EU

Der Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit in Polen – 1

| 20. Oktober 2021
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Das polnische Verfassungsgericht bestreitet die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs, Urteile über die Rechtmäßigkeit der polnischen Justizreformen zu erlassen. Über die Hintergründe des Konflikts.

Mit dem Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2021 hat der seit 2015 zwischen der EU und Polen ausgetragene Konflikt über die polnischen Justizreformen eine dramatische Wendung erhalten. Dem Urteil zufolge ist die Europäische Union (EU) nicht befugt, in das polnische Justizwesen einzugreifen. Die Kommission hingegen kennzeichnet das Urteil als Verstoß gegen das Europarecht. Mehr noch, zahlreichen Beobachtern zufolge ist das polnische Verfassungstribunal seit 2015 illegal, weil zu regierungsnah besetzt.

Diese Kritiker haben ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf ihrer Seite. Die Standpunkte beider Seiten erscheinen unversöhnlich. Schon ist von einem drohenden Austritt Polens aus der EU die Rede. Was steckt dahinter?

Es ist sinnlos, um den heißen Brei herumzureden: Mit ihrer Politik der Bestellung von Verfassungsrichtern hat die polnische Regierung dem Trybunał Konstytucyjny die Zähne gezogen. Das polnische Verfassungsgericht ist derart regierungsnah besetzt, dass es als mächtiger Vetospieler gegen die Legislative und die Exekutive ausgeschaltet ist. Dass vom so zusammengesetzten polnischen Höchstgericht wichtige Reformvorhaben der PiS-Regierung als verfassungswidrig eingestuft und entsprechend verworfen werden, ist nicht zu erwarten. Die verfassungsrechtliche Normenkontrolle ist als Schranke gegen die Mehrheitsherrschaft also bis auf weiteres weg. Zudem hat die Regierung mit ihren Gesetzen zur Herabsetzung des Pensionsalters von Richtern, ihren Neuberufungen von Richtern und der Einrichtung der am Obersten Gericht angesiedelten Disziplinarkammer schwerwiegend in das polnische Justizsystem eingegriffen.

Starke Verfassungsgerichte sind ohne Alternative – oder?

Wenden wir uns zunächst der Bestellung von Verfassungsrichtern zu. Gute – demokratische, funktionale, moderne – politische Systeme verfügen über eine starke, als Vetopunkt ausgestaltete Verfassungsgerichtsbarkeit mit dem Recht, Gesetze zu verwerfen, wenn sie nicht im Einklang mit dem inländischen Grundrechtskatalog stehen. Wer Mitglied in der EU sein und bleiben möchte, muss ein solches Verfassungsgericht vorweisen können – so sollte man meinen und hiervon scheinen die meisten Kommentare zum Konflikt auszugehen. Ganz so einfach ist es aber nicht.

Die Auffassung, dass Demokratien solche zur judicial review befugten Verfassungsgerichte brauchen, um demokratisch zu sein, markiert nämlich nur das eine, liberale Ende eines Kontinuums. Dieser Sicht zufolge sollen politische Systeme vor allem den Schutz individueller Rechte gegenüber dem Gesetzgeber gewährleisten. Die Mehrheitsherrschaft ist daher durch umfangreiche checks and balances zu begrenzen. Dem stehen republikanische Auffassungen gegenüber, die von einem Primat des über den Individualrechten stehenden Gemeinwesens ausgehen. Schützenswert ist aus dieser Sicht vor allem, dass das Gemeinwohl auch wirklich zur Geltung kommt. Was das Gemeinwohl ist, lässt sich nur demokratisch ermitteln. Dem Mehrheitswillen sollen im Anschluss möglichst wenige institutionelle Schranken entgegenstehen.

Wir wollen uns nicht anmaßen, den altehrwürdigen Streit zwischen beiden Auffassungen entscheiden zu können. Der wichtige Punkt ist hier lediglich, dass die Geschichte der politischen Systeme unterschiedlicher Länder unterschiedliche Lösungen hervorgebracht hat – auch und gerade auf dem europäischen Kontinent. Die Legitimität der unterschiedlichen Lösungen wurde von europarechtlicher Seite bisher nicht bestritten.

Ein kleiner Rundflug über Europa

Der britische Fall illustriert die Heterogenität der innereuropäischen Verfassungsmodelle am deutlichsten, war Großbritannien doch 47 Jahre lang Mitglied von EWG, EG und EU, ohne über ein Verfassungsgericht oder auch nur eine geschriebene Verfassung zu verfügen. Es galt das Prinzip der Parlamentssouveränität, constitutional review im amerikanischen oder deutschen Sinne hat es nie gegeben und würde in der britischen Tradition als demokratiewidrig empfunden. Das war ein Grund dafür, warum Großbritannien mit der starken Stellung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im politischen System der EU ein größeres Problem hatte als viele kontinentaleuropäische Länder.

Auch die Finnen haben nichts, das wir als Verfassungsgericht bezeichnen würden. Um die Verfassungskontrolle von Gesetzen kümmern sich nicht Gerichte, sondern ein parlamentarischer Verfassungsausschuss, also: Politiker. Und selbst dieser Ausschuss war bis 1995 nicht in der Verfassung kodifiziert. Ganz ebenso halten es die Schweden.

Ähnlich interessant sind die Niederlande, in denen ein Artikel der Verfassung der Judikative ausdrücklich verbietet, Gesetze auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen (sehen Sie selbst: Artikel 120). Auch hier obliegt die Aufgabe der Verfassungskontrolle dem Parlament, genauer: der Ersten Kammer. Außerhalb der EU, aber ebenfalls auf dem europäischen Kontinent stoßen wir auf den ähnlich gelagerten schweizerischen Fall: Artikel 190 der schweizerischen Bundesverfassung sieht ausdrücklich vor, dass Bundesgesetze für die Judikative verbindlich sind. Eine Aufhebung von Gesetzen durch das schweizerische Höchstgericht ist bis heute nicht vorgesehen, obwohl diese Möglichkeit immer wieder diskutiert wurde.

Darüber hinaus gibt es Länder, die die Modalitäten ihrer Verfassungsgerichtsbarkeiten während ihrer EU-Mitgliedschaft gewechselt haben. Das gilt für die Gründungsmitglieder Frankreich und Belgien. Seit Gründung der Fünften Republik im Jahr 1958 verfügt Frankreich mit dem Verfassungsrat über ein Verfassungsgericht, aber erst seit 1975 kann die Opposition die Prüfung der Grundrechtskonformität von Gesetzen durch den Conseil Constitutionnel beantragen. In Belgien erfolgte die Gründung eines mit der Kontrolle von Gesetzen beauftragten Verfassungsgerichtshofs noch später, im Jahr 1985. Ein Grenzfall ist Luxemburg, wo – wiederum etwa zehn Jahre später – zwar 1996 ein Cour Constitutionnelle eingeführt wurde, der im internationalen Vergleich von Verfassungsgerichtsbarkeiten aber so schwach ist, dass vergleichende Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler den Fall nicht als judicial review klassifizieren.

Gewiss: Für die Frage, ob die faktische Ausschaltung des polnischen Verfassungsgerichts als Vetopunkt in Gesetzgebungsverfahren irgendwie gut oder zumindest zu rechtfertigen ist, sind die Ergebnisse unseres Rundflugs über den Kontinent nicht informativ. Dasselbe gilt für alle anderen Dimensionen der polnischen Justizreformen, besonders für die Richterbesetzungen am Obersten Gericht (vergleichbar mit unserem Bundesgerichtshof) und für die dort angesiedelte Disziplinarkammer.

Die Beobachtungen veranschaulichen aber, dass – und warum – das europäische Primärrecht keine spezielle Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit gebietet, weder hinsichtlich der Existenz solcher Gerichte noch ihrer Befugnis zur Kontrolle von Gesetzesinhalten und ganz zu schweigen von den Modalitäten der Richterbestellung. Daher enthält das europäische Primärrecht auch keine Vorgaben zu den Fachgerichten unterhalb der Verfassungsgerichte. Ganz im Gegenteil sind europäische Organe angesichts der gegebenen Heterogenität gehalten, die mitgliedstaatlichen verfassungsmäßigen Strukturen zu achten (Artikel 4(2) EUV und Artikel 72 AEUV).

Auf diese Umstände verweist die PiS-Regierung, wenn sie europäische Eingriffe abzuwehren versucht. Und ob einem das nun gefällt oder nicht: Der polnische Einwand hat Gewicht, die polnische Regierung hat einen nachvollziehbaren Punkt. Die Kommission und der Europäische Gerichtshof beharren gleichwohl auf europäischen Eingriffsmöglichkeiten. Betrachten wir die in Stellung gebrachten Instrumente eingehender.

Das Artikel-7-Verfahren

Unumstritten ist, dass die europäischen Verträge trotz Abwesenheit einer EU-Kompetenz zur Koordination oder Harmonisierung der innereuropäischen Gerichtsbarkeiten seit den Amsterdamer Vertragsreformen von 1997 eine Eingriffsmöglichkeit vorsehen: das Artikel-7-Verfahren. Mitgliedstaaten können gemäß Artikel 7 EUV sanktioniert werden, wenn sie die Grundwerte der EU in schwerwiegender Weise verletzten. Zur Spezifikation dieser Grundwerte verweist Artikel 7 auf Artikel 2 EUV, in dem explizit auch die Rechtsstaatlichkeit aufgerufen wird.

Das Verfahren ist zweistufig. In einer ersten Stufe geht es um die Feststellung der Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EUV genannten Grundwerte. Dafür ist im Rat eine Mehrheit von vier Fünfteln der Mitglieder notwendig. Diese Stufe wurde 2017 gegen Polen eingeleitet und ein Jahr später auch gegen Ungarn. Sie zielt auf naming and shaming sowie Dialog im Rat. Zu Auflagen oder Strafen kommt es hier nicht.

Anders in der zweiten Stufe des Verfahrens: Wenn der Rat darüber hinaus eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte festgestellt hat, kann er den Entzug der Stimmrechte des betroffenen EU-Mitglieds beschließen. Dieser Ratsbeschluss muss aber einstimmig fallen, unter Ausnahme des betroffenen Mitgliedstaats. Wegen der Partnerschaft zwischen Polen und Ungarn ist diese Einstimmigkeit im vorliegenden Fall nicht erreichbar. Das Artikel-7-Verfahren befindet sich also in der Sackgasse. Daher die aktuelle Suche nach alternativen Instrumenten. Sie alle dienen dem Ziel, das vetoanfällige Verfahren zur Feststellung und Sanktionierung der Verletzung fundamentaler EU-Grundsätze nach Artikel 7 EUV strategisch zu umgehen.

Vertragswidrige Richterbestellung?

Vor diesem Hintergrund hat die Kommission im Jahr 2018 begonnen, Polen wegen Vertragsverstößen vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen (des Weiteren erreichten den EuGH entsprechende Fälle über das so genannte Vorabentscheidungsverfahren). Damit erhoffte sich die Kommission, die politisch blockierte Problemlösung durch richterliche Vorgaben im Namen des Europarechts ersetzen zu können. Dieser Schritt war durchaus gewagt, fehlen den Verträgen doch – wie wir oben sahen – Ansagen zur Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Justizsysteme. Dass der EuGH der Kommission in mehreren Urteilen gleichwohl gefolgt ist, sollte Kenner des EuGH nicht verwundern.

Der EuGH stützt sich dabei neben Artikel 2 EUV auf Artikel 19 EUV, der in der Tat vom Gerichtswesen handelt. Adressiert wird hier aber vor allem die EU, nicht die Mitgliedstaaten: Artikel 19 beschreibt die Aufgaben und die Zusammensetzung des Europäischen Gerichtshofs sowie die Klagebefugnisse bzw. -wege. Die Mitgliedstaaten sind lediglich insofern angesprochen, dass sie die erforderlichen Rechtsbehelfe zur Gewährleistung von Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen schaffen sollen. In einer Serie von seit 2019 ergangenen Urteilen nutzte der EuGH die genannten Vertragsbestimmungen gleichwohl, um gegen die polnischen Regelungen zur Richterauswahl (C-824/18), zum Ruhestand von Richtern (C-192/18, C-619/18), zu Richterversetzungen (C-487/19) und zur Disziplinarkammer (C-791/19, C-204/21) vorzugehen. Das Urteil des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021, auf das ich im zweiten Teil eingehender zu sprechen kommen werde, spricht diesen Entscheidungen die Legitimität und die Anwendbarkeit auf Polen ab.

Dass der EuGH seine Befugnis zur Rüge von Justizreformen wie den polnischen mutig in das europäische Primärrecht und namentlich in Artikel 19 EUV hineingelesen hat, sollte offenkundig sein. Aber Vorsicht: Diese Feststellung entscheidet nicht darüber, ob der EuGH die Vertragsbestimmungen nun aufs Äußerste gedehnt oder vertragswidrig überspannt hat. Das lässt sich nicht objektiv entscheiden und allgemein sind proaktive Ausdeutungen von Verfassungsbestimmungen für Verfassungsgerichte, nicht nur für den EuGH, nichts Ungewöhnliches. Und ein über dem EuGH stehendes Appellationsgericht, vor dem sich solche Entscheidungen anfechten ließen, gibt es nun einmal nicht (die Debatte über ein denkbares Kompetenzgericht habe ich kommentiert).

Das Ganze hat aber einen Preis, gezahlt in der Währung „Legitimität“: Der EuGH ist darauf angewiesen, dass seine Entscheidungen als begründet und gerecht wahrgenommen werden. Es kann nicht verwundern, dass der EuGH von den betroffenen Ländern und anderen Beobachtern hier als politischer Akteur wahrgenommen wird, der zudem als „Richter in eigener Sache“ fungiert, indem er seine eigenen Eingriffsmöglichkeiten ausweitet.

In einer Hinsicht erscheint mir der vom EuGH in Stellung gebrachte Verweis auf Artikel 19 EUV jedenfalls zumindest nicht fernliegend: Sofern die polnische Disziplinarkammer Vorlagefragen unterer Gerichte an den EuGH sanktioniert, liegt der Verdacht eines Verstoßes gegen die an die Mitgliedstaaten gerichtete Gewährleistungspflicht nahe. Zwar ist einzuräumen, dass sich die Verträge darüber ausschweigen, ob und inwiefern das Vorabentscheidungsverfahren den Mitgliedstaaten Pflichten zu Vorlagefragen der Höchstgerichte oder der unteren Gerichte auferlegt. Aber der EuGH kann hier auf eine gefestigte Rechtsprechung zurückgreifen. Im Hinblick auf die Urteile zu den Richterbestellungen und -pensionierungen erscheint mir die Plausibilität hingegen geringer, entsprechend höher sind die Legitimitätskosten zu veranschlagen.

Im zweiten Teil lesen Sie, wie die EU versucht, den Konflikt über finanziellen Druck zu lösen. Darüber hinaus wird es um die Eigenarten des Urteils des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021 gehen.