Streit ums Bürgergeld

Die blinden Flecken beim Streit um den Sozialstaat

| 11. September 2025

Der Streit ums Bürgergeld betrifft nicht nur sozialpolitische Kontroversen, er zeigt auch eine Unfähigkeit der herrschenden Wirtschaftspolitik, den Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie zu begreifen. 

Sebastian Müller hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Debatte um den Missbrauch des Bürgergelds nicht nur auf Bullshit beruht. Das Lohnabstandsgebot für dessen Leistungen werde durchaus verletzt, wenn auch nicht wegen der zu hohen Leistungen des Bürgergelds, sondern weil der gesetzliche Mindestlohn in vielen prekären Jobs unterlaufen werde. Man könne auch den Ärger von Leuten verstehen, die sich über die hohen Ausgaben der Jobcenter und Sozialämter für die Wohnungen von Migranten aufregen. Das könne man nicht, wie im linksliberalen Milieu üblich, auf Migrantenfeindlichkeit reduzieren.

Faktenverdrehungen und Ignoranz

Keine Frage, das Bürgergeld dient nicht nur der sozialen Grundsicherung in prekären Lebenslagen, es wird auch missbraucht. In Metropolen wie Berlin oder Köln und Ballungszentren wie dem Ruhrgebiet oder der Rhein-Main-Region gibt es Clans, die mit dem Bürgergeld organisierten Betrug betreiben. Aber das gehört als Bandenkriminalität in die Zuständigkeit der Polizei und nicht in die der Jobcenter und Sozialämter. Die haben eher das Problem, für ihre Klientel geeignete Jobs zu finden. Dazu gehören zum Beispiel Alleinstehende mit Kindern, die zu über 90 Prozent weiblich sind und ohne einen Kita-Platz oder Ganztagsbetreuung in der Schule kaum in der Lage sind, einen die Lebenshaltung sichernden Job anzunehmen.

Aber solche Fragen werden in der Debatte über die Reform des Bürgergeldes nur am Rande diskutiert. Im Zentrum steht die Behauptung, die den Bürgergeldempfängern gewährten Leistungen würden das Lohnabstandsgebot verletzen. Sie hat, wie ich in meinem Makroskop-Beitrag von 3. September gezeigt habe, keine Substanz, wenn man den gesetzlichen Mindeststundenlohn von 12,82 Euro als Maßstab nimmt.      

Das Lohnabstandsgebot wird nicht vom Bürgergeld missachtet, sondern vom Lohndumping und prekären Jobs in der Gastronomie und anderen Dienstleistungsbetrieben. Das Problem sind nicht die Sozialeinkommen, sondern die wachsende Zahl von Beschäftigungsverhältnissen, die die Armutsgrenze unterschreiten.

Auch die verbreitete Behauptung, die Übernahme von Mietkosten für Bürgergeldempfänger und das Wohngeld für Geringverdiener seien Ursachen für den aus dem Ruder laufenden Wohnungsmarkt, ist eine Verdrehung der Tatsachen. Dafür verantwortlich ist die Wohnungspolitik der vergangenen dreißig Jahren mit einem zum Erliegen gekommenen Bau von Sozialwohnungen und dem Verkauf von kommunalen Wohnungsgenossenschaften an börsennotierte Aktiengesellschaften und andere Kapitalanleger.

Generell zeigt die öffentliche Debatte über das Sozialbudget und seine Finanzierungsgrundlagen eine frappierende Ignoranz über Routinevorgänge in der Gesundheits- und Sozialpolitik. So behauptet etwa die Rheinische Post (10.9): „Bärbel Bas will die Beitragsbemessungsgrenze anheben.“ Auch in anderen Meldungen wird der Eindruck erweckt, die Arbeitsministerin wolle damit die höheren Einkommensgruppen stärker belasten.

Damit folgt sie aber nur gesetzlichen Vorgaben, die eine jährliche Anpassung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen (BBG, VPG) in den Sozialversicherungen an die Entwicklung des sozialversicherungspflichtigen Einkommens vorsehen. Von einer höheren Belastung von Besserverdienenden kann auch deshalb keine Rede sein, weil diese dank der BBG in der GKV mit einem wachsenden Einkommen einen sinkenden Beitragssatz zahlen.

Lebenslügen und Blindheit

Die Behauptung, wir könnten uns den Sozialstaat nicht mehr im gewohnten Umfang leisten, ist nicht nur Bullshit, sondern auch eine Lebenslüge ihrer Protagonisten in der Politik und der akademischen Lehre. Wäre das richtig, wäre auch die von ihnen favorisierte private Absicherung von sozialen und gesundheitlichen Risiken nicht finanzierbar, weil alle Absicherungen von Lebensrisiken unabhängig von ihrer ökonomischen Form sich aus der laufenden Wertschöpfung speisen.

Mit einer Umstellung der Rentenversicherung vom Umlagesystem auf ein Ansparsystem mit Kapitaldeckung verschwinden diese Kosten in Form von Beitragszahlungen nicht, sie werden nur in die Privathaushalte verlagert. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten, die in die Lohnkosten „eingehen wie der Kraftstoff für Maschinen oder das Futter für das Vieh“, so Piero Sraffa in seiner bahnbrechenden Arbeit „Warenproduktion mittels Waren“.[1]

Sowohl an den Lebenshaltungskosten der Versicherten als auch an den Lohnkosten der Arbeitgeber würde sich prinzipiell nichts ändern. Sie würden sich sogar in dem Maß erhöhen, wie man die Absicherung sozialer Lebensrisiken privatisiert.[2] Allein die Overhead-Kosten der Privatversicherungen sind deutlich höher als die von Sozialversicherungen. Die Vorstellung, mit einer Reduzierung der Sozialabgaben würden sich die Arbeitskosten verringern, ähnelt dem Glauben von Kleinkindern, es gäbe sie nicht mehr, wenn sie sich die Hände vors Gesicht halten.

Die herrschende ökonomische Lehre hat noch einen weiteren blinden Fleck in ihrer Agenda: die wachsenden Kosten für Dienstleistungen. Die lassen sich nicht mit dem Indifferenzkurvenschema der neoklassischen Ökonomie erklären, das die Preisgestaltung auf das Verhältnis von Angebot und Nachfrage reduziert. Dienstleistungen spielen in zweifacher Hinsicht in der Sozialstaatsdebatte eine besondere Rolle.

Zum einen entfallen 40 Prozent des Sozialbudgets auf gesundheitliche und soziale Dienste, mit einer weiter steigenden Tendenz. Personenbezogene Dienste werden wegen ihrer geringeren Rationalisierbarkeit stetig teurer als industriell hergestellte Güter, deren Preise relativ zu den Löhnen und Haushaltsbudgets sinken.

Wir geben heute für Konsumwaren einen deutlich geringeren Teil des Einkommens aus als vor 30 oder 40 Jahren, dafür sind die Kosten für Dienstleistungen wie die Gesundheitspflege relativ gestiegen. Der US-Ökonom William Baumol hat diesen Trend als „cost disease“ beschrieben.[3] Aber dabei handelt es sich nicht um eine Krankheit, also eine Abnormität, sondern um eine Art Naturgesetz.

Steigende GKV-Beiträge sind nicht die Folge einer Kostenexplosion oder einer alterungsbedingt steigenden Nachfrage, sondern ein für Dienstleistungen typischer Vorgang. Er senkt nicht den Lebensstandard, sondern führt zu Verlagerungen in den insgesamt steigenden Budgets der Privathaushalte. Die Ökonomen Joseph Schumpeter und Werner Sombart haben diesen säkularen Vorgang schon vor 100 Jahren als „Paternoster-Effekt“ (Sombart) beschrieben.

Dieser gesetzmäßige Trend hat auch indirekte Auswirkungen auf die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse in der Gastronomie und anderen persönlichen Diensten. Dort führt eine flächendeckende leistungsgerechte Entlohnung der Beschäftigten oft zu Preisen, die auf eine sinkende Zahlungsbereitschaft stoßen. Die Folgen sind in den Städten eine wachsende Spaltung des gastronomischen Angebots in Fast Food und Fine Dining, während in kleineren Orten die traditionellen Gastwirtschaften aussterben und die Versorgung mit Konsumgütern mehr und mehr von Versandunternehmen übernommen wird.

Für diese Entwicklung hat die neoklassische Ökonomie keine plausible Erklärung, weil ihre auf Marktbeziehungen und subjektive Präferenzen fokussierten Modelle den Zusammenhang zwischen menschlicher Arbeitskraft und Wertschöpfung ausblenden. Der Ökonom Werner Hofmann brachte diese Blindheit der Lehrbuchökonomie für die im Wertschöpfungsprozess liegenden Wurzeln der Wirtschaftlichen Entwicklung schon vor 60 Jahren auf den Punkt:[4]

„Man kann sich wohl schwerlich eine Theorie der Mechanik ohne das Hebelgesetz, eine Astronomie ohne die Lehre von der Gravitation, eine Biologie ohne Einsicht in die Vorgänge der Zellteilung denken. In der Ökonomie aber gedeiht eine Produktionstheorie ohne Konzept von dem Prozess der Wertschöpfung, und sie befindet sich wohl dabei.“ 

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[1] Piero Sraffa: Warenproduktion mittels Waren. Frankfurt am Main 1976 (Suhrkamp): S. 28
[2] Siehe mein Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“: https://mediashop.at/autorin/630-hartmut-reiners/
[3] William Baumol: The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t. New Haven CT 2013 (Yale University Press)
[4] Werner Hofmann: Das Elend der Nationalökonomie. Ders.: Universität, Ideologie, Gesellschaft, Beiträge zur Wissenschaftssoziologie. Frankfurt am Main 1968 (Suhrkamp): S. 137