Volksentscheide

Wir brauchen mehr direkte Demokratie

| 18. September 2024
IMAGO / PEMAX

Obwohl sich die Mehrheit der Deutschen mehr direkte Demokratie wünscht, hat die Ampel entsprechende Pläne der Vorgängerregierung ad acta gelegt. Dabei gibt es einige Argumente, die für sie sprechen.

Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn sich drei politisch unterschiedliche Parteien in einer Regierungskoalition streiten, man könnte auch sagen, um richtige politische Entscheidungen ringen? Es ist die DNA dialektischer Auseinandersetzungen von These, Antithese und Synthese – ob in einer nur indirekten oder auch direkten Demokratie.

Die Presse schreibt aber unisono, das sei nicht gut. Streit würde die Wähler zutiefst verunsichern und die Glaubwürdigkeit von Parteien untergraben. Das Volk wolle Harmonie. Wenn sich Konflikte nicht vermeiden lassen, dürfe die Politik diese zumindest nicht öffentlich austragen. Es müsse zunächst in Hinterzimmern ein Kompromiss gefunden werden, bevor man sich ans Volk wende. Wie Kompromisse zustande gekommen sind, würde dieses überhaupt nicht wissen wollen und auch nicht interessieren.

Selbst einmal unterstellt, das wäre so, verschweigen ließen sich die Meinungsverschiedenheiten dennoch nicht. Jede Partei würde auch nach einer Kompromisseinigung ihre Position, schon aus Eigeninteresse, deutlich machen; und dann würde die zunächst vorgespielte Harmonie an diesem Punkt spätestens ihr klägliches Ende finden. Man kann also nur entscheiden, Streit vor oder nach dem Kompromiss.

Die unvollkommene parlamentarische Demokratie

Der große französische Philosoph Jean- Jacques Rousseau (1712-1778) schrieb schon 1762 im dritten Buch seines Gesellschaftsvertrages: „Das englische Volk glaubte ein freies Volk zu sein; aber es täuscht sich gar stark; es ist bloß frei in dem Augenblicke, wo es die Parlamentsmitglieder wählt; sobald es diese gewählt hat, ist es Sklave, ist es nichts mehr.“[1]

Rousseau kritisiert die „Vertretung“ in einer nur indirekten Demokratie, schreibt der Altphilologe und Historiker Professor Luciano Canfora von der Universität Bari (Italien). Rousseau „legt den Finger weitsichtig auf einen desaströsen Effekt des repräsentativen Regierungssystems: die Mutation, wie wir heute sagen würden, der gewählten Vertreter zu einer politischen Kaste (unabhängig davon, welcher politischen Richtung sie angehören), ihr grundsätzliches Abgehobensein von den Interessen derjenigen, die sie zu ihren Vertretern bestimmt haben; ihre Funktionsweise in Entscheidungssituationen als ein selbstreferentielles System. Rousseau kritisiert diese Übel auf einer logischen und philosophischen, aber auch – ohne daß er es ausdrücklich sagt – rechtlichen Ebene. Eine Warnung also, die die künftige Entwicklung vorausahnt.“[2]

Zwar geht vom Volk theoretisch alle Staatsgewalt aus, in Wirklichkeit überträgt aber in einer indirekten Demokratie jeder mit seiner Stimme die politische Entscheidung auf Politiker und Parteien. „Die Bürger sind, was politisches Entscheiden angeht, weitestgehend auf Wahlen beschränkt. Volksabstimmungen sind im Grundgesetz nur für etwaige Länderneugliederungen ausdrücklich vorgesehen“, konstatiert die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff.[3] Hier gilt dann die Erkenntnis des langjährigen SPD-Parlamentariers Herbert Werner: „Der Wähler legitimiert mit seiner Wahl die Entscheidungen, die anschließend gegen ihn getroffen werden.“

Das geht sogar so weit, dass sich der amtierende Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Kritik am Vorgehen der Bundesregierung bei der Übereinkunft mit den USA über eine Stationierung weitreichender Atomwaffen auf deutschen Boden verbietet. Es spreche nichts dagegen, über dieses Thema im Bundestag offen zu sprechen, sagte Pistorius am Rande eines Besuchs im US-Bundestaat Hawaii. „Aber es ist originär kein Thema, was zuvor im Parlament diskutiert werden müsste.“

Das Volk, der Souverän, kommt ihm dabei überhaupt nicht mehr in den Sinn. Und auch, um hier nur ein schwerwiegendes weiteres Beispiel zu nennen, haben die Volksvertreter bei dem ins Grundgesetz geschriebenen Aufrüstungsprogramm über 100 Milliarden Euro das Volk nicht gefragt.

Darüber beklagt sich ex-post der Wähler. Das erstaunt, weil er sich zuvor damit einverstanden erklärt hat, seine aktive politische Entscheidungsgewalt an das Parlament abzugeben, oder zumindest nicht gegen die Machtübertragung opponiert hat. So wird das Individuum gesellschaftlich passiv gestellt.

Ist die politische Entscheidung im Parlament erst einmal gefallen, das Volk aber unzufrieden mit dem Ergebnis, muss es durch Demonstrationen oder ähnliches um einiges aktiver werden als noch vor der Wahl, um diese Beschlüsse rückgängig zu machen. Das gelingt jedoch in der Regel nicht mehr. Der Schweizer Philosophieprofessor an der Universität Freiburg im Breisgau, Andreas Urs Sommer, fragt:

„Wer verurteilt uns denn zu einer aktiven Teilhabe, wenn das passive Sein des modernen Staatsbürgers – Steuern zahlen, Gesetze einhalten und gelegentlich meckern – sich bequem und entlastend anfühlt? Eine solche Haltung scheint in völligem Einklang mit der resignativen, für so viele intellektuelle Sachwalter der Moderne typischen Haltung bloßen Geschehenlassens zu sein.“[4]

Das Ergebnis nennt man dann wohl Politikverdrossenheit oder Rückzug ins Private, oder besser: Parteienverdrossenheit. Nur nehmen Parteileute, die gern gegen ‚Politik‘- und ‚Staatsverdrossenheit‘ polemisieren, den letzten Begriff nicht gerne in den Mund. Es kommt der bitteren Wahrheit, der radikalen Wirklichkeit, gefährlich nahe, schreibt Johannes Heinrichs, Professor für Sozialökologie an der Humboldt Universität Berlin.[5]

Politisch denkende und handelnde Menschen

Eine indirekte Demokratie kann dieses Dilemma nicht lösen. Nur eine direkte Demokratie, die als ein aktives Abstimmen des Bürgers über Sachfragen definiert ist, verlangt bei jeder politischen Entscheidung auch eine aktive Partizipation. Direktdemokratische Entscheidungsverfahren durch Bürgerentscheide gibt es in Deutschland auf der entscheidenden politischen Bundesebene aber nicht, obwohl sich das laut repräsentativen Umfragen eine große Mehrheit im Volk wünscht.  

Auch auf Landes- und kommunaler Ebene, wo zwar direktdemokratische Entscheidungsverfahren möglich sind, be- und verhindern rechtliche Hürden jene immer wieder. Um nur einen Fall zu nennen: Die Berliner Landesregierung weigert sich bis heute, den mehrheitlich angenommenen Volksentscheid zur entschädigten Enteignung aller Wohnungseigentümer mit mehr als 3.000 Wohneinheiten im Land Berlin umzusetzen.

In einer direkten Demokratie werden jedem wahlberechtigen Individuum die politischen Entscheidungen nicht abgenommen, egal, wie sehr man auch versucht, seine Entscheidungen zu manipulieren. Aktive demokratische Partizipation impliziert immer, sich neu zu orientieren, sich neu aufzustellen. So bleibt man gleichzeitig ein politisch denkender und handelnder Mensch. Ansonsten ist man in einer Gesellschaft nur ein politischer Idiot. Nur Erziehung und Bildung kann hier Abhilfe schaffen.

 Gertrude Lübbe-Wolff stellt in ihrem Buch Demophobie heraus, wie direktdemokratische Wahlen die Sachkompetenz der Bürger stärken. Informieren sich Bürger über Sachthemen, weil sie in der zugehörigen Entscheidung mitwirken können, verbessern sie nicht nur ihr Wissen über die spezifischen Themen, die zur Abstimmung stehen, sondern auch ihre allgemeine staatsbürgerliche Kompetenz. Jeder ernsthafte Versuch, sich eine Meinung zu bilden, stärkt die Fähigkeit, auch über den konkreten Fall hinaus kluge Entscheidungen zu treffen. Das trägt dazu bei, dass die Demokratie – einschließlich ihrer repräsentativen Elemente – besser funktioniert. Zudem hat eine erweiterte direkte Demokratie positive Effekte auf die Kommunikation, Vernetzung und das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger.

Berechtigte Kritik?

Natürlich bedeutet realistisch direkte Demokratie keine Abschaffung der repräsentativen indirekten Demokratie. Es geht aber nicht mehr oder weniger als um eine den heute unvollkommenden Parlamentarismus ergänzenden direkten Volksentscheid bei grundsätzlichen politischen Entscheidungen, wie es in der Schweiz praktiziert wird. Sämtliche Grundgesetzveränderungen sind beispielsweise vom Volk zu entscheiden. Auch grundsätzliche Themen der Zuwanderung oder Renten- und Gesundheitsfragen gehören dazu, genauso wie Fragen zur Sozialpolitik und Staatsverschuldung.      

Gegen eine direkte Demokratie, oder sogar auch nur gegen direktdemokratische Elemente in einer ansonsten weiter parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, führt eine ökonomisch und politisch „privilegierte Komplizenschaft“ (Adorno und Horkheimer) Vorbehalte an.  Direkte Demokratien würden angeblich Demagogen begünstigen oder das Volk sei für Sachentscheidungen zu dumm, insbesondere, wenn es um ökonomische Entscheidungen gehe. Außerdem seien Ja-Nein-Entscheidungen zu simpel und kompromisswidrig. Das Volk würde rechtslastige oder zumindest konservative und linkslastige, jedenfalls unedle Entscheidungen treffen.

Auch sei eine direkte Demokratie unsozial und gefährde Minderheiten. In großen Volkswirtschaften wären Abstimmungen technisch nicht zu bewältigen und es fehle überhaupt an Verantwortung, weil man für das direktdemokratisch Entschiedene nicht mehr die gewählten Politiker verantwortlich machen könne.

Lübbe-Wolff widerlegt in ihrem Buch solche Argumente gegen eine direkte Partizipation von Bürgern. Vor allem der letzte Einwand sei das „von allen gegen die direkte Demokratie vorgebrachten Argumenten das kurioseste“. Die sogenannte Verantwortung begründet sich lediglich im Eigeninteresse des Politikers, der seine Abwahl fürchtet. Es ist nur eine politische oder ethisch-normative Verantwortung, aber keine Verantwortung mit persönlich-rechtlichen Folgen, wie wir sie alle bei einem Fehlverhalten zu tragen haben. Politiker können selbst Milliardenschäden verursachen, zu persönlichen Sanktionen kommt es selten. 

Auch in direkten Demokratien gibt es Streit, gibt es eine Dialektik, eine Auseinandersetzung vor der Abstimmung über einzelne Sachfragen der Bürger. Auch dieser Streit ist, wie in indirekten Demokratien, demokratisch konstitutiv und geboten, wobei die Abstimmungen an Prämissen geknüpft sind.

Ich kann als Bürger meine Entscheidung nur bei möglichst umfassenden und ausgewogenen Informationen sowie sachlich begründet treffen. Informationen sind aber nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung. Es fehlt immer noch an Wissen, das erst die komplexen Zusammenhänge zwischen den Informationen verständlich macht. Dies verlangt vom mündigen Bürger sich mit der zur Abstimmung stehenden Sachfrage wissensbasiert als eine Holschuld auseinanderzusetzen. Dazu benötigen die Bürger im Vorfeld der Abstimmung jedoch eine Unterstützung und auch eine angemessene Zeit, sich entsprechendes Wissen anzueignen.  

Selbst von einer allgemein repräsentativen Demokratie, die von direkten Volksentscheidungen lediglich ergänzt wird, ist Deutschland politisch aber noch weit entfernt. Wollte die große Koalition zumindest in der vergangenen Legislaturperiode eine Kommission einsetzen, um zu prüfen, ob und in welcher Form die parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie auf Bundesebene ergänzt werden kann, so stellt die „Ampel-Regierung“ nicht einmal mehr die Prüfung direktdemokratischer Entscheidungen durch das Volk in Aussicht.

Unvollendete Verfassung

Die deutsche Regierung hat es nicht gewagt, das Volk über eine EU-Verfassung, die zum 1. Januar 2006 in Kraft treten sollte, abstimmen zu lassen. Dies besorgte 2005 zustimmend mit einer notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit der Bundestag und Bundesrat.

Im Gegensatz zu Frankreich und den Niederlanden, wo sich die Bevölkerungen 2005 mehrheitlich gegen die EU-Verfassung ausgesprochen haben und so das heutige sogenannte „Europäische Haus“ nur auf einem EU-Vertrag basiert.

Den antidemokratischen Gipfel teilt sich die fehlende Abstimmung über die Einführung einer EU-Verfassung mit der Nicht-Umsetzung von Artikel 146 Grundgesetz (GG), der seit der Wiedervereinigung ermöglicht, per Volksabstimmung eine neue Verfassung zu erlassen. Nur, das Volk wurde vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober nicht zur Wahlurne gebeten. Der Verfassungsrechtler Hartmut Maurer stellt in diesem Zusammenhang fest:

„Es gibt nur zwei Alternativen, entweder Erlass einer neuen Verfassung durch die verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes (…) oder eine Verfassungsänderung, (…), wobei es durchaus möglich ist, daß die Voraussetzungen der Verfassungsänderung nach Maßgabe des Art. 79 GG geändert oder erweitert werden, etwa durch Einbeziehung eines fakultativen oder sogar obligatorischen Referendums (d.h. einer den parlamentarischen Änderungsbeschlüssen folgenden Volksabstimmung).“[6]

Das Bundesverfassungsgericht hat sich erstaunlicherweise lediglich in seinem Lissabon-Urteil zum Anwendungsbereich des Artikel 146 GG im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses geäußert:

„Das GG ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“

Das Bundesverfassungsgericht geht damit davon aus, dass der Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in einen Europäischen Bundesstaat auf jeden Fall einer Grundgesetzablösung durch eine neue Verfassung bedarf. Das aber würde zunächst die Umsetzung des Artikels 146 GG verlangen. Wo bleibt der Ruf, die Forderung des Volkes, an die Politik?    

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[1] Jean- Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag nach der Übersetzung von Johan Heinrich Gottlieb Heusinger, neu herausgegeben von Alexander Heine, Essen ohne Jahresangabe, S. 131.       
[2] Luciano Canfora, Eine kurze Geschichte der Demokratie, 5. Aufl., Köln 2023, S. 96f.
[3] Gertrude Lübbe-Wolff, Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten?, Frankfurt a.M. 2023, S. 11
[4] Andreas Urs Sommer, Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2022, S. 86
[5] Vgl. Johannes Heinrichs, Demokratiemanifest für die schweigende Mehrheit, Varna u.a. 2005
[6] Hartmut Maurer, Staatsrecht, Grundlagen, Verfassungsorgane, München 1999, S. 772