Was macht der Ukraine-Krieg mit der EU?
Der Überfall von Putins Armee auf die Ukraine läute eine globale ‚Zeitenwende‘ ein, heißt es. Doch was wird aus dem Anspruch der EU, eine führende unabhängige Weltmacht zu werden?
Vor noch nicht allzu langer Zeit bekamen die EU-Granden, Aufgeschreckt von der Politik des US-Präsidenten Donald Trump – Strafzölle für EU-Handelsgüter, ‚Nato is obsolete‘, Unterstützung des Brexit usw. –, große Sorgen. Sorgen um die Stabilität der transatlantischen Allianz zwischen den USA und der EU. Von nun an verkündeten sie, die EU müsse eine eigenständige Weltmacht werden: militärisch, wirtschaftlich und handelspolitisch auf Augenhöhe mit USA, Russland und China. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen propagierte diese Vision mit markigen Stichworten: geopolitische Kommission, gemeinsame Armee der Europäer, strategische Souveränität der EU.
Strategische Souveränität sollte nicht nur auf militärischem Gebiet erreicht werden. Sondern auch als globale Führerschaft bei ‚Zukunftstechnologien‘, etwa bei der Chipfertigung, Big Data, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie und Netzwerktechnik, Bio-, Gen- und Nanotechnologie oder Neurowissenschaft und ‚human enhancement‘.
Was Aufrüstung und Militär betrifft, hat die EU zum Beispiel in der ‚Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit‘ (PESCO) oder dem EU-Rüstungsfonds eher schleppende bzw. bescheidene Fortschritte erzielt. Weder dort noch bei den ‚Zukunftstechnologien‘ erreicht sie auch nur annähernd ein Niveau ‚auf Augenhöhe‘ mit den USA oder China. Die strategische Souveränität der EU ist eine Fata Morgana.
Ukraine-Krieg: Der ausgeträumte Traum von strategischer Souveränität
Der Überfall Putins auf die Ukraine hat die NATO und den globalen Westen einmal mehr hinter der US-Geopolitik zusammengeschweißt. Symbolisch dafür ist auch die Norderweiterung der NATO um Schweden und Finnland.
Noch wenige Jahre zuvor erklärte Frankreichs Präsident Macron die NATO für „hirntot“ und lehnte auch eine weitere EU-Osterweiterung ab. Er forderte eine eigenständige Gleichgewichtspolitik der EU gegenüber Russland und ein verstärktes geopolitisch-militärisches Engagement der EU in der Sahelzone. Zu all dem herrscht nun betretene Stille in Paris. Dies auch wegen des Scheiterns der Mali-Operation (an der auch die Bundeswehr beteiligt war) und der früheren Sahel-Pläne von Macron.
Stattdessen entwickelt sich ein anderes Szenario:
- die vorherigen Bruchlinien innerhalb der EU (die ‚sparsamen Fünf‘[i], der EU-Süden, die osteuropäischen Visegrad-Staaten, die nur notdürftig zusammen gehaltene Führungsachse Berlin-Paris) bleiben unterschwellig bestehen und ergänzen sich mit neuen Konfliktlinien;
- das ‚deutsch-französische Führungsduo‘ ordnet sich der US Geopolitik unter (Stellvertreterkrieg in der Ukraine zwischen Russland und der NATO): Frankreichs Regierung bleibt eher zögerlich, Deutschlands Ampel agiert mit zunehmender Verve;
- US-Präsident Biden nutzt die loyalen Regierungen von Polen, Tschechien, der baltischen Staaten (und zunehmend auch Schwedens und Finnlands), um den Rest der EU vor sich herzutreiben und das deutsch-französische Tandem zu schwächen. Dies erinnert an die Strategie von US-Präsident G. W. Bush im zweiten Irak-Krieg: ‚New Europe‘ (EU-Osteuropa) in seiner Koalition der Willigen gegen ‚Old Europe‘ (Deutschland, Frankreich) in Stellung zu bringen;
- den angestrebten Energieboykott gegen Russland wollen einige besonders von russischen Gas- und Öllieferungen abhängige EU-Staaten nicht mittragen – nicht nur Ungarn und Bulgarien, sondern auch Österreich und Italien;
- die bekannten Konflikte der EU mit den Regierungen von Ungarn und Polen um ‚Rechtsstaatlichkeit und Demokratie‘ kochen medial wieder hoch. Ursula von der Leyen droht Orban mit finanziellen Sanktionen, hält sich aber alle Hintertüren für eine ‚gütliche Einigung‘ mit Ungarn offen. Die ungarische Regierung fordert hingegen ein Ende der EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Da diese (und neue) Sanktionen vom EU-Rat nur einstimmig beschlossen werden können, hat auch Orban ein Druckmittel.
- im östlichen Mittelmeer schrappt der Konflikt zwischen der Türkei und der griechischen Regierung um Erdogans Gebietsansprüche an einigen griechischen Inseln in der Ägäis und Explorationsrechten von unterseeischen Gas- und Ölfeldern knapp an einer militärischen Konfrontation vorbei.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell deutet unterdessen die vorherige EU-Vision radikal um: Die ‚geopolitische Kommission‘ habe jetzt das Ziel, die ‚strategische Souveränität‘ der NATO und des Westens insgesamt zu stärken – nicht die einer eigenständigen EU. Von der Leyen bemüht sich hingegen nach Kräften, mit blumigen Reden diese Fragmentierung der EU zu verkleistern. Doch offensichtlich ist: die eigenständige Steuerungs- und Handlungsfähigkeit der EU nimmt immer weiter ab. Sie agiert zunehmend als untergeordneter und ergebener Vasall des US-Imperiums.
Flucht nach vorn zum GroßEUropa?
Bundeskanzler Olaf Scholz und Kommissionspräsidentin von der Leyen plädieren nun für einen ‚Big Bang‘: die Staaten des Westbalkans sowie die Ukraine, Moldau und Georgien sollen zügig in die EU aufgenommen werden. Großbritannien und die Türkei wollen sie (und Macron) dabei in eine lockere ‚geopolitische Gemeinschaft‘ anbinden.
Wie utopisch das ist, zeigt sich darin, dass die Regierungen Großbritanniens und der Türkei eigenständige und der EU entgegengesetzte Agenden verfolgen. Selbst nach den wirtschaftspolitischen EU-Beitrittskriterien sind vor allem die Ukraine und auch die anderen avisierten Osterweiterungs-Kandidaten dafür nicht gerüstet. Aber das zählt kaum noch, weil die Geopolitik nun absoluten Vorrang hat.
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble träumt von einem neuen EU-Führungstriumvirat aus Deutschland, Frankreich und Polen sowie einer europäischen ‚Vergemeinschaftung‘ der französischen und britischen Atomwaffenpotenziale. Andere deutsche Kommentatoren halten dies zu Recht für unrealistisch und fordern vermehrt eine eigenständige deutsche Atombewaffnung.
Das Projekt ‚GroßEUropa‘ deckt sich mit der bekannten Strategie der NATO zu ihrer Osterweiterung. Würde es realisiert, wären mit der Ukraine, Moldau und Georgien jene Kräfte innerhalb einer erweiterten EU gestärkt, die die US-Dominanz über Europa weiter zementieren.
Schocktherapie 2.0 in der Ukraine
Die EU hat die Ukraine bereits als EU-Beitrittskandidat anerkannt – zunächst eher ein symbolischer Akt. Ursula von der Leyen hat der Ukraine weiterhin einen erleichterten Zugang zum EU-Binnenmarkt versprochen. Worum geht es dabei?
Der ukrainische Präsident Selenskyj beziffert die Kosten für ein Wiederaufbauprogramm der Ukraine auf 350 Milliarden US-Dollar. Bundeswirtschaftsminister Habeck musste angesichts dieser geforderten Summe erst mal schlucken. Dies könne von der ‚demokratischen Staatengemeinschaft‘ so wohl nicht aufgebracht werden. Eine entscheidende Rolle müssten ‚private Investitionen‘ spielen.
Diese sind längst im Gange, es handelt sich um eine innere Landnahme in der Ukraine im Bereich der Landwirtschaft, Rohstoffe, besonders auch bei ‚seltenen Erden‘ durch westliche Investoren. Das soll durch ein noch umfassenderes Privatisierungsprogramm verschärft werden. Den Arbeitsmarkt in der Ukraine hat das Selensky-Regime nach neoliberalem Muster bereits drastisch dereguliert.
Der ‚erleichterte Zugang der Ukraine zum EU-Binnenmarkt‘ ist ein Projekt, über das sich vor allem die EU und die USA die Hände reiben können: niedrige Arbeitskosten, geknebelte Gewerkschaften, Ausverkauf der für westliche Investoren interessanten Branchen der ukrainischen Wirtschaft.
Mit anderen Worten: Dass die Ukraine ihre Souveränität über einen ‚Siegfrieden‘ mit Russland wahren könnte, ist ebenfalls eine Fata Morgana. Das Land hängt am Finanztropf einer neuen Troika: dem IWF, der USA und der EU. Wer immer dort regiert, wird dies zu spüren bekommen.
Vom angestrebten Freihandel mit China zu offener Feindschaft
Noch 2020 wollte die EU auf Druck von Angela Merkel ein Freihandelsabkommen mit China abschließen – was nicht zustande kam. Bekannt ist, dass insbesondere das deutsche Kapital in China stark investiert und Deutschland der größte Exporteur von Waren (insbesondere von Investitionsgütern wie Maschinenbau) nach China ist.
Anders die US-Regierungen: Sie setzten schon früh auf eine wirtschaftliche ‚Entkopplung‘ von China und streben eine globale Führungsrolle der USA bei den erwähnten ‚Zukunftstechnologien‘ an. Den US-Regierungen ging es stet darum, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas einzudämmen, wenn nicht gar zu zerstören. Militärisch flankiert etwa von Obamas ‚Pivot to Asia‘-Strategie (Ausbau der US-Militärbasen im Indopazifik), von Bidens AUKUS-Bündnis oder von Trumps Strafzoll-Politik. Devot beteiligte sich die Bundeswehr zunächst an US-Manövern im Indopazifik und der südchinesischen See. Der globalen ‚Westen‘ wollte damit demonstrieren, er könne China in die Schranken weisen.
Inzwischen hat die NATO auf dem Gipfel von Madrid China als ‚systemische Herausforderung‘ (= potenzieller Feind) eingestuft. Komplementär zum US ‚De-Coupling‘ wurde auch ein militärisches Investitionsprogramm für ‚Zukunftstechnologien‘ auf den Weg gebracht (DIANA - Defense Innovation Accelerator of the North Atlantic).
Biden fordert nun ‚präventive Wirtschaftssanktionen‘ des Westens gegen China. Insbesondere die deutsche Bundesregierung rätselt, wie sie das zwar verbal unterstützen, praktisch aber umschiffen kann. Die Debatte um einen Rückzug Deutschlands aus dem China-Geschäft ist schon seit einiger Zeit heftig im Gang. Und die deutsche Ampel ist wohl bereit, sich dem Druck Bidens zu beugen. Was macht die ‚andere Seite‘?
Es zieht eine neue globale Blockkonfrontation herauf: der globale 'Westen' gegen den Rest der Welt. Antipode zum Westen ist der vielleicht entstehende 'eurasische Block' unter Führung Chinas, mit Russland als Energie-, Rohstoff- und Waffenlieferant im Schlepptau. Russlands Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als das von Italien, sein Status als Nuklearmacht bleibt aber bestehen. China und Russland sind der Kern eines potenziell erweiterten östlich-südlichen Blocks, der noch sehr heterogen ist. Auch wenn es die BRICS gibt oder die Shanghai Cooperation Organization (SCO), mit der inzwischen auch Erdogan liebäugelt.
Die chinesische Führung will es sich mit dem Westen nicht völlig verderben, genauso wenig wie die 'progressiven' Regierungen in Lateinamerika oder die afrikanischen Regimes. Sie spielen auf Zeit, um ein alternatives Finanz-, Handels- und Investitionsregime zum globalen 'Westen' aufzubauen und den bereits jetzt verheerenden Folgen des westlichen Sanktionsregimes zu entkommen. Für Erdogans Türkei, Saudi-Arabien, Katar, Iran, Indien (und vielleicht auch Israel) erweitern sich die Spielräume, eigenständige 'regionale' Strategien zu verfolgen.
Westliche Sanktionspolitik, globaler Wirtschaftskrieg: ‚Blowback‘
Schon jetzt hat die Sanktionspolitik vor allem im globalen Süden katastrophale Auswirkungen. Auch in der EU sind zunehmende Lebensmittelknappheit und die Energiepreissteigerungen zu spüren. Leidtragende sind die Lohnabhängigen und Armen: der Verlust von Kaufkraft durch hohe Inflation und von Arbeitsplätzen durch Unternehmens-Insolvenzen wird langsam spürbar. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck beziffert den Wohlstandsverlust allein in Deutschland durch Krieg und Russland-Sanktionen auf 160 Milliarden Euro. Das ist der soziale und ökologische ‚Blowback‘ dieses Wirtschaftskriegs, der zum Beispiel den Normalos in der EU bis weit in die sogenannte ‚Mittelschicht‘ hinein mehr schadet als Putins Russland.
Die bisherigen offiziellen Erklärungen, man wolle den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt bekämpfen: diese Projekte werden nun zurückgeworfen angesichts der LNG Flüssiggas-Importe aus USA/Katar, der Verlängerung der Kohlenutzung und AKWs. Der EU Green Deal und auch Bidens Programm in den USA (Clean Energy Revolution & Environmental Justice) sind ohnehin völlig unzureichend, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Fazit: Die globalen Klimaschutzprogramme werden durch die Sanktionspolitik zeitlich in den Hintergrund geschoben.
Die globalen ‚Poly-Krisen‘ (Pandemie, Flüchtlingsströme, Klimakollaps oder Rezession) werden durch diese Politik eher verschärft:
- eine neue (globale) Wirtschafts-Rezession wird allerseits erwartet; wie tief diese ausfallen könnte, ist umstritten;
- die Zinspolitik der wesentlichen Zentralbanken (US-Fed, Bank of England, EZB) wirkt krisenverstärkend. Die Inflation wird im Wesentlichen von höheren Energiepreisen getrieben, und nicht von einer Lohn-Preis-Spirale der Gewerkschaften. Dagegen können allgemeine Zinserhöhungen wenig ausrichten (vielleicht selektive sektorspezifische Preiskontrollen);
- es droht eine neue Eurokrise, weil Finanzmarktakteure hoch verschuldete Euro-Staaten des EU-Südens erneut ins Visier nehmen. Das ist auch ‚politisch‘ motiviert, da Georgia Melonis rechter Block mit Berlusconi und Salvini in Italien die jüngste Wahl gewonnen hat. Die Reaktion der Börsen darauf war vorerst zurückhaltend. Zinsaufschläge für italienische Staatsanleihen (Spreads) gegenüber deutschen Bundesanleihen könnten sich aber wie in Griechenland im Zuge der Eurokrise wieder erhöhen. Ob die EZB mit dem TPI (Transmission Protection Instrument) ein geeignetes Mittel am Start hat, um eine erneute Fragmentierung der Eurozone einzudämmen und die schwelende Eurokrise wie bisher unter dem Deckel zu halten, bleibt offen.
Rückblick und Ausblick
Der US-amerikanische Ökonom Thomas Palley gehört zu den frühen Kritikern der monetaristischen Architektur der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sowie des Euroregimes. In seiner jüngeren Studie zur globalen Hegemonie des US-Dollarregimes liefert er auch eine bemerkenswerte Analyse der ‚geopolitischen Inkohärenz der EU‘. Palley attestiert dem Euro und der Europäische Union) eine „Überdehnung“ durch eingemeindete mittel- und osteuropäische Staaten, „die politisch fremd sind und divergierende politische Interessen haben.“ Deutlich sei geworden, wie sehr Europa unter dem Ukraine-Konflikt „gelitten“ habe: Während Europa „enorme wirtschaftliche Kosten in Form von Störungen und Unterbrechungen der Energieversorgung, Inflation und Verlust des riesigen russischen Exportmarktes für Luxus- und Investitionsgüter“ hinnehmen müsse, „haben die USA neue Energiemärkte in Europa erschlossen, Europa in eine noch stärkere Unterwerfung (…) getrieben und permanent verschärfte Spannungen mit Russland geschaffen, die den USA geopolitisch zugutekommen.“
Diese Faktoren spiegelten sich, so Palley weiter, auch in der Aufwertung des Dollars im Jahr 2022 und der Abwertung des Euro wider.
Jahrzehntelang propagierte die EU ein Selbstbild von sich als ‚Friedensunion‘. Sicher, die Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich aus zwei Weltkriegen wurde überwunden. Die west-europäische Integration (EWG, EG, EU) war tatsächlich aber ein Produkt des Kalten Krieges. Das Projekt einer Friedensunion – wenn es ernsthaft verfolgt würde – ist unvereinbar mit wirtschaftlicher und militärischer Großmachtpolitik.
Russlands Teilmobilmachung, der versuchte Anschluss der von der russischen Armee besetzten Gebiete und die Drohung eines Atomschlags heben den Ukraine-Krieg auf eine neue Eskalationsstufe. Die antagonistische Blockbildung –der globale Westen gegen ein entstehendes Ost-Süd-Bündnis – verspricht nichts Gutes für die Zukunft. Zuallerletzt für Europa.
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