue strategische Konzept der NATO China als Herausforderung erwähnt". Eines der sechs Kampfflugzeuge erwies sich als defekt und musste zurück nach Hause gebracht werden, aber die übrigen fünf kamen sicher an ihrem weit entfernten Ziel an, aufgetankt in der Luft von einem A330-Tankflugzeug, was die FAZ stolz auf den Stand der deutschen martial arts machte. Die Reise folgte der Entsendung der Fregatte Bayern durch die scheidende Regierung Merkel in den Indopazifik, früher bekannt als Südchinesisches Meer, zur Bekundung transatlantischer Loyalität und indopazifischer Entschlossenheit zugleich. So viel zu europäischer strategischer Souveränität.