Draghi-Bericht

Draghis düsterer Blick auf Europa

| 18. September 2024
IMAGO / ZUMA Press Wire

Weniger Produktivität, weniger Investitionen und weniger Forschung und Entwicklung – der Draghi-Bericht zeigt: die EU droht von den USA und China abgehängt zu werden.

Durch das herbstliche Europa geistert ein großer Bericht zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“, veröffentlicht unter der Leitung von Mario Draghi, dem legendären ehemaligen EZB-Präsidenten und Ministerpräsidenten Italiens. Seine Analyse ist faszinierend und dicht zu lesen. In Folge zeige ich einige der eindrucksvollsten Grafiken, wobei ich mich nur auf die Fragen der Investitionen, Forschung, Entwicklung und insbesondere auf den Vergleich mit den USA konzentriere.

Im Bericht heißt es:

(...) das Wirtschaftswachstum in der EU war in den letzten zwei Jahrzehnten langsamer als in den USA, während China rasch aufholte. Die Lücke zwischen der EU und den USA beim BIP zu Preisen von 2015 hat sich allmählich von etwas mehr als 15 % im Jahr 2002 auf 30 % im Jahr 2023 vergrößert, während sich auf der Grundlage der Kaufkraftparität (KKP) eine Lücke von 12 % gebildet hat. Die Kluft pro Kopf hat sich weniger vergrößert, da die USA ein schnelleres Bevölkerungswachstum verzeichnet haben, aber sie ist immer noch beträchtlich: In KKP ist sie von 31 % im Jahr 2002 auf heute 34 % gestiegen.

Abb. 1: BIP-Wachstum

Die Gesamtproduktion hängt von vielen Variablen ab, darunter die Gesamtgröße der Belegschaft und die Anzahl der Arbeitsstunden. Europa hat ein langsameres Bevölkerungswachstum und Europäer arbeiten weniger Stunden als Amerikaner. Aber was Draghi und sein Team beunruhigt, ist die Tatsache, dass rund 70 Prozent der Lücke zwischen dem Pro-Kopf-BIP und der Kaufkraftparität durch eine geringere Produktivität in der EU erklärt werden. Ein langsameres Produktivitätswachstum ist wiederum mit einem langsameren Einkommenswachstum und einer schwächeren Binnennachfrage in Europa verbunden: Auf Pro-Kopf-Basis ist das real verfügbare Einkommen in den USA seit dem Jahr 2000 fast doppelt so stark gestiegen wie in der EU.

Abb. 2: Lücke im BIP pro Kopf

Diese Kluft zwischen der europäischen und der US-amerikanischen Arbeitsproduktivität ist kein neues Phänomen. Sie war bereits im späten 19. Jahrhundert deutlich zu sehen. In den 1940er Jahren weitete sie sich bis zu einem Maximum aus. Das bemerkenswerte Wachstum Europas nach 1945 verkürzte die Lücke im Jahr 2000 zwar auf nur noch 10 Prozent. Besorgniserregend aber ist, dass sich der Abstand zwischen 2000 und 2010 wieder auf 20 Prozent vergrößert hat und es seitdem keine Angleichung mehr gegeben hat.

Doch Draghi spricht nicht die historischen Zeitpunkte dieses Musters an: heißt, die Konvergenz von 1945-2000, die Divergenz von 2000-2010 und die parallele Entwicklung seit 2010. Was ist in den 2000er Jahren passiert und wo befindet sich Europa heute? Dennoch bieten die Draghi-Berichte eine Menge Material, um die Tatsache zu erklären, dass die europäische Produktivität niedriger ist und sich nicht wieder den USA annähert.

Um die Arbeitsproduktivität zu erklären, liegt es nahe, auf die Investitionen zu schauen. Arbeiter, die mit mehr Kapital ausgestattet sind, sind tendenziell produktiver. Der Draghi-Bericht liefert bemerkenswerte Daten darüber, wie der Anteil der Investitionen am BIP in Europa in den letzten 50 Jahren zurückgegangen ist.

Abb. 3: Entwicklung der Bruttoanlageinvestitionen in % des BIP

Der Anteil der europäischen Investitionen am BIP ist nicht nur zurückgegangen, sondern liegt auch hinter den Investitionen in den USA zurück. Nicht anders die öffentlichen Investitionen.

Abb. 4: Private und staatliche Investitionen

Kontraintuitiv ist, dass in den 2000er Jahren zwar die Arbeitsproduktivität in den USA schneller als in Europa anstieg, die privaten Investitionen in Ausrüstung, Infrastruktur und Innovation aber hinter denen der EU zurückblieben. Erst nach 2010 drehte sich das Verhältnis. Als die europäischen Volkswirtschaften im Zuge der Eurokrise in die Rezession fielen, stiegen die privaten Investitionen in den USA sprunghaft an und liegen seitdem mit 1,5 Prozent des BIP vor der EU.

Diese Lücke ist erheblich, aber womöglich nicht ausreichend, um den anhaltenden Produktivitätsunterschied zu erklären. Wo die USA wirklich in einer anderen Liga spielen als die EU, sind die innovationsrelevanten Investitionen, insbesondere beim Risikokapital.

Abb. 5: Investitionen in Risikokapital

Im Großen und Ganzen beträgt das Verhältnis zwischen den USA und Europa bei jeder Kennzahl und in jeder Phase des Risikokapitals vier zu eins.

Abb. 6: Risikokapitalinvestitionen nach Entwicklungsstadium

Das wiederum macht es einfacher, den enormen Vorteil der Vereinigten Staaten zu verstehen, wenn es um neue Unternehmen mit einem Volumen von mehr als einer Milliarde Dollar geht. Der Anteil Europas an diesen Unternehmen liegt weltweit bei nur 8 Prozent, verglichen mit 66 Prozent in den USA.

Abb. 7: Aktive Start-up-Unternehmen mit einer Bewertung über 1 Mrd. US-Dollar

Das ist sehr auffällig und zeichnet ein düsteres Bild für die EU. Es scheint darauf hinzudeuten, dass der Abstand zwischen den USA und der EU in den kommenden Jahren weiter wachsen wird. Zwar ist angesichts des harten Wettbewerbs zwischen den USA und China und der in den sektoralen Berichten hervorgehobenen Probleme nichts in Stein gemeißelt. Und der Draghi-Bericht zeigt Wege, mit denen Europa versuchen könnte, der Dynamik entgegenzuwirken, die zu weiteren Divergenzen führt.

Zumal eine starke und klare Korrelation besteht zwischen Lebensstandard, Innovation, der Intensität von Forschung und Entwicklung sowie der Arbeitsproduktivität.

In der wissenschaftlichen Forschung und im Patentwesen bleibt Europa nach wie vor ein wichtiger Konkurrent der Vereinigten Staaten und Chinas.

Abbildung 8. Quelle: EU-Kommission, DG RTD. Basierend auf Daten, die von Science-Metrix unter Verwendung der Scopus-Datenbank bereitgestellt wurden.

Doch wie kann das in einen großen Produktivitätssprung in der EU übertragen werden? Der Draghi-Bericht zeigt, dass die EU-Ausgaben zur Unterstützung von Forschung und Entwicklung gestreut und nicht wie in den USA konzentriert sind.

Abb. 9: Finanzierungsquellen für Forschung und Entwicklung in der EU und den USA

Die grundlegende Herausforderung für Europa besteht darin, seine starke Position in der Grundlagenforschung mit einem Anstieg der Investitionen zu verbinden. Und hier wird der Draghi-Bericht, der von einem historisch „beispiellosen“ Investitionsbedarf spricht, radikal:

Der Investitionsbedarf der EU in Höhe von 750-800 Mrd. EUR (jährlich) entspricht 4,4 % bis 4,7 % des BIP der EU (auf dem Niveau von 2023). Zum Vergleich: Die Investitionen im Rahmen des Marshallplans beliefen sich von 1948 bis 1952 auf 1 % bis 2 % des BIP. Um einen derart massiven Anstieg der EU-Investitionen zu erreichen, müsste der Anteil des BIP von heute 22 % auf etwa 27 % steigen, womit ein jahrzehntelanger Rückgang in den meisten großen EU-Volkswirtschaften umgekehrt würde. In Europa gab es seit der Nachkriegszeit keine vergleichbaren Investitionsquoten mehr (…).

Wie dieser Sprung nach vorn gelingen kann, sollte die europäische Politik sowohl in Brüssel als auch auf nationaler Ebene beschäftigen. Die ersten Warnungen kamen, wie zu erwarten, von Konservativen in Berlin, die die gemeinsame europäische Kreditaufnahme anprangerten.

Wie Europa zum gescheiterten Modell staatskapitalistischer Beziehungen wurde

Was stimmt nicht mit der europäischen Wirtschaft? Der Draghi-Bericht bietet mehrere Perspektiven auf diese für die Zukunft des Kontinents entscheidende Frage. Der Bericht argumentiert überzeugend, dass die Investitionen zu niedrig sind und das europäische Innovationssystem es versäumte, die beträchtlichen wissenschaftlichen Ressourcen Europas in eine globale industrielle Führungsrolle und unternehmerischen Erfolg umzumünzen.

Aber warum sind die Investitionen im Vergleich zu den USA so gering? Entscheidend ist die makroökonomische Politik: Der Umgang mit der Eurokrise war ein absolutes Desaster. Die Sklerose des europäischen Bankensystems hat die Dynamik des Kreditwesens verringert. So fordert der Draghi-Bericht erneut die Vollendung der Kapitalmarktunion.

Letztlich werden die Investitionen jedoch nicht so sehr von den Bedingungen des Kreditangebots bestimmt, sondern von der Kreditnachfrage, die vom Streben der Unternehmen nach Wachstum und Innovationen angetrieben wird. Warum war diese Nachfrage in Europa so schwach? Um Antworten zu finden, muss man sich mit der Geschichte bestimmter Unternehmen in bestimmten Sektoren und deren Wachstumsperspektiven befassen. Teil B des Draghi-Berichts enthält dazu viel.

Diese sektorale Perspektive ist erfrischend, weil sie sich von den faden Aggregaten der Makroökonomie abwendet und sich mit der Industrie- und Geschäftslogik von Unternehmen und Produzenten auseinandersetzt. Sie bringt uns der Antwort auf die Frage näher, warum das europäische Modell der kapitalistischen politischen Ökonomie so undynamisch ist. Oder anders formuliert: Wie ist Europa zu einem gescheiterten Projekt staatskapitalistischer Beziehungen geworden?

Vergleicht man die drei größten Ausgaben von Unternehmen für Forschung und Entwicklung in den USA und der EU zu drei Zeitpunkten in den letzten fünfundzwanzig Jahren, erhält man einen deutlichen Überblick über die Unterschiede. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die US-Führungsrolle in Forschung und Entwicklung dramatisch von der Automobil- und Pharmaindustrie – den Branchen der „zweiten industriellen Revolution“ – hin zur Technologie verlagert.

Im Gegensatz dazu ist es in der EU die deutsche Automobilindustrie, die seit einem Vierteljahrhundert an der Spitze steht. Wie der Draghi-Bericht kommentiert:

Die europäische Automobilindustrie ist forschungs- und entwicklungsintensiv. Genauer gesagt belaufen sich die F&E-Ausgaben auf rund 15 % der Bruttowertschöpfung der Industrie (was sie als ‚fortschrittliche Fertigung‘ qualifiziert). Mit einem F&E-Budget von 59 Mrd. EUR (2021) macht sie ein Drittel der FuE-Investitionen europäischer Unternehmen aus.

Umso beunruhigender ist es, dass die Position Europas in dieser wichtigen Branche so schnell erodiert. Seit dem Jahr 2000 ist die Fahrzeugproduktion in der EU um 25 Prozent zurückgegangen.

Wie der Draghi-Bericht feststellt, drohen die traditionellen europäischen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor in eine Sackgasse zu rollen. Die Branche befindet sich in einem gewaltigen technologischen Wandel – und bei all der Forschung und Entwicklung, die von VW, Daimler und Bosh aufgewendet wird, sind es nicht europäische Unternehmen, die wegweisend sind.

Insbesondere im schnell wachsenden Bereich der Fahrzeuge mit neuem Antrieb (batteriebetriebene – BEV – und Hybrid-Fahrzeuge – PHEV) hinkt die EU hinterher. Auf europäische Marken entfielen im Jahr 2022 nur 6% der BEV-Verkäufe in China (im Vergleich zu 25 % der Verkäufe von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor). Umgekehrt lässt Europa in diesem Bereich des Marktes Raum. Chinesische Marken machten im Jahr 2022 fast 4 % der BEV-Verkäufe in der EU aus, gegenüber nur 0,4 % drei Jahre zuvor. Darüber hinaus ist der Marktanteil der chinesischen Automobilhersteller bei Elektrofahrzeugen (BEV und PHEV) in Europa von 5 % im Jahr 2015 auf fast 15 % im Jahr 2023 gestiegen. Demgegenüber ist der Anteil der europäischen Automobilhersteller am europäischen Markt für Elektrofahrzeuge (Neuzulassungen) im gleichen Zeitraum von 80% auf 60% gesunken.

Zumal die europäischen Erzeuger zunehmend Schwierigkeiten haben, mit dem Tempo der Innovation und produktiven Investitionen Schritt zu halten. Obwohl die Arbeitskosten in China niedriger sind als in Europa, sind Chinas Automobilhersteller weltweit führend bei der Installation der neuesten Generation von Robotern.

Abb. 10: Automation in der Automobilindustrie

Ein Vergleich zur Automobilindustrie, in der Europa nach wie vor ein wichtiger Akteur ist, wird die europäische Präsenz in den großen Technologiebranchen immer marginaler. Der Anteil Europas auf dem Markt für Informations- und Kommunikationstechnologie ist unter die 20-Prozent-Marke gefallen, während der Anteil der USA von 30 auf 38 Prozent gestiegen ist.

Der Bereich der Telekommunikation ist Europa vor allem durch Fragmentierung gekennzeichnet. Dies kann kurzfristig gut für die Verbraucher sein und die Preise für Mobilfunkdienste senken. Aber es schränkt auch Investitionen ein und droht Europa in Zukunft in die Rolle des Verbrauchers und Regulierers fremder Technologien zu drängen.

Heute gibt es in der EU dutzende von Telekommunikationsunternehmen, die rund 450 Millionen Verbraucher bedienen, verglichen mit einer Handvoll in den USA und China. Den EU-Unternehmen fehlt es an der erforderlichen Größe, um den Bürgern einen flächendeckenden Zugang zu Glasfaser- und 5G-Breitband zu ermöglichen und Unternehmen mit fortschrittlichen Plattformen für Innovationen auszustatten. (…) Der EU-Markt für Festnetz-Breitbandnetz, auf dem die drei größten Betreiber einen gemeinsamen Anteil von 35 % in ganz Europa halten, ist zudem weniger konzentriert als der der USA (mit einem gemeinsamen Anteil von 66 %) oder China (mit einem gemeinsamen Anteil von 95 %). Die niedrigeren Preise in Europa sind zweifellos den Bürgern und Unternehmen zugutegekommen, aber im Laufe der Zeit haben sie auch die Rentabilität der Industrie und das Investitionsniveau in Europa verringert, einschließlich der Innovationen der EU-Unternehmen bei neuen Technologien, die über die grundlegende Konnektivität hinausgehen. (…) Die für die Unterstützung der EU-Netze erforderlichen Investitionen werden auf rund 200 Mrd. EUR geschätzt, um eine vollständige Gigabit- und 5G-Abdeckung in der gesamten EU zu gewährleisten. Die Pro-Kopf-Investitionen in Europa sind jedoch deutlich niedriger als in anderen großen Volkswirtschaften (…).

Abb. 11: Durchschnittliche monatliche Investitionsausgaben pro Einheit und Kopf

Laut Draghi-Bericht sank die Gesamtmarktkapitalisierung des Telekommunikationssektors in der EU von 2015 bis 2023 um 41 Prozent auf rund 270 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Die Marktkapitalisierung der US-Telekommunikationsbetreiber beläuft sich auf über 650 Milliarden Euro.

Beim Cloud Computing klafft eine ähnlich große Kluft zwischen den europäischen Anbietern und den US-Giganten.

Abb. 12: Marktkapitalisierung und Anteil der wichtigsten Cloud-Anbieter

Bei der Entwicklung von KI besteht laut Draghi-Bericht die Gefahr, dass Europa vollständig von im Ausland entwickelten Modellen abhängig wird.

Derzeit wird KI nur von 11 % der EU-Unternehmen genutzt (…), und 73 % der seit 2017 entwickelten grundlegenden Modelle stammen aus den USA und 15 % aus China. (…) Im Jahr 2023 wurden in der EU schätzungsweise 8 Mrd. USD an Risikokapitalinvestitionen in KI getätigt, verglichen mit 68 Mrd. USD in den USA und 15 Mrd. USD in China. Die wenigen Unternehmen, die generative KI-Modelle in Europa entwickeln, darunter Aleph Alpha und Mistral, benötigen große Investitionen, um wettbewerbsfähige Alternativen zu US-amerikanischen Akteuren zu werden. Dieser Bedarf wird derzeit von den EU-Kapitalmärkten nicht gedeckt, so dass EU-Unternehmen gezwungen sind, sich im Ausland zu finanzieren. Betrachtet man die weltweit führenden KI-Start-ups, so gehen 61 % der weltweiten Finanzierung an US-Unternehmen, 17 % an chinesische Unternehmen und nur 6 % an Unternehmen in der EU. (…) Die schwache Position der EU bei der Entwicklung von KI bedeutet, dass sie ihren Wettbewerbsvorteil in Zukunft in mehreren Industriesektoren möglicherweise nicht voll ausschöpfen kann, was das Risiko birgt, dass der Markt- und Wertanteil von EU-Unternehmen möglicherweise durch Nicht-EU-Akteure untergraben wird. Dazu gehört auch, dass die Vorteile der Digitalisierung industrieller Prozesse in der Automobilindustrie (…) und in der Robotik für die fortschrittliche Fertigung verloren gehen könnten.

Quatum Computing ist der nächste Ultra-High-Tech-Sektor, über den sich der Draghi-Bericht Sorgen macht. Noch einmal: Das Problem ist nicht, dass Europa in diesem Entwicklungsbereich abwesend ist. Sie hat eine relativ starke Position in der international relevanten Forschung.

Abb. 13: Anteil der Patente im Bereich Quantencomputing nach Segment und Land; CN: China; CA: Kanada; KR: Südkorea; CH: Schweiz; Au: Australien; IL: Irland; IN: Indien; Ru: Russland

So heißt es im Bericht:

Im Quantenwettlauf kann sich die EU auf wichtige Stärken wie hohe öffentliche Investitionen, hervorragende Kompetenzen und Forschungskapazitäten stützen. Mit bisher bereitgestellten Mitteln in Höhe von 7 Mrd. EUR liegt die EU nach China bei den öffentlichen Investitionen in Quanten weltweit an zweiter Stelle. Darüber hinaus hat die EU die höchste absolute Zahl (über 100.000) und die größte Konzentration quantenfähiger Experten (…) weltweit, exzellente Forschung in quantenwissenschaftlichen Publikationen mit mehreren Nobelpreisen sowie eine starke akademische und Forschungsinfrastruktur mit Schwerpunkt auf Quantentechnologien. Schließlich lag die EU zwischen 2000 und 2023 bei der Quantenpatentierung – basierend auf internationalen Patentfamilien – weltweit an zweiter Stelle (mit rund 16 %) hinter den USA (32 %), aber vor Japan (13 %) und China (10 %).

Das klingt vielversprechend, aber so Draghis Fazit: „Europa leidet im Vergleich zu anderen geografischen Blöcken unter sehr begrenzten privaten Investitionen in Quantentechnologien.“

Man muss nur auf dem Pharmasektor blicken, in dem Europa seit vielen Jahrzehnten eine relativ starke Position einnimmt. Neue Entwicklungen werden vor allem durch Aufwendungen in Forschung und Entwicklung getrieben. Wo? In den Vereinigten Staaten! Der Anteil der USA ist doppelt so hoch wie der der EU.

Ein anderes Beispiel ist der Raumfahrtsektor. Auch hier bemängelt der Draghi-Bericht, dass die EU zwar kritische Weltrauminfrastrukturen finanziert, besitzt und verwaltet. Sie hat strategische Mittel und Fähigkeiten von Weltrang entwickelt, verfügt über technische Kompetenzen, die in den meisten Bereichen mit denen anderer Weltraummächte vergleichbar sind. Ein Beispiel ist Galileo, dass in der Satellitennavigation die genauesten und sichersten Positions- und Zeitinformationen liefert. Allerdings, so heißt es weiter,

hat die EU ihre führende Marktposition bei kommerziellen Trägerraketen (Ariane 4-5) und geostationären Satelliten verloren. Das Unternehmen musste sich vorübergehend auf die Space-X-Raketen verlassen, um die Satelliten für sein strategisches Programm Galileo zu starten. Auch bei Raketenantrieben, Megakonstellationen für Telekommunikation sowie Satellitenempfängern und -anwendungen hinkt die EU den USA hinterher, was einen viel größeren Markt darstellt als die anderen Raumfahrtsegmente.

Abb. 14: Staatliche Ausgaben für Raumfahrtprogramme

Das Problem: Wie die Rüstungsindustrie leidet auch die Raumfahrt unter einer ausgeprägten Investitionslücke zu ihren großen Wettbewerbern. Wie der Draghi-Bericht festhält, bewegten sich die Investitionen in den letzten vierzig Jahren zwischen 15 und 20 Prozent des US-Niveaus:

Im Jahr 2023 beliefen sich die öffentlichen Raumfahrtausgaben in Europa auf 15 Milliarden US-Dollar, verglichen mit 73 Milliarden US-Dollar in den USA. Es wird erwartet, dass China Europa in den nächsten Jahren überholen und bis 2030 Ausgaben von 20 Mrd. USD erreichen wird.

Infolgedessen sind die chinesischen Aufwendungen für Weltraumstarts zu spektakulären Ausmaßen angewachsen, während die europäischen Aufwendungen ins Stocken geraten sind.

Auf Europa entfallen nur 10 % aller rund 6.500 institutionellen Satelliten (Zivil- und Verteidigungssatelliten), die von 2023 bis 2032 weltweit gestartet werden sollen.

Abb. 15: Masse der Starts im Rahmen institutioneller Raumfahrtprogramme

Seit der Eurokrise ist klar, dass die Beziehungen zwischen Big Business und der EU-Governance zutiefst dysfunktional sind. In den 2010er Jahren wurden die konservativen Strategien der makroökonomischen Steuerung zu katastrophalen Rohrkrepierern. Der Draghi-Bericht macht deutlich, dass die EU trotz aller Raffinesse ihrer Regierungsführung dem europäischen Kapital nicht mehr die Plattform bietet, um sich dem globalen Wettbewerb in der Größenordnung der USA oder Chinas zu stellen. Die Antwort liegt nicht in innenpolitischen Deflationsstrategien auf Kosten der europäischen Arbeitnehmer oder in der Kürzung der öffentlichen Ausgaben.

Was wir brauchen, sind größere Märkte, mehr Investitionen und mehr Innovation. Notwendig ist eine grundlegende Neuausrichtung der Politik hin zu nachfrage- und innovationsgetriebenem Wachstum. Die Verteidigung des Status quo, wie sie die europäischen Konservativen sowohl in der Industrie- als auch in der Fiskalpolitik befürworten, bietet keine Sicherheit, sondern nur ein Rezept für einen weiteren schleichenden Niedergang und die zunehmende Abhängigkeit von technologischen Innovationen aus den USA und China.