Versagen der Institutionen

Die organisierte Unverantwortlichkeit

| 17. September 2024
IMAGO / Sylvio Dittrich

Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden ist nur die Spitze eines Eisbergs. Die Ursachen für den Verfall des Gemeinwesens kommen selten zu Sprache. Und damit bleibt auch die Debatte darüber aus, wie es besser werden könnte.

Am 9. September 2024 muss die seit 2021 neu gebaute Salzbachtalbrücke bei Wiesbaden wieder wegen eines Erdrutsches bei Rückbauarbeiten gesperrt werden. Am 10. September standen wegen Stromausfalls im gesamten Rhein-Main-Gebiet die Züge still. Nur wenige Tage später folgten Stromausfälle bei Straßenbahnen in Frankfurt. An einem Samstag im August 2024 sind beim Rhein-Main-Verkehrsverbund von dreizehn angezeigten Verbindungen innerhalb von zwei Stunden nur drei „als pünktlich gemeldet“, bei sechs ist „mit Verspätungen zu rechnen“ oder sind die „Anschlüsse gefährdet“, bei weiteren vier werden „alternative Verbindungen“ empfohlen. Am 18. September 2024 stürzt in Dresden die Carolabrücke ein. Die Chronik ließe sich noch lange fortsetzen.

Doch auch jenseits der Verkehrsinfrastruktur gibt es Ausfälle: Obwohl Kinder bereits ab einem Jahr seit 2013 einen gesetzlichen Anspruch auf einen Betreuungsplatz haben, fehlen über 400.000 Plätze und fast 100.000 Fachkräfte. An den Schulen sieht es ähnlich aus. In den Krankenhäusern fehlen Ärzte und Pflegekräfte. Gemeinsam haben Krankenhäuser und Schulen auch, dass in beiden Einrichtungen Studenten im „Profi“-Einsatz sind. Patrick Schreiner liefert auf MAKROSKOP ein schonungsloses Gesamtbild der vernachlässigten Infrastruktur.

Die Ursachen für den Verfall des Gemeinwesens kommen indes selten zu Sprache. Und damit bleibt auch die gesellschaftliche Debatte darüber aus, wie es besser werden könnte.

Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck wurde 1986 mit seinem Bestseller Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne fast ein wissenschaftlicher Medienstar. Das war kein Zufall, denn kurz vor Erscheinen des Buches erschütterte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl nach dem Vorfall 1979 auf Three Mile Island bei Harrisburg zum zweiten Mal die AKW-Ökonomie und das öffentliche Vertrauen in sie. Ulrich Beck ist die Erschütterung darüber, wie schnell das eingetreten ist, was er mühevoll der Öffentlichkeit vermitteln wollte, noch anzumerken, wenn er in seinem Vorwort zum Buch schreibt: „Vieles, das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde (…), liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart.“

Insofern sind die täglichen Nachrichten eine fast durchgängige Bestätigung von Becks Feststellung: „Die Risikogesellschaft ist eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden.“

Institutionen ohne Planungs- und Gestaltungsmacht

Doch was läuft hier schief? Beck beschreibt sehr zutreffend die „halbierte Demokratie“: „Nur ein Teil der gesellschaftsgestaltenden Entscheidungskompetenzen wird im politischen Prozess gebündelt und den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie unterworfen. Ein anderer Teil wird den Regeln öffentlicher Kontrolle und Rechtfertigung entzogen und an die Investitionsfreiheit der Unternehmen und Forschungsfreiheit der Wissenshaft delegiert.“ Und weiter: „Die politischen Institutionen werden zu Sachverwaltern einer Entwicklung, die sie weder geplant haben noch gestalten können.“

Man könnte aber noch weiter gehen: Die politischen Institutionen werden zu Sachverwaltern einer Entwicklung, deren Planung und Gestaltung sie bewusst zugelassen und deren Weg sie geebnet haben.

Zwei Jahre später legt Beck mit Gegengifte - Die organisierte Unverantwortlichkeit nach. Dort wird eine Situation beschrieben, die eigentlich eine politische Methode ist: „ein weitverzweigtes Labyrinth-System, dessen Konstruktionsplan nicht etwa Unzuständigkeit oder Verantwortungslosigkeit ist, sondern die Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Unzurechenbarkeit, genauer: Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit oder: organisierte Unverantwortlichkeit.“

Beck konstatiert: „Das alles überragende Merkmal dieser Epoche ist nicht ein physikalisches: die drohende Vernichtung, sondern ein gesellschaftliches: das prinzipielle, fast durchgängige, skandalöse Versagen der Institutionen ihr gegenüber."

Tatsächlich müssen Menschen täglich mit ansehen, dass sie zunehmend Gewalten ausgeliefert sind, die sie nicht beeinflussen können. Wenn Züge oder Busse ausfallen, wenn Brücken einstürzen oder die Kita nicht funktioniert, wenn Krankenhäuser und Notaufnahmen wegen Insolvenz geschlossen werden, dann macht sich Ratlosigkeit breit. Wen soll man zur Rechenschaft ziehen?

Wenn Unternehmen größere Umsätze haben als das Sozialprodukt ganzer Staaten, dann ist das politische Macht. Wenn Unternehmen wie BlackRock ihre Vorstellungen von Investitionen, Ökologie, Sozialpolitik und Vermögensverteilung allen deutschen DAX-Unternehmen vermitteln können, weil daran beteiligt, dann schränkt das die Macht gewählter Politiker entsprechend ein. Und wenn Berater-Konzerne wie KPMG oder PriceWaterhouseCoopers in den politischen Institutionen bereits Fuß gefasst haben, dann ist das nicht weniger als eine Usurpierung des Staates.

Trotzdem kommen Unternehmen, auch internationale, an den staatlichen Institutionen nicht (ganz) vorbei. Dabei helfen ihnen vor allem die Parteien. Ihnen räumt das Grundgesetz in Artikel 21 eine besondere Rolle „bei der politischen Willensbildung des Volkes“ ein. Doch aufgrund der ökonomischen Machtverhältnisse und der damit einhergehenden Hegemonie über die Köpfe, befördern Parteien den Einfluss eher, den große Unternehmen und ihre Wirtschafts- und Lobbyverbände auf die Politik ausüben, als ihn einzuhegen. Bekannt ist der „Drehtür-Effekt“, der dafür sorgt, dass entsprechende Regierungstätigkeit anschließend durch einen lukrativen Wechsel zu Wirtschaftsverbänden belohnt wird. Noch entscheidender aber ist der Einfluss der „Berater“.

Eine Folge dessen ist, dass Politiker oft nur „präsidieren“ wollen, statt zu gestalten oder gar einzuschreiten, wenn die Dinge in die Katastrophe laufen. Denn um zu gestalten und Wahlversprechen einzulösen, braucht es ganz banal Geld, das viele aber gar nicht wollen: Die jeweils regierende Koalition in Frankfurt am Main verzichtet seit 2007 auf 30 Hebesatzpunkte bei der Gewerbesteuer und damit auf inzwischen fast 2 Milliarden Euro – ungeachtet eines riesigen Nachholbedarfs beim Bau und der Sanierung von Infrastruktur. Genauso haben inzwischen fast alle Parteien die Forderung nach Aktivierung der Vermögensteuer aus den Wahlprogrammen gestrichen. Ähnliches gilt für die verfehlte Erbschaftsteuerreform. Von den Landesfinanzbehörden werden eher die Steuerfahnder verfolgt als die Steuerhinterzieher.

Und die Organisation „Finanzwende“ meldet jüngst eine weitere Entlastung von Wirtschaftskriminellen: Die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege im Handels- und Steuerrecht sollen von 10 auf 8 Jahre verkürzt werden. Die Folgen wären fatal für Ermittlungen gegen kriminelle Geschäfte wie CumEx, weil die Aufbewahrungsfrist damit deutlich kürzer wäre als die Verjährungsfrist für schwere Steuerhinterziehung, die wegen der komplexen CumEx-Ermittlungen sogar extra von 10 auf 15 Jahre verlängert wurde.

Damit wäre man wieder bei Ulrich Beck, der schrieb: „Die zentrale Frage, auf die die politische Entwicklung in der Gefahrenzivilisation sich zuspitzt, ist die Neuverteilung und demokratische Gestaltung der Definitionsmacht (…) andere Kontroll- und Steuerungsverhältnisse, andere Mitbestimmungsverhältnisse.“