Editorial

Das Gespenst des 7. Oktober

| 11. Oktober 2024
IMAGO / IPON

Liebe Leserinnen und Leser,

die Großstädte des Westens kommen seit dem 7. Oktober 2023 nicht mehr zur Ruhe. Das Massaker der Hamas und der anschließende Krieg Israels in Gaza polarisieren die Gesellschaften in Deutschland, Frankreich und den USA. In Berlin, Brüssel, Hamburg oder New York wird demonstriert – und das nicht immer friedlich. Eine Minderheit geht für die Befreiung der israelischen Geiseln auf die Straßen, eine Mehrheit gegen einen Krieg, der jetzt ein Jahr andauert und bisher mehr Opfer verursachte als der gesamte israelisch-arabische Konflikt zwischen 1989 und 2015 zusammen. Bei den beiden Intifadas, den Gaza-Kriegen und anderen Konfrontationen und Angriffen starben etwa 6.400 Menschen. Der aktuelle Feldzug der israelischen Streitkräfte, der die Hamas vernichten und die israelischen Geiseln retten soll, kostete laut verschiedener Schätzungen bereits jetzt etwa 40.000 Menschen das Leben.

Der Protest der – zu einem großen Teil arabisch-stämmigen – Demonstranten schwankt zwischen legitimer Empörung aber auch unverhohlenem Antisemitismus. Transparente, die eine Beendigung des Krieges und ein freies Palästina fordern, vermischen sich mit islamistischen Symbolen oder Aufrufen in arabischer Sprache, „alle Juden zu erschießen“, wie zuletzt in Berlin am Tag der Deutschen Einheit. An den Universitäten, Hochburgen der linken Identitären, entlädt sich der Hass auf den Westen als solches. Der Nahost-Konflikt wird dort zum Kulminationspunkt einer radikalen Zivilisationskritik, zum letzten Gefecht des antikolonialen Befreiungskampfs, ja zu dem Konflikt der westlichen Moderne schlechthin – oder mit Frank Furedi gesprochen: zum Symbol einer Entzivilisierung.

Furedi, der palästinensisch-stämmige Psychologe Ahmad Mansour als auch die Ethnologin Susanne Schröter warnen vor einem erstarkenden Islamismus in Europa, der von einer woken, akademischen Identitätspolitik nicht nur gedeckt, sondern von dieser in Form ihrer fundamentalen Kritik des Westens auch ideologisch unterfüttert wird.

Doch nicht nur der mittlerweile als völkerrechtswidrig verurteilte Krieg in Gaza zeigt: Es gibt einen Nährboden für den Hass auf den Westen, den dieser selbst erzeugt. MAKROSKOP-Redakteur Sebastian Müller verweist auch auf jene „Zivilisationsbrüche“, die dieser bis in die Gegenwart hinein selbst begeht. Um den antiwestlichen Fundamentalismen den Nährboden zu entziehen, so Müller, brauche der Westen eine aufgeklärte Selbstkritik, ohne dabei das eigene Selbstbekenntnis aufzugeben.

Diese und weitere Artikel finden Sie in unserer neuen Ausgabe:

  • „Wir verschenken jeden 13. VW“ Der Stolz auf das deutsche Exportmodell ist ein deutsches Markenzeichen. Dabei gab es eine kurze Zeit in der bundesdeutschen Geschichte, in der es anders war. Albrecht Müller weiß mehr. Malte Kornfeld
  • Ein neues Trilemma plagt die Weltwirtschaft Es erscheint unmöglich, gleichzeitig den Klimawandel zu bekämpfen, die Mittelschicht in den Industrieländern zu stärken und die globale Armut zu verringern. Bei den derzeitigen politischen Entwicklungen würde jede Kombination von zwei der Ziele auf Kosten des dritten gehen. Dani Rodrick
  • Bundesbank schreibt rote Zahlen: Pleitegefahr? Die Bundesbank macht Verluste. Präsident Joachim Nagel aber prophezeit, die Gewinne werden zurückkommen. Nur: Muss die Bundesbank überhaupt Gewinn machen? Nein. Maurice Höfgen
  • Schweizer Bahn schlägt Deutsche Bahn Das Deutschlandticket wird teurer: Die Bahn muss als Aktiengesellschaft Mehreinnahmen erzielen, um die Kapitalerhöhung durch den Bund zu verzinsen. Höhere Preise für schlechtere Leistung. Anders geht es durchaus, wie ein Blick zum Schweizer Nachbarn zeigt. Lukas Poths
  • Die unheilige Allianz zwischen Macron und Le Pen Die Ernennung des Außenseiters Michel Barnier zum neuen Premierminister besiegelt Macrons Pyrrhussieg. Hinter ihm formiert sich eine de-facto-Allianz aus liberal-zentristischen Kräften und der Rechten gegen die Linke. Thomas Fazi
  • Der „Globale Süden“ als Friedensstifter? Der Ukraine-Krieg scheint kein Ende zu finden, doch die Diplomatie kommt in Bewegung: Zwölf Staaten haben im September ein Neun-Punkte-Kommuniqué für den Frieden unterzeichnet. Ulrike Simon
  • Zivilisationsbrüche Will der Westen sich selbst und seine Werte behaupten, reicht der Kampf gegen den Islamismus und anderen Extremismen allein nicht aus. Sebastian Müller
  • Von der Dekolonisierung zum Islamismus Es ist ihr gemeinsamer Hass auf die westliche Zivilisation, der zur Bildung einer Allianz zwischen der Hamas und den LGBTQ- und Black-Lives-Matter-Aktivisten geführt hat. Frank Furedi