Kulturelle Konflikte

Das gescheiterte Experiment

| 23. Oktober 2023
IMAGO / IPON

Den Übergang in die multiethnische Demokratie nannte Yascha Mounk ein „historisch einzigartiges Experiment“, von dem niemand wisse, ob es funktionieren wird. Der Jubel über die Massaker der Hamas sorgt für Ernüchterung.

In den 1990er Jahren, der Hochphase der Globalisierung, erschienen auf dem internationalen Buchmarkt zwei Bestseller: The End of History and the Last Man von Francis Fukuyama 1992 und Clash of Civilizations von Samuel Huntington 1996. Fukuyama wurde für seine hegelianische Prophezeiung vom historischen Sieg der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft im euphorischen Rausch der Perestroika umjubelt. Huntingtons unbequeme These dagegen, dass der Kampf der Ideologien durch Konfliktlinien abgelöst (tatsächlich überlagert) wird, die zwischen den großen Kulturen und Zivilisationen verlaufen, vor allem von linker Seite scharf kritisiert.

Dann kam die Mutter der Zeitenwenden des 21. Jahrhunderts: der 11. September 2001. Es folgte der War on Terror, der schlechte Ordnungen oft durch noch schlechtere Ordnungen ablöste, gefolgt von Anschlagswellen in ganz Europa. 2014 rief der IS in Teilen Syriens und des Iraks ein radikalislamistisches Kalifat aus und unterwarf die gesamte Region einer Herrschaft des Schreckens. 2015 erreichten die Zuwanderungswellen aus den durch Washington, Paris, Moskau, Riad oder Teheran weiter destabilisierten Krisenregionen Afrikas, des Maghreb, Nahost und Asien einen ersten kritischen Höhepunkt. Und die geopolitischen Realitäten weisen angesichts des Ukraine-Krieges und der sich zuspitzenden Rivalität mit China in Richtung einer neuen Blockbildung. Aufgrund der geopolitischen Machtverschiebungen konstatierte 2019 der republikanische US-Senator Ben Sasse folgerichtig das Ende vom Ende der Geschichte.

Symbolträchtiger als mit dem World Trade Center hätte die liberale Idee vom Wandel durch Handel, von Multikulti und einer Weltgesellschaft aus Global Citizens nicht stürzen können. Sie zerstob im folgenden Stück für Stück im Terror der Innenstädte ‒ in Paris, London, Nizza, Madrid, Barcelona, Berlin, Hamburg, Stockholm, Brüssel oder Wien. Sie starb mit der flächendeckenden Gewalt und der Ächtung der Symbole der Republik während der Aufstände migrantischer Jugendlicher in zahllosen französischen Städten. Sie wird übertönt durch Verlautbarungen der Verachtung in den Moscheen und auf den Straßen, wenn man hinzuhören bereit ist wie der Journalist und Islamexperte Constantin Schreiber. Sie wurde entzaubert durch die Enthauptung des Lehrers Samuel Pathy am 16. Oktober 2020. Oder jüngst durch die Ermordung des Lehrers Dominique Bernard am 12. Oktober 2023, dem von einem polizeibekannten Dschihadisten die Kehle durchgeschnitten wurde.

Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange fortführen. Und sie sind keine „Einzelfälle“ – sie sind ein Symptom. Die Utopie der One World wird dekonstruiert durch eine Realität, die es in den Vorstellungen ihrer Befürworter nicht geben dürfte und deshalb lange tabuisiert wurde. Es sind die Verwerfungen eines „historisch einzigartigen Experiments“, wie der Politologe Yascha Mounk die Verwandlung der monoethnischen, monokulturellen Demokratie in eine multiethnische nannte. „Niemand weiß, ob es funktionieren wird“, ergänzte er 2018. Es drängt sich der Eindruck auf: Es wird nicht funktionieren. Ausgerechnet Henry Kissinger, einst einer der größten Verfechter des Multikulturalismus, glaubt, dass ein Bürgerkrieg unvermeidlich ist, wenn die derzeitigen Trends anhalten.

Kein Buch dürfte vom Lauf der Geschichte derart prominent zerrissen worden sein wie Fukuyamas Ende der Geschichte. Den globalen Siegeszug der Demokratie, von dem unsere „wertegeleitete Außenpolitik“ noch immer träumt, wird es nie geben – allein schon, weil ihr dafür in vielen Weltregionen die historisch und kulturell gewachsenen Voraussetzungen fehlen. Gerade einmal vier Prozent aller islamischen Länder sind demokratisch regiert. Noch in den 1970er Jahren waren es elf Prozent. Das Nation Building nach westlichen Vorbild endete im Irak und in Afghanistan in einem Fiasko. 2008 musste Fukuyama selbst einräumen, dass in islamischen Ländern eine andere Dynamik herrscht:

„Der einzige wirkliche Konkurrent der Demokratie in der Welt der Ideen ist heute der radikale Islamismus.“

Das Ende der Geschichte, so Fukuyamas letzte Hoffnung, bestünde in der Integration und Assimilation nicht-westlicher Kulturen in die westliche Kultur, unter Preisgabe derer Grundsätze zugunsten von Freiheit und Menschenrechten. Huntington verwies darauf, dass die Werte des Westens in anderen Kulturkreisen nicht als universelle Werte anerkannt würden. Der Westen „eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte (…), sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt.“ Modernisierung mit westlicher Kultur oder Verwestlichung gleichzusetzen – für Huntington ein Irrtum.

Kipppunkte

Die Folgen dieses Irrtums zeigen sich zunehmend auch im Innern: In den Jahren seit 2015 ist Europa mit einer existenziellen Migrationskrise konfrontiert. Im Experimentierfeld des öffentlichen Raums zeigt sich dabei immer häufiger, dass mit der Masseneinwanderung auch die Konflikte der Einwanderer importiert werden. Als am Morgen des 7. Oktober die unbeschreiblichen Gräueltaten der Hamas an israelischen Zivilisten in der Nähe des Gazastreifens begannen, bejubelten in zahllosen westlichen Städten arabischstämmige Muslime (in unheiliger Allianz mit Linksextremen) die Massaker der Terrororganisation mit „Allahu Akbar“ Schlachtrufen, die erschütternd äquivalent klingen zum „Sieg Heil“ der Nazis.

Da jetzt auch der israelische Gegenschlag hohe Opferzahlen der palästinensischen Zivilbervölkerung in Kauf nimmt, ist die Gefahr einer weiteren Eskalation groß. Auf den Plätzen und in Netzwerken wird zur Gewalt an in Europa lebenden Juden, gegen die Polizei oder öffentliche Orte aufgerufen. Es kursieren Videos aus England, in denen Muslimas die Steckbriefe von Personen von Wänden reißen, die in Israel von der Hamas verschleppt worden sind. Der Community Security Trust, der Hassverbrechen gegen britische Juden überwacht, meldete unlängst, dass die antisemitischen Vorfälle in Großbritannien derzeit dreimal so hoch sind wie im letzten Jahr. Auch in Deutschland nahmen seit dem Überfall der Hamas die antisemitischen Vorfälle im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um rund 240 Prozent zu. Polizisten sind zum Schutz jüdischer Einrichtungen abbestellt, mehr als hundert bewachen allein das Holocaust-Mahnmal in Berlin.  

Die Überraschung, Ungläubigkeit und Hilflosigkeit der Politik, die die Gefahren unkontrollierter, islamistischer Migration immer banalisiert, verdrängt oder verklärt hatte, war groß. Bis jetzt galt Antisemitismus fast ausschließlich als Problem des deutschen Rechtsextremismus. Umso enttäuschter zeigt man sich nun über das lange Schweigen und die dann verhaltenen, ja relativierenden Statements der Islamverbände. Ali Erbas, Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet, deren deutscher Ableger der Islamverband Ditib ist, hatte in einer Predigt Israel als "rostigen Dolch im Herzen der islamischen Geographie" bezeichnet und das Massaker als notwendigen Widerstand legitimiert. Die linksliberal gefärbte deutsche Kulturlandschaft, die sich im „Kampf gegen Rechts“ sonst immer medienwirksam exponiert, schweigt dazu.

Der hehre Traum des Universalismus löst sich in seinen Kernländern auf. Stattdessen treten Bruchlinienkonflikte zu tage. In Europa hat Integration, geschweige denn Assimilation der muslimischen Migranten in weiten Teilen nie stattgefunden. „Der Antisemitismus ist in den muslimischen Communities fest verankert“, konstatiert die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter. Die einschneidenden Bilder, gepaart mit der Passivität der Polizei und einer zaghaften Politik, die vor Angst kaum in der Lage ist, Ross und Reiter zu benennen, lassen für viele Menschen den Eindruck eines Kipppunkts entstehen: Mit der demographischen Dynamik in Europa, die durch die Massenmigration weiter befeuert wird, schwindet die abendländische Identität und der kulturelle Wertekanon eines ganzen Kontinents. Ein Eindruck, der nicht zuletzt durch sich rapide wandelnde Stadtbilder symbolisiert wird.

Fukuyamas Diktum hat sich in sein Gegenteil verkehrt: In Rückzugsgefechten befinden sich nicht die religiösen Grundsätze der muslimischen (Noch)Minderheit, sondern Rechtsstaat und Menschenrechte. Die Säkularisierungstheorie, nach der Modernisierung unweigerlich dazu führt, dass die Bedeutung von Religion in einer Gesellschaft abnimmt, trifft nicht einmal in Gänze auf den westlichen, vor allem aber nicht auf den islamischen Kulturkreis zu. Im Gegenteil: Der radikale Islam ist seit den 1970er Jahren weltweit auf dem Vormarsch. „Die in diversen Weltregionen typischen synkretistischen moderaten und volkstümliche Formen des Islam stehen (…) zunehmend unter Druck“, konstatiert Schröter.

Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin spricht dieser Tage von einer „Atmosphäre des Dschihadismus“. Und Präsident Emmanuel Macron fürchtet zu Recht, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nach Frankreich „importiert“ werden könnte. Infolge des massiven israelischen Bombardements droht aus Gaza eine weitere Flüchtlingswelle nach Europa überzuschwappen – darunter Kämpfer und Sympathisanten der Hamas.

Was auch der renommierte Migrationsforscher Ruud Koopmans als ernstes Sicherheitsrisiko benennt, erhärtet eine Umfrage des Washington Institute im Gaza-Streifen: Es gäbe in der Bevölkerung eine zwar zuletzt abnehmende, aber immer noch „breite Unterstützung“ für konkurrierende militante Gruppierungen. Mit der Hamas sympathisieren demnach 57 Prozent. Terrorgruppen wie der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) und die Höhle des Löwen unterstützen etwa drei Viertel der Einwohner des Gazastreifens. Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi weiß aus einschlägigen Erfahrungen der Vergangenheit, warum er die Grenzen zum Gazastreifen geschlossen hält. Ebenso der Libanon und Jordanien. Beide Länder wurden unter anderem durch geflüchtete Palästinenser in den Bürgerkrieg gezogen.

Kotau der „Wehrhaften Demokratie“

Natürlich: In Europa lehnt der überwiegende Teil der Muslime Terror mit religiöser Begründung ab – je nach Land sind es zwischen 70 und 80 Prozent. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, was die Bilder der letzten Tage nahelegen: Ein erheblicher Teil der Muslime tut das nicht. Immer wieder aufs Neue zeigen Reaktionen auf den Straßen, in Schulen und den Sozialen Medien, dass es eine besorgniserregende Sympathie für den Attentäter aus Brüssel oder die Gräueltaten der Hamas gibt.

Zumal auch das Gro jener friedlich in Europa lebenden Muslime eine distanzierte Haltung zum säkularen Rechtsstaat pflegt. Für eine vom Soziologen Amitai Etzioni als „illiberale Muslime“ definierte Mehrheit wird der Alltag eher durch ihren Glauben als durch politische oder zivilgesellschaftliche Identifikationen bestimmt. Nach einer Umfrage des Zentrums für Türkeistudien bestehen über 40 Prozent der Befragten auf dem Tragen des Kopftuchs der Frauen, über 60 Prozent würden einen nichtmuslimischen Ehepartner für ihre Kinder nicht akzeptieren.

Etzioni selbst sah das Gefahrenpotenzial der Radikalisierung unter dieser moderaten, aber illiberalen Mehrheit. Aus strategischer Sicht plädierte er dafür, die Unterscheidung von liberalen und illiberalen Muslimen aufzugeben: Würde man die Minderheit der liberalen Muslime als einzig mögliche Partner betrachten, gehe man damit das Risiko ein, die illiberalen Moderaten in das Lager der Dschihadisten zu treiben. Nachdem Grundsatz „Security first“, so sein Kalkül, sollten westliche Staaten gegenüber muslimischen Gemeinschaften eine Appeasement-Politik verfolgen, was die Allianz mit den illiberalen Moderaten erfordere.

Was Etzioni hier ausführte, entspricht im Wesentlichen den Zielen der deutschen Islampolitik in den letzten Jahrzehnten. Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland vertretenen Organisationen ist ein Musterbeispiel für die institutionelle Einbindung des konservativen Islams – und steht zugleich sinnbildlich für ihr Scheitern: „Weder die Deutsche Islamkonferenz noch andere Kooperationen haben dazu geführt, dass israelfeindliche, antisemitische, demokratie- und menschenfeindliche Ideologien abgenommen hätten“, schreibt Susanne Schröter.

Stattdessen mehren sich die Indizien für ein sukzessives Zurückweichen vor einem angesichts der tickenden demographischen Uhr präsenter und selbstbewusster werdenden politischen Islams. Das SPD geführte Innenministerium unter Nancy Faeser lässt sich von deren Vertretern die Agenda diktieren. Den Expertenkreis Politischer Islamismus, dem auch Koopmans und Schröter angehörten, ließ Faeser 2022 auflösen. Die groteske Begründung: Man sehe für eine Verstetigung des für ein Jahr geplanten Gremiums keinen Bedarf. Eine andere Kommission, die sich mit Muslimfeindlichkeit befasste, konnte, bestens ausgestattet, weiterarbeiten. Sie hat mittlerweile einen tendenziösen Bericht vorgelegt, der Kritik an Islamismus und problematischen Strukturen in muslimischen Communities umstandslos als „antimuslimischen Rassismus“ denunziert.

Es überrascht längst nicht mehr, dass dieser Kommission die gleichen Islamverbände angehören, die den Terror der Hamas beschweigen oder relativieren. Gruppierungen und Verbände, die fast ausnahmslos von ausländischen Regierungen und Stiftungen abhängig sind oder zu großen internationalen Organisationen wie der Muslimbruderschaft gehören. Letztere ist übrigens – so schließt sich der Kreis – der Urvater der Hamas. Mit ihnen und unter tatkräftiger Mithilfe großer Teile der Linken wird eine Cancel Culture etabliert, die verdiente Islamismus-Kritiker wie Constantin Schreiber, Susanne Schröter, Hamed Abdel Samad oder liberale Muslime wie Seyran Ates bedroht und zum Schweigen bringen soll.

Dieser Kotau der „Wehrhaften Demokratie“ wird von einer Gesellschaftspolitik flankiert, die Integration für eine rassistische Zumutung hält, vor allem der Aufnahmegesellschaft eine Bringschuld zuschreibt sowie Toleranz und Nachsicht zum obersten Gebot für Einheimische erhebt. Die Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Ataman, die Begriffe wie „muslimischer Antisemitismus“ oder „politischer Islam“ am liebsten aus den Kanon streichen will, fordert für die autochthone Bevölkerung eine Art „Re-Education“ nach dem Vorbild der Entnazifizierung. Katrin Göring-Eckard äußerte 2015 „Freude“ über ein sich „drastisch“ änderndes und „religiöser“ werdendes Deutschland. Allein hat das alles wenig daran geändert, dass sich die rotgrüne Leitidee des Multikulturalismus als bloßer Euphemismus für wachsende Parallelgesellschaften entpuppt.

Fukuyama irrte mit seiner These vom Ende der Geschichte. Aber er weiß, was für ein fragiles, hochartifizielles Gebilde die Demokratie ist: Der Kreislauf von Leben und Tod bringt es mit sich, dass immer wieder Errungenschaften verloren gehen und kumulatives Wissen auf nichtkumulative Lebenszyklen trifft. Mit anderen Worten: Jeder neugeborene Mensch muss die Regeln der Demokratie neu erlernen.

Doch was, wenn immer mehr Neuhinzugekommene diese Regeln nicht kennen, nie gelernt haben, nicht lernen wollen und diese Ablehnung auch an ihre Kinder weitergeben? Wie soll Integration funktionieren, wenn in vielen deutschen Schulen Kinder ohne Migrationshintergrund bereits zur Minderheit geworden sind und die anderen nicht einmal wissen, in was sie sich integrieren sollen?

„Viel hängt davon ab, ob wir als Gesellschaft deutlich machen, dass wir klare Regeln haben, nach denen wir leben – oder ob wir den Anschein erwecken, alles sei verhandelbar“, sagt Susanne Schröter. Es bleibt die Frage, ob es dafür nicht schon zu spät ist.

Dieser für viele Leserinnen und Leser vielleicht provokante Artikel soll als Debatten-Aufschlag verstanden werden.