Rote Roben, rote Linien: Wer wird Verfassungsrichter?
Die gescheiterte Verfassungsrichterwahl hat grundlegende Fragen zu starken Verfassungsgerichten in liberalen Demokratien aufgeworfen: Welche Eigenschaft sollten Kandidaten mitbringen? Und worauf ist in der Reformdebatte besonders zu achten?
Die gescheiterte Verfassungsrichterwahl am 11. Juli 2025 hat eine Debatte über die Prozeduren zur Bestellung von Richtern an das Bundesverfassungsgericht angestoßen. Wolfgang Weimer plädierte dafür, bei den Richterwahlen in Bundestag und Bundesrat zum Prinzip der einfachen Mehrheit überzugehen. Martin Nettesheim schlug in der FAZ vom 13. August 2025 eine Öffnung des Verfahrens für Eigenkandidaturen vor. Gerd Grözinger hat die Debatte dankenswerterweise auf Makroskop getragen und schlug den Einsatz eines Losverfahrens vor (ich werde auf diese Vorschläge ganz unten im Beitrag zurückkommen). Gertrude Lübbe-Wolff verteidigte im Interview mit der FAZ vom 27. August 2025 das bestehende Verfahren. Ich selbst habe kein Reformkonzept zu bieten, möchte die Debatte aber um einige Grundüberlegungen anreichern: Was hat es mit starken Verfassungsgerichten in liberalen Demokratien auf sich, welche Eigenschaft sollten zur Auswahl stehende Kandidaten insbesondere mitbringen, worauf ist in der Reformdebatte daher besonders zu achten?
Das etablierte Verfahren
Vergegenwärtigen wir uns zunächst das bestehende Verfahren. Es hat formale und informelle Komponenten. Die kodifizierten Bestimmungen finden sich in Artikel 93 des Grundgesetzes und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (sehen Sie dort die Paragrafen 6 und 7). Die sechzehn Richter (jeweils acht für beide Senate) werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt, das steht in der Verfassung. Ihre Amtszeit dauert zwölf Jahre. Daraus ergibt sich, dass im Schnitt ungefähr alle neun Monate eine Richterstelle zu besetzen ist.
Der Rest ist einfachgesetzlich geregelt: Der Bundestag wählt einen aus zwölf Mitgliedern bestehenden Wahlausschuss, der dem Bundestag einen mit Zweidrittelmehrheit zu entscheidenden Wahlvorschlag vorlegt. Der Ausschuss muss seinen Wahlvorschlag seinerseits mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen. Dass die Entscheidung des Ausschusses im Anschluss noch durch den Bundestag muss, wurde erst 2015 mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eingeführt und ist also relativ neu. Damit wollte man die Legitimität der Richterbestellung stärken (ausführlich Klaus Ferdinand Gärditz hier). Für den Bundesrat sieht das Gesetz ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit vor, aber es gibt keinen formellen Wahlausschuss. Die Vorabkoordination zwischen den Landesregierungen und den in ihnen vertretenen Parteien erfolgt ohne formale Regeln hinter den Kulissen.
Informeller Natur ist hingegen die Aufteilung der Vorschlagsrechte auf die Parteien. Sie erfolgt entlang eines Schlüssels, der sich in der Geschichte der Bundesrepublik mehrfach verändert hat. Derzeit nehmen an ihm die zentristischen Parteien CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP teil. Zwischen ihnen werden die Vorschlagsrechte im Verhältnis 6:6:2:2 aufgeteilt. Hat eine Partei das informelle Recht auf zwei Wahlvorschläge, ist sie im Schnitt ungefähr alle drei Jahre an der Reihe. Schlüssel und Mehrheitserfordernis hatten historisch eine inklusive Funktion: Es sollte verhindert werden, dass stets nur den jeweiligen Regierungsparteien nahestehende Personen zu Verfassungsrichtern bestellt werden (auf weitere Effekte werde ich unten zu sprechen kommen). Im Modus seit 2015 ist die Einigung im Richterwahlausschuss eine Voraussetzung, aber keine Gewähr für die Wahl zum Richter, wie die Vorgänge vom Juli 2025 zeigten.
Insgesamt beruht das Verfahren also auf drei Prinzipien: Die Parteien kontrollieren die Wahlvorschläge, die Auswahl erfolgt also genuin politisch. Das inklusive Prinzip erstreckt den Zugriff der Parteien auch auf Oppositionsparteien. Und erforderliche Zweidrittelmehrheiten in Wahlausschuss, Bundestag und Bundesrat sorgen dafür, dass nur Kandidaten aussichtsreich sind, die auch für die jeweils anderen Parteien zumindest irgendwie tragbar sind.
Die „Brandmauern“ als Elefanten im Raum
Die Verquickung verrechtlichter und informeller Elemente verdeutlicht, dass Reformdebatten über die Richterwahl selbst dann ein ungeklärtes Problem im Schlepptau haben, wenn sie sich auf formale Regeln wie das Mehrheitserfordernis konzentrieren: die „Brandmauern“ der zentristischen Parteien nach links und rechts. Der informelle Verteilungsschlüssel hat seine Inklusionsfunktion eingebüßt, weil nicht mehr alle gesellschaftlich relevanten und politisch repräsentierten Kräfte in ihm vertreten sind. Will man die Formel verteidigen, kann die Rechtfertigung gerade nicht mehr in gewünschter Inklusion bestehen, sondern in (vermeintlich) legitimer Exklusion. Das schlägt sich in den Auseinandersetzungen nieder, denn der Verteilungsschlüssel wird in allen Reformdebatten unweigerlich (und richtigerweise) mit auf dem Tisch liegen. Die ausgeschlossenen Parteien können Reformen, die ihre Exklusion perpetuieren, kaum mittragen und werden nachvollziehbarerweise gegen sie agitieren – mit all den Mitteln, die die digitale Welt so bietet. Läuft es so, bleiben die Konflikte um die Richterbestellung unbefriedet.
Neben den Legitimationsfragen wirft der Verteilungsschlüssel inzwischen aber auch ein ganz praktisches Problem auf: Die Personalvorschläge für die Richterstellen werden von Parteien monopolisiert, die im Bundestag zusammen nicht mehr über jene Zweidrittelmehrheit verfügen, die zur Richterwahl notwendig ist. Diese Konstellation ist erkennbar instabil. Das ist der (einzige) Hintergrund des von Wolfgang Weimer stammenden Vorschlags, das Mehrheitserfordernis im Bundestag (und mutmaßlich auch im Bundesrat) auf eine einfache Mehrheit zurückzuschrauben. Parteien, denen eigene Personalvorschläge verwehrt sind, sollen bei der Richterwahl im Bundestag mit einfacher Mehrheit überstimmt werden dürfen. Kurzum, die „Brandmauern“ strahlen in erheblichem Maße auf Fragen der Richterwahl aus. In den nachfolgenden Betrachtungen werde ich hierauf aber nicht den Schwerpunkt legen und mich stattdessen auf das Spannungsfeld von Recht und Politik konzentrieren.
Übergriffiges Verfassungsrecht
Verfassungsgerichte mit Mandat zur abstrakten Normenkontrolle – also der Befugnis, Gesetze zu verwerfen – sind historisch und im internationalen Vergleich keine Selbstverständlichkeit, wie ich in diesem Makroskop-Artikel eingehend ausgeführt hatte. Sie sind kein Merkmal der Demokratie an sich, sondern Bestandteil einer spezifischen Spielart, der so genannten liberalen Demokratie. Für starke Verfassungsgerichte sprechen gute Gründe. Verfassungsrechtlich ungezügelte Mehrheitsherrschaft kann den Grundrechtsschutz missachten und basale Freiheiten auf diesem Wege abräumen, man spricht dann von der „Tyrannei der Mehrheit“. Dem schiebt die abstrakte Normenkontrolle einen Riegel vor. Es ist also nicht zu bestreiten, dass die spezifisch liberale Demokratie ein Problem löst. Sie setzt illegitimer Mehrheitsherrschaft wünschenswerte Grenzen und ist, so wird es weithin gesehen, der Demokratie damit letztlich förderlich.
Aber das ist nicht die ganze Geschichte, sondern lediglich ihre Sonnenseite. Verfassungsrecht und demokratische Prozeduren befruchten sich nicht nur wechselseitig, sie stehen gegenseitig zudem unter latenter Spannung. Praktisch jedes politische Abwägungsproblem lässt sich auch in die juridische Sprache konkurrierender Grundrechtspositionen übersetzen und folglich einer rechtlichen statt politischen Lösung zuführen. Geschieht das umfänglich, werden demokratische Entscheidungsspielräume enger und Macht konzentriert sich zunehmend in den Händen technokratischer Verfassungsinterpreten. Das Verfassungsrecht wird übergriffig, zu Lasten der Demokratie: Das ist der Schatten auf der Rückseite der Sonnenseite.
Im internationalen Vergleich steht Deutschland für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit. In den aktuellen Debatten findet wenig Beachtung, dass die Stärke des Bundesverfassungsgerichts nicht nur in seiner starken Rechtsstellung besteht, sondern auch in der konkreten Handhabe des Prüfungsauftrags gegenüber legislativen und exekutiven Maßnahmen. Wenn Gerichte staatliche Eingriffe in Grundrechte prüfen, testen sie die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Dieser Test kann von Land zu Land unterschiedliche Formen annehmen.
Deutsche Gesetze müssen einen besonders harten Test bestehen (eine ausführliche Diskussion finden Sie auf den Seiten 1539-1542 hier). Denn Karlsruhe fragt nicht nur: Verfolgte der Gesetzgeber ein legitimes Ziel, waren seine Maßnahmen zur Zielerreichung auch wirklich geeignet, und hielten sich seine Eingriffe im Rahmen dessen, was hierfür wirklich notwendig war? Stattdessen legen die Richter großes Gewicht auf eine nachfolgende, weitere Stufe des Verhältnismäßigkeitstests und fragen: War der Eingriff auch wirklich angemessen, stehen Kosten und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis, kurz: war es das wert? Das besondere Rechtfertigungserfordernis, dass das deutsche Verfassungsrecht der Legislative und der Exekutive auf diese Weise auferlegt, war immer wieder Gegenstand von Kontroversen. Kritiker wie Ernst-Wolfgang Böckenförde (sehen Sie hier die Seiten 19-21) und Bernhard Schlink (dort auf den Seiten 152-153) haben darauf aufmerksam gemacht, dass der letzten Stufe des Verhältnismäßigkeitstests eine inhärente Übergriffigkeit innewohnt, weil sie sich Entscheidungen anmaßt, die eigentlich von der Politik getroffen und von ihr gegenüber den Wählern verantwortet werden sollten.
Die Balance verändert sich
Gesucht werden also nicht nur Mechanismen, die die Politik von Grundrechtsverstößen abhalten, sondern auch Wege, die latent stets vorhandene Übergriffigkeit des Rechts gegenüber der Politik in Schach zu halten. Das ist das Thema von Philip Manows letztem Buch „Unter Beobachtung“, das ich den Lesern von Makroskop hier nachdrücklich zur Lektüre empfohlen hatte. Wenn es gut läuft, handeln Regierungen und starke Verfassungsgerichte ihre jeweiligen Grenzen auf Augenhöhe aus und ermuntern sich gegenseitig zur Selbstbeschränkung. Denn einerseits hält sich die Politik mit zügellosen Grundrechtseingriffen zurück, wenn das Verfassungsrecht glaubhaft mit der Annullierung der betreffenden Gesetze drohen kann. Und andererseits sehen Verfassungsgerichte von allzu übergriffigen Entscheidungen ab, wenn der Gesetzgeber glaubhaft damit drohen kann, die Verfassungsinterpretation des Gerichts seinerseits durch Verfassungsänderungen zu überschreiben. So etwas erfordert typischerweise Zweidrittelmehrheiten in einer oder mehreren Parlamentskammern.
Das von Manow identifizierte Problem ist nun: Die Glaubwürdigkeit der Drohung mit Verfassungsänderungen schwindet mit dem Grad an Zersplitterung der Parteiensysteme. Auch für dieses Phänomen ist Deutschland beispielhaft: Wie wir oben sahen, verfügen die zentristischen Parteien, die derzeit noch die Richterbestellung für sich vereinnahmen, über keine eigenen verfassungsändernden Mehrheiten mehr. Das stört das Gleichgewicht von Politik und Verfassungsrecht, das Gewicht verschiebt sich zugunsten der Spielräume der Verfassungsgerichte. Hinzu tritt noch, dass alle in der Europäischen Union vertretenen Verfassungsordnungen von einem Europäischen Gerichtshof überwölbt werden, der seine Zuständigkeiten schleichend ausdehnt, zuletzt spektakulär auch auf die Vergabe der Staatsbürgerschaft. Manow sieht hierin eine Krisenerscheinung der liberalen Demokratie und befürchtet ein gegenseitiges Hochschaukeln von Verrechtlichung der Politik und populistischen Gegenreaktionen.
Was folgt aus alledem für die wünschenswerten Modi der Richterbestellung? Erstens, Verfassungsgerichte sind durchsetzungsstarke politische Vetospieler. Sie operieren in der Sprache des Rechts, definieren aber Grenzen der Gesetzgebung. Als mächtige Institutionen bedürfen sie ebenso wie Legislative und Exekutive der politischen Legitimation: Wenn alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll (so Artikel 20 des Grundgesetzes), schließt das namentlich auch die Judikative ein. Das spricht dafür, den Legitimationsstrang vom Parlament zum Verfassungsgericht nicht abreißen zu lassen. Zweitens, die latente Übergriffigkeit des Verfassungsrechts verlangt geeigneten Richterkandidaten spezielle Eigenschaften ab. Gewiss, sie sollen solide, zur methodischen Stringenz befähigte Juristen sein. Sie brauchen aber noch etwas anderes: Eine hervorgehobene Befähigung und Bereitschaft zur richterlichen Selbstzurückhaltung, ohne die sich die Spielräume der Demokratie nicht bewahren lassen.
Juristen mit Theorie und mit Agenda
Wenden wir den Blick nun vom Verfassungsgericht als machtvolle Institution auf die potenziell geeigneten Kandidaten für das Richteramt. Was bringen Juristen (mit oder ohne Zwischenstationen in der praktischen Politik) mit? Rechtswissenschaft ist zu einem beträchtlichen Teil Beschäftigung mit Rechtstheorie. Keine Theorie ohne Theoriekontroversen – die Theoriekörper, denen sich Juristen mehr oder weniger nahe fühlen, können auf fundamentale Fragen zum Wesen und zu den Aufgaben des Verfassungsrechts ganz unterschiedliche Antworten bereithalten.
Worin besteht eigentlich das spezifisch Juridische im Recht, im Unterschied zur Politik, und was folgt daraus? Woraus genau schöpft das Recht seinen Geltungsanspruch? Muss Recht, um Geltung behaupten zu können, im öffentlichen Diskurs oder im Fachdiskurs als vernünftig erkannt werden? Falls ja, ist als unvernünftig erkanntes Recht ein Recht zweiter Klasse, oder vielleicht sogar: gar kein Recht? Was tut ein Verfassungsrichter, wenn er Recht spricht: Fördert er lediglich etwas zutage, das unausgesprochen ohnehin schon im Recht schlummerte, oder schafft er neues Recht, das auch ganz anders aussehen könnte? Ist Recht lediglich das, was kodifiziert ist, oder gibt es hinter dem geschriebenen Recht ein vernünftiges, in der Rechtsprechung zur Geltung zu bringendes Naturrecht?
Und selbst wenn man sich zu einem ziemlich strikten Rechtspositivismus bekennt: Wo sind dessen Grenzen (oder gibt es keine)? Muss oder soll sich Verfassungs- und andere Rechtsprechung auch dann ausschließlich auf das geschriebene Recht berufen, wenn das erkennbar in Krisen oder sogar Katastrophen münden würde? Wie weit reicht die Befugnis der Rechtsprechung, Lücken im Recht zu füllen? Ist jede Diskrepanz zwischen einer erwünschten und einer vorgefundenen Regulierungsdichte bereits eine Rechtslücke? All diese Fragen haben offenkundige Implikationen für die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche von Politik und Recht. Kein Rechtswissenschaftler kommt ohne Verortung in solchen Theoriekontroversen daher – und falls doch, ist sie oder er bestimmt kein guter Jurist.
Aber das ist noch nicht alles. Niemand kann sich berufsmäßig mit Recht befassen, ohne eigene Vorstellungen davon zu entwickeln, wie dieses Recht idealerweise ausgestaltet sein sollte, mit anderen Worten: Juristen verfügen auch über eine mehr oder minder ausgeprägte rechtspolitische Agenda. Diese Agenden haben Affinitäten zu den politischen Programmen von Parteien und Verbänden. Das darf man sich natürlich nicht zu plump vorstellen: Ein guter Jurist ist kein Parteigänger. Gute Rechtswissenschaftler denken eigenständig und Affinitäten zu Parteiprogrammen und ähnlichem ergeben sich als Ergebnis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit kontroversen Materien, sie sind nicht ihr Ausgangspunkt. Das ändert aber nichts an der Diagnose: Letztlich wird sich bei Juristen, einschließlich potenzieller Kandidaten für das höchste deutsche Richteramt, immer eine Art von rechtspolitischer Agenda identifizieren lassen. Wer das leugnet oder auch nur kleinredet, will betrügen.
Die Parteien müssen eine gemeinsame Perspektive entwickeln
Entscheidend sind aus meiner Sicht nun die Anreize, die sich für die Politik ergeben, bestimmte Juristen ins Verfassungsgericht zu bringen. Politiker müssen die Rechtswirklichkeit vor ihren Wählern verantworten und brauchen daher Spielräume, diese Wirklichkeit zu gestalten. Als Ganzes betrachtet sollten sie daher ein Interesse an der Bestellung von Richtern haben, die die Befähigung und Bereitschaft zur Selbstzurückhaltung gegenüber politischen Gestaltungsspielräumen haben. Aus Sicht der einzelnen Parteien stellt sich die Sache aber anders dar: Sie haben durchaus einen Anreiz zur Nominierung von Kandidaten mit besonderer Neigung zur Übergriffigkeit in die politische Sphäre – solange die Richtung der Übergriffe denn mit ihren eigenen politischen Agenden übereinstimmt.
Genau hierin sehe ich den eigentlichen Reiz des in das gegenwärtige Verfahren eingebauten Konsensprinzips. Die Richterbestellung erfolgt politisch, nicht in Eigenregie des Gerichts oder etwa der rechtswissenschaftlichen Fachgemeinschaft: Richtig, so soll es sein. Nicht nur den Regierungsparteien in Bund und Ländern stehen Nominierungsrechte zu, sondern auch Oppositionsparteien: Auch richtig, damit sich am Gericht ein breites Spektrum an rechtspolitischen Agenden abbildet. Denken wir die Sache bis hierher, könnte man die Parteien die Richter entlang des Verteilungsschlüssels auch im Alleingang bestimmen lassen.
Zusätzlich gibt es aber die hohen Mehrheitserfordernisse im Richterwahlausschuss sowie in Bundestag und Bundesrat. Das zwingt die Parteien dazu, sich im Zuge der Kandidatenauswahl zumindest auch als Gesamtheit zu konstituieren. Das ist wertvoll. Denn die Interessen dieser Gesamtheit sind etwas anderes als die Summe der Interessen der Einzelparteien. In ihr kommt jener Anreiz zur Auswahl von Richtern mit Befähigung zur Selbstzurückhaltung zum Tragen, den die einzelnen Parteien wahrscheinlich nicht verspüren. Die Konsenszwänge bei der Richterwahl sollten daher ebenso unbedingt verteidigt werden wie der Grundsatz der politischen Auswahl und die Zugriffsrechte der Oppositionsparteien.
Reformoptionen auf dem Prüfstand
Falls Sie dieses Ergebnis teilen, können wir vor diesem Hintergrund noch einmal einen Blick auf die oben aufgerufenen Reformimpulse werfen. Wolfgang Weimers Plädoyer für einen Übergang zu einfachen Mehrheiten bei den Richterwahlen ist angesichts der hier angestellten Überlegungen klar abzulehnen. Einzuräumen ist freilich, dass damit auch ein instabiler Zustand bestehen bliebe: So lange die politischen „Brandmauern“ unverrückt bleiben, wird das Verfahren von Parteien okkupiert, die zumindest im Bundestag keine eigene Zweidrittelmehrheit mehr auf die Beine stellen können. Will man aus guten Gründen am supermajoritären Modus festhalten, muss man letztlich an die bisherigen roten Linien der Parteien heran: an die politischen Kooperationsverbote allgemein und an den Verteilungsschlüssel speziell.
Ich will nicht behaupten, dass das einfach ist, speziell im Fall der AfD. Ist das Problem jedoch gänzlich unlösbar? Ich bin nicht sicher. Was, wenn die zentristischen Parteien den Parteien an den Rändern ein Angebot folgender Art unterbreiteten: Wir gehen in eine mehrjährige Versuchsphase. Wir sind bereit, den Verteilungsschlüssel vorübergehend für Euch zu öffnen, bis jede Partei zumindest einmal mit einem Personalvorschlag an der Reihe war. Im Gegenzug erwarten wir von Euch Verständnis dafür, dass Eure Kandidaten durch spezielle Tests durchmüssen. Ihr nominiert renommierte Juristen, die Ihr achtet, die aber fern jedes Verdachts sind, Eure Parteigänger zu sein. Verstoßt Ihr hiergegen, werden wir nicht zögern, Eure Kandidaten im Richterwahlausschuss oder in der Vorabkoordination auf Länderebene stur abzulehnen. Das probieren wir aus und werden das Ergebnis in einigen Jahren evaluieren. Führt die Öffnung des Schlüssels zu Blockaden oder zu unerträglichen öffentlichen Schlammschlachten, werden wir ihn wieder schließen und uns nach alternativen Reformoptionen umsehen. Ich denke, die bisher ausgeschlossenen Parteien könnten so ein Angebot kaum ablehnen.
Martin Nettesheim geht es um den Hinterzimmer-Modus, in dem die Richterauswahl bisher erfolgt. Die Zeiten, sagt er, haben sich geändert: Hinter verschlossenen Türen getroffene und ohne Begründung verkündete Entscheidungen werden nicht mehr ohne Weiteres als legitim anerkannt. Er schlägt vor, freie Richterstellen am Bundesverfassungsgericht künftig öffentlich auszuschreiben. Der Richterwahlausschuss soll sich mit den eingegangenen Bewerbungen befassen und dem Bundestag im Anschluss nicht lediglich einen, sondern mehrere Wahlvorschläge vorlegen müssen. Will man für den Bundesrat parallel vorgehen, müsste mutmaßlich auch dort ein mit der Materie befasster Ausschuss eingerichtet werden, und den Wahlvorgängen in Bundestag und Bundesrat wären wohl – anders als bisher – entsprechende Parlamentsdebatten vorzuschalten.
Das erscheint diskutabel. Es sei aber darauf aufmerksam gemacht, dass der Vorschlag den Parteien ihr bisheriges Privileg der alleinigen Vorselektion der Kandidaten für das Richteramt aus der Hand nimmt. Das entfernt die Richterbestellung ein Stückweit von der Politik, wenn auch freilich nur geringfügig. Gefährlich wäre, den über die Politik verlaufenden Legitimationsstrang ganz zu kappen – weiter als von Nettesheim vorgeschlagen sollte die Öffnung des Prozesses daher nicht gehen. Alles weitere hinge von einer sorgsamen Evaluation der Implikationen des Vorschlags ab, vor allem im Hinblick auf die Bereitschaft, sich für das Amt des Bundesverfassungsrichters überhaupt zu Verfügung zu stellen: Die Aussicht auf die von Nettesheim angedachten Kampfabstimmungen in den Parlamenten könnte auf die qualifiziertesten Kandidaten auch so abschreckend wirken, dass sie lieber verzichten. Dann hätten wir möglicherweise ein offeneres und transparenteres Verfahren, aber schlechtere Richter.
Gerd Grözinger hat auf Makroskop den Einsatz eines Losverfahrens ins Spiel gebracht. Demnach soll jede im Bundestag vertretene Fraktion einen Personalvorschlag machen können. Eine Zufallsmaschine wählt aus ihnen dann den neuen Verfassungsrichter aus, wobei die Chancen der Kandidaten auf Grundlage ihrer Stärke im Bundestag gewichtet werden sollen. Bei Zweifeln an der Demokratie- und Rechtsstaatsfestigkeit des Gewinners soll der Bundestag dem Ergebnis der Lostrommel gleichwohl mit Zweidrittelmehrheit widersprechen dürfen. Ein analoges (aber etwas komplizierteres) Verfahren schlägt Grözinger für die vom Bundesrat zu bestimmenden Richter vor.
Wenn man so etwas zum ersten Mal hört, mögen sich ganz grundsätzliche Zweifel regen, ganz unabhängig von der Anwendung auf das Auswahlverfahren für Verfassungsrichter: Losverfahren bei der Besetzung von Verfassungsorganen? Ernsthaft? Ich kann aber versichern, dass der Einsatz solcher Verfahren in der Politikwissenschaft regelmäßig diskutiert und keineswegs von vornherein verworfen wird. Da geht es um die Besetzung von Bürgerräten und Organen mit Beratungsfunktion, aber auch um mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattete Parlamentskammern in bikameralen politischen Systemen und verschiedentlich tatsächlich auch um Gerichte. Es besteht kein Anlass, solche Optionen nicht gründlich durchzudenken. Einen Vorteil der Idee sieht Grözinger ausdrücklich im Entfallen der Notwendigkeit der Vorab-Koordination zwischen den Parteien und damit aber genau in dem Element, das auf Grundlage der oben angestellten Überlegungen – wenn man sie denn teilt – besonders wichtig und schützenswert erscheint.
Fazit
Insgesamt ist, so meine ich, Gertrude Lübbe-Wolff zuzustimmen: Das derzeitige Verfahren zur Wahl der Richter an das Bundesverfassungsgericht ist gar nicht mal so schlecht. Es kombiniert drei Elemente, die jeweils für sich und in Kombination erhaltenswürdig sind: Die starke Stellung der Parteien macht die Personalauswahl zu einem genuin politischen Vorgang; der ursprünglich inklusiv gemeinte, inzwischen aber exklusiv wirkende und daher defiziente Verteilungsschlüssel sorgt dafür, dass die Auswahl nicht von den Regierungsparteien monopolisiert werden kann; und das durch die hohen Mehrheitserfordernisse eingebaute Konsensprinzip hält die Parteien dazu an, über ihre Partialinteressen hinaus eine gemeinsame Perspektive einzunehmen. Den letztgenannten Punkt halte ich wegen der dem Verfassungsrecht inhärenten Neigung zur Übergriffigkeit gegenüber der Politik für besonders wichtig, gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Zersplitterung der Parteiensysteme.
Die Lehre aus der gescheiterten Richterwahl am 11. Juli 2025 ist daher meines Erachtens nicht, dass der derzeitige Wahlmodus durch etwas völlig anderes ersetzt werden müsste. Der Modus muss aber professioneller gehandhabt werden, als es die CDU/CSU im Juli 2025 vermochte. Diese Lektion wurde hoffentlich gelernt. Zudem hat der informelle Verteilungsschlüssel, in dem die zentristischen Parteien ihre Zugriffe auf Wahlvorschläge unter sich aufteilen, an Legitimität und Funktionalität eingebüßt, was ein allgemeines und größeres Problem aufwirft: die Weisheit der (zudem extensiv gehandhabten) politischen „Brandmauern“.