Sozialpolitik

Soll der Sozialstaat nur für die Bedürftigen sorgen?

| 25. September 2024
IMAGO / teutopress

Ex-Caritas-Chef Georg Cremer fordert eine Rückbesinnung der Sozialpolitik auf ihre Kernaufgaben: die Unterstützung von Bedürftigen und Hilfe zur Selbsthilfe. Sein Vorschlag geht an den Strukturproblemen des Sozialstaats vorbei – und würde die Absicherung sozialer Risiken verteuern.

Der frühere Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes Georg Cremer hielt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 16.09.2024 ein Plädoyer für eine „Sozialpolitik in der Zeitenwende“ – mit einer Abkehr vom Versorgungsstaat und der Hinwendung zu einer „Politik der Befähigung“. Das Bedarfsprinzip müsse vom Bedürftigkeitsprinzip abgelöst werden und der Schwerpunkt der Sozialpolitik auf die Hilfe zur Selbsthilfe gelegt werden. Es könne unter den Vorzeichen der Klimawende, der Infrastrukturprobleme und des Ukraine-Kriegs nicht mehr um eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip gehen: „Schärfere Auseinandersetzungen über die Prioritäten in der Gesetzgebung und im Bundeshaushalt sind seit mehr als zwei Jahren unvermeidlich.“

Nun sind fiskalische Prioritätensetzungen angesichts der Trivialität, dass die Ressourcen endlich sind, nicht erst durch den Klimawandel und den Ukraine-Krieg erforderlich geworden. Letzterer belastet zudem die öffentlichen Haushalte nicht nur wegen der Waffenlieferungen, sondern auch mit der sozialen Grundsicherung für 1,6 Millionen in Deutschland registrierte ukrainische Flüchtlinge (Stand März 2024). Georg Cremer begibt sich auf dünnes Eis, wenn er die Einschränkung von Sozialleistungen mit den Kosten für die Unterstützung der Ukraine begründet.

Dieser Krieg ist wohl nur der Anlass, einmal mehr die Geschichte vom aufgeblähten Sozialstaat und dem allgemeinen Nutzen einer eigenverantwortlichen Absicherung zu erzählen. Georg Cremers Vorschläge laufen nicht, wie behauptet, auf eine zielgenauere Ressourcenverteilung im Sozialstaat hinaus, sondern auf eine Verteuerung der Absicherung sozialer Risiken und die Verschärfung von sozialen Disparitäten.     

Überversorgung im Sozialstaat?

Georg Cremers kritisiert das auf eine Vollversorgung für alle Bürgerinnen und Bürger orientierende Verständnis von sozialem Fortschritt. Damit würden Personengruppen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die darauf gar nicht oder nur begrenzt angewiesen seien. Das gelte vor allem für die Kinderbetreuung, die Pflegeversicherung und die Sozialrente.

Kitas

Der Bund hat den Ländern seit 2018 zehn Milliarden Euro für die Verbesserung der Kita-Versorgung zur Verfügung gestellt. Cremer kritisiert, dass mehrere Länder diese Gelder für einen generell kostenfreien Kita-Besuch genutzt haben. Davon hätten auch Eltern etwas, die sich Eigenbeteiligungen leisten könnten.

Wenn man die in der Kita-Betreuung fordert, müsste man sie konsequenterweise auch in den Schulen einführen wollen. Kitas sind keine sozialen Wohltaten, sondern allgemeine Bildungseinrichtungen, die keine Zugangsbarrieren haben dürfen. Selbstbeteiligungen führen zur sozialen Separierung, der Auftrag des Bildungswesens zur sozialen Integration würde unterlaufen.

Pflegeversicherung

Georg Cremer wendet sich gegen die von Wohlfahrtsverbänden und Pflegewissenschaftlern geforderte Pflegevollversicherung. Sie käme auch Besserverdienenden zugute und wirke „wie ein Erbenschutzprogramm“. Mit diesem Argument wurde schon immer gegen die soziale Pflegeversicherung polemisiert.

Aber das in ihr geltende Teilkaskoprinzip mit den die Pflegekosten nur begrenzt absichernden Leistungen hat, wie etliche Studien zeigen, starke Anreize zur Verlagerung der Pflegeleistungen in die Privathaushalte, was vor allem zu Lasten von Frauen geht. Sie scheiden oft wegen der Pflege von Angehörigen aus der Berufstätigkeit aus oder gehen in Teilzeitarbeit. Das verringert ihre Rentenansprüche und erhöht das Risiko, später von der Altersgrundsicherung abhängig zu werden.

Ein weiteres Problem bringt das ökonomisch nicht begründbare duale System von gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherung mit einer Beitragsbemessungsgrenze von 5.175 Euro im Monat (2024). Dadurch sinkt der reale Beitragssatz bei über dieser Grenze liegenden Versicherten mit wachsendem Einkommen. Zum Beispiel zahlen freiwillig Versicherte, die mehr als 10.000 Euro im Monat verdienen, einen nur halb so hohen Beitragssatz wie Versicherte mit einem Gehalt von 3.000 oder 4.000 Euro. Auf diese sozial und ökonomisch nicht begründbare Minderbelastung von Besserverdienenden geht Georg Cremer mit keinem Wort ein.

Rentenversicherung

Die von Sozialverbänden geforderte Anhebung des Rentenniveaus von 48 auf 53 Prozent des durchschnittlichen versicherungspflichtigen Einkommens lehnt Georg Cremer ab, weil sie auch „gutsituierten Rentnerinnen und Rentnern“ zugutekäme. Stattdessen sollten bei Personen, die trotz langer Arbeitszeit keine ausreichende Rente bekämen, die für die Berechnung der Rentenhöhe entscheidenden Punktwerte angehoben werden.

Dieser Vorschlag führt entweder zu höheren Leistungsausgaben und verschont dabei dank der Beitragsbemessungsgrenze die Besserverdienenden. Oder der Bund erhöht seine Zuschüsse zur Rentenversicherung, was die unteren und mittleren Einkommensgruppen härter trifft, weil das Steueraufkommen zur Hälfte aus Umsatz- und Verbrauchssteuern besteht und damit die Lebenshaltungskosten erhöht. Diese Wahl zwischen zwei schlechten Lösungen lässt sich nur mit sozialversicherungspflichtigen Mindestlöhnen vermeiden, die ein würdiges Leben ermöglichen und auch für höhere Renten der unteren Lohngruppen sorgen würde.

Auf diesen Zusammenhang von Arbeitseinkommen und Rentenfinanzierung geht Georg Cremer genauso wenig ein wie auf die Privilegien von Beamten und Besserverdienenden, die entweder gar nichts oder relativ zum Einkommen weniger als Durchschnittsverdiener in die Sozialversicherung einzahlen. Mit den Grundsätzen der christlichen Soziallehre ist diese Sonderbehandlung nicht zu begründen.

Sie hat erst recht keine ökonomische Legitimation. Die Krankenkassenbeiträge zum Beispiel könnten nach vorliegenden Berechnungen um durchschnittlich mehr als drei Prozentpunkte gesenkt werden, wenn alle Erwerbstätigen in sie einzahlen würden und die Beitragsbemessungsgrenze von gegenwärtig 5.175 Euro pro Monat auf das in der Rentenversicherung geltende Limit von 7.550 Euro angehoben würde. 

Schwachstellen des Sozialstaats

Georg Cremer hält unseren Sozialstaat trotz aller Mängel zwar für eine „Fortschrittsgeschichte“. Aber wegen der Herausforderungen durch den Klimawandel, die marode Infrastruktur und den Ukraine-Krieg komme es darauf an, dieses „historische, gesellschaftliche und kulturelle Erbe gleichzeitig zu erneuern.“

Dabei gehe es um drei Ziele: Die zielgenaue Verteilung der Ressourcen, die Reduzierung der Komplexität des Sozialstaats und die Befähigung zur Selbsthilfe. Diese politischen Handlungsebenen sind an sich unter Sozialpolitikern konsensfähig. Die Frage ist, wie sie mit welchen Maßnahmen angepackt werden sollen, wobei die beiden erstgenannten Ziele im Zusammenhang stehen.

Cremer verweist auf vorliegende Schätzungen, wonach die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger, die Anspruch auf ergänzende Grundsicherung im Alter haben, von Hilfesystemen nicht erreicht werden. Die Gründe dafür liegen vor allem in der Unkenntnis über Ansprüche und der Scham, sich als bedürftig zu bekennen.

Hier liegt ein zentrales Defizit unseres sozialen Sicherungssystems. Es besteht ein dringender Bedarf an Beratungsstellen, die durch den für die meisten Betroffenen intransparenten Dschungel von Sozialleistungen und ihren Trägern helfen. Dafür müssten aber Mittel bereitgestellt werden, die in den meisten ohnehin schon an ihren Kapazitätsgrenzen arbeitenden Kommunen nicht vorhanden sind. Man könnte auch an von allen Sozialleistungsträgern gemeinsam finanzierte wohnortnahe Sozialberatungen denken, aber auch die kosten zusätzliches Geld.

Das Problem der Unkenntnis über zustehende Sozialleistungen hängt mit dem zweiten von Cremer benannten Defizit unseres Sozialstaats zusammen: der organisierten Nicht-Nichtverantwortung und dem Fehlen eines sozialpolitischen „Gesamtplans“ (Cremer). Unser Sozialstaat ist nach dem Kausalprinzip strukturiert. Das heißt, die Leistungsträger werden nicht nach dem Aufgabenziel organisiert (Finalprinzip), sondern nach dem Anlass des Leistungsanspruchs. Zwar gibt es in den zwölf Sozialgesetzbüchern etliche Vorschriften zur ziel- und bedarfsorientierten Zusammenarbeit der Institutionen, aber sie greifen im Versorgungsalltag kaum.

Solange die für die soziale Sicherung zuständigen Organisationen diese Kooperationsdefizite haben, ist es auch sinnlos, von der Sozialpolitik eine Stärkung der Selbsthilfe zu fordern. Unter den gegebenen Strukturen der sozialen Sicherung läuft dieses Paradigma ins Leere. Es kommt vielmehr darauf an, die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Problemen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und der durch Abgaben und Steuern erworbenen Ansprüche nicht allein zu lassen und für eine aktive, auf die Bürgerinnen und Bürger zugehende Sozialberatung zu sorgen.

Subsidiaritätsprinzip oder allgemeine Sozialversicherung?

Georg Cremer sieht in den aktuellen Problemen der öffentlichen Haushalte die Chance, „dass wir gezwungen werden, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Das wäre eine Perspektive, die auch in bedrückenden Zeiten Hoffnung geben kann.“ Er will die Sozialpolitik weitgehend auf die Hilfe zur Selbsthilfe und die Unterstützung von benachteiligten und unverschuldet in Not geratenen Menschen begrenzen.

Diese von der katholischen Soziallehre und dem Ordoliberalismus geprägte subsidiäre Sozialpolitik verkennt, dass der Sozialstaat in modernen Zivilgesellschaften nicht nur für die Mühseligen und Beladenen zu sorgen hat, sondern auch für die Absicherung allgemeiner Lebensrisiken. Erwerbsminderung, Arbeitslosigkeit, Alterssicherung, gesundheitliche und pflegerische Versorgung können keine Privatsache sein und aus eigener Kraft bewältigt werden, wie es der Ordoliberalismus fordert.

Dessen Galionsfigur, der als Vater der „Sozialen Marktwirtschaft“ geltende Ludwig Erhard, fasste sein Bild von sozialer Sicherheit in seinem Buch „Wohlstand für alle“ (1964) wie folgt zusammen. Sie sei in hohem Maße wünschenswert, müsse aber „zuerst aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben erwachsen. Soziale Sicherheit ist nicht gleichbedeutend mit Sozialversicherung für allenicht mit der Übertragung der individuellen menschlichen Verantwortung auf irgendein Kollektiv.“ (Hervorhebungen im Original).

Die Granden des Ordoliberalismus wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Walter Eucken zeichneten in ihren knapp gehaltenen Entwürfen einer „Sozialen Marktwirtschaft“ das Bild einer im 19. Jahrhundert stehengebliebenen Gartenlaube-Idylle mit Eigenheim, Sparbuch, Mehrgenerationen-Familie und Nachbarschaftshilfe. Sie ist von der ökonomischen und sozialen Entwicklung längst zertrümmert worden, wenn es sie denn je gegeben hat.

Lebensrisiken wie Erwerblosigkeit, Alterung, Krankheit und Pflegbedürftigkeit lassen sich in der auf individueller Freiheit beruhenden Zivilgesellschaft nicht mit privat angesparten Ressourcen absichern, sondern nur mit einer Versicherung, also einem von Ludwig Erhard verachteten „Kollektiv“. Die entscheidende Frage ist, ob private Versicherungen diese Aufgabe effektiver und kostengünstiger erfüllen können als öffentliche Sozialversicherungen oder staatliche Versorgungssysteme.

Teure Privatisierung sozialer Risiken

Die von Georg Cremer postulierte subsidiäre Sozialpolitik läuft auf ein duales System von öffentlicher Grundsicherung für einkommensschwache Personen und eine womöglich steuerlich begünstigte private Absicherung von Lebensrisiken für alle anderen Bürgerinnen und Bürger hinaus. Das würde, so die Behauptung ihrer Protagonisten, im Nebeneffekt die Lohnkosten senken und das verfügbare Einkommen der Versicherten erhöhen.

Das ist ein Irrtum, denn mit der Verlagerung der Risikoabsicherung von der Sozialversicherung in private Assekuranzfonds wird sie nicht kostengünstiger, sondern teurer, wie ich an anderer Stelle ausführlicher zeige:

  • Eine Arbeitslosenversicherung wird von der Versicherungswirtschaft gar nicht angeboten. Die Arbeitsmarktrisiken sind von Bedingungen abhängig, die von ihren Aktuaren nicht in Versicherungsprämien kalkuliert werden können.
  • Das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung ist ökonomisch weniger krisenanfällig als das von den Unwägbarkeiten der internationalen Finanzmärkte und den Interessen von Kapitalanlegern abhängige Kapitaldeckungsverfahren. Dieses hat zudem hohe Overhead-Kosten in Form von Provisionen für Agenturen und Kapitalfonds. Es führt auch zu unerwünschten externen Effekten, zum Beispiel in Form von steigenden Preisen und Spekulationsblasen auf dem Immobilienmarkt als einem bevorzugten Anlagebereich von Pensionsfonds.
  • Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gibt für die gleichen Versorgungsleistungen ein Drittel weniger aus als die Private Krankenversicherung (PKV). Die Behauptung, ein einheitliches Krankenversicherungssystem führe zu einer schlechteren Versorgung und weniger medizinischer Innovation, ist aus der Luft gegriffen. Das duale System von GKV und PKV hat, wie auch der Wirtschafts-Sachverständigenrat einmal feststellte, keine ökonomische Legitimation.
  • Auch in der Pflegeversicherung bietet der von der PKV verwaltete private Zweig die gleichen gesetzlichen Leistungen wie die soziale Pflegeversicherung. Aber es gilt das Kostenerstattungsprinzip, was mit erhöhtem bürokratischem Aufwand für die Versicherten und ihre Angehörigen verbunden ist.

Die Verlagerung der Risikoabsicherung vom öffentlichen Sozialbudget in die Privatversicherung macht sie nicht kostengünstiger und senkt auch nicht die Arbeitskosten. Vielmehr erhöht sie die Lebenshaltungskosten, was bei den Tarifverhandlungen geltend gemacht wird. Das von der Wirtschaftspublizistik und Arbeitgeberverbänden gepflegte Mantra, mit einer Kürzung der Sozialabgaben durch Privatisierung würden die Lohnkosten sinken und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen gestärkt, gleicht dem Glauben von Kleinkindern, man würde sie nicht mehr sehen, wenn sie sich die Hände vors Gesicht halten.