Editorial

Die Bombe in Brüssel

| 19. September 2024
IMAGO / ZUMA Press Wire

Liebe Leserinnen und Leser,

für Europa hat nicht nur meteorologisch der Herbst begonnen, sondern auch ökonomisch. Der Kontinent leidet unter schwachem Wachstum und voranschreitender Deindustrialisierung. Auch in Deutschland, dem größten Industrieland der EU, häufen sich die Zeichen des Niedergangs. Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden war nur das augenfälligste Symbol. Die Hiobsbotschaften von Volkswagen und ThyssenKrupp zeugen von der Krise des „europäischen Wachstumsmotors“.

Und als ob es noch irgendeines Beweises bedurfte, erschien am 9. September ein Bericht zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“, der es in sich hat – veröffentlicht unter der Leitung von keinem geringeren als Mario Draghi, dem ehemaligen EZB-Präsidenten und Ministerpräsidenten Italiens. Adam Tooze hat den 400-Seiten-Bericht ausführlich analysiert und die wichtigsten Daten zusammengefasst. Heraus kommt ein beunruhigendes Lagebild einer EU, die auf wichtigen Feldern wie Produktivität, Investitionen sowie Forschung und Entwicklung das Nachsehen hat. Mit anderen Worten: Die EU bietet trotz aller Raffinesse ihrer Regierungsführung dem europäischen Kapital nicht mehr die Plattform, um sich dem globalen Wettbewerb in der Größenordnung der USA oder Chinas zu stellen.

Was es nach Draghi braucht, um den Niedergang aufzuhalten? Zusätzliche Investitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr. Mehr als doppelt so viel Geld, wie der US-finanzierte Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa gepumpt hat. Doch Eric Bonse weiß: Ausgerechnet in Berlin, der Hauptstadt „des kranken Mann Europas“, will man keine Tabus fallen lassen.

Diese und weitere Artikel finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • Draghi und der Niedergang Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank fordert einen neuen Marshallplan für Europa - sonst drohe der Wirtschaft eine „langsame Agonie“. Doch ausgerechnet in Deutschland, wo die Krise schon mit Händen zu greifen ist, stößt er auf Widerstand. Eric Bonse
  • Draghis düsterer Blick auf Europa Weniger Produktivität, weniger Investitionen und weniger Forschung und Entwicklung – der Draghi-Bericht zeigt: die EU droht von den USA und China abgehängt zu werden. Adam Tooze
  • Wie geht es mit der Globalisierung weiter? Das Narrativ, das dem Weltwirtschaftssystem zugrunde liegt, wandelt sich. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs beruht die liberale internationale Ordnung auf freiem Waren-, Kapital- und Finanzverkehr – doch diese Struktur erweist sich zunehmend als anachronistisch. Dani Rodrik
  • Mikroökonomik darf nicht Grundlage der Makroökonomik sein Basiert die Makroökonomik auf mikroökonomischen Annahmen, übernimmt sie gleichzeitig ein fehlerhaftes Menschenbild. Denn Menschen sind selten rational oder nutzenmaximierend. Richard Murphy
  • Die organisierte Unverantwortlichkeit Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die Ursachen für den Verfall des Gemeinwesens kommen selten zu Sprache. Und damit bleibt auch die Debatte darüber aus, wie es besser werden könnte. Herbert Storn
  • Wir brauchen mehr direkte Demokratie Obwohl sich die Mehrheit der Deutschen mehr direkte Demokratie wünscht, hat die Ampel entsprechende Pläne der Vorgängerregierung ad acta gelegt. Dabei gibt es einige Argumente, die für sie sprechen. Heinz-J. Bontrup
  • Habermas gibt den Westen auf Ist Habermas‘ Setzen auf China als Erbe der Menschenrechte eine weise Hoffnung – oder nur das Klammern an einen Strohhalm, der irgendwann zusammenknickt? Heinrich Röder
  • Wachstumswahn und Wachstumsgrenzen Bleibt die Wirtschaftswissenschaft weiter in den Denkmustern und Theorien vom ewigen Wachstum gefangen, wird sie zunehmend destruktiv. Roland Pauli