Ukraine-Krieg

Der „Globale Süden“ als Friedensstifter?

| 08. Oktober 2024
IMAGO / ITAR-TASS

Der Ukraine-Krieg scheint kein Ende zu finden, doch die Diplomatie kommt in Bewegung: Zwölf Staaten haben im September ein Neun-Punkte-Kommuniqué für den Frieden unterzeichnet.

Der Ukraine-Krieg ist nicht nur für Europa eine Katastrophe. Auch viele Länder des „Globalen Südens“ sind von den Folgen betroffen. Das ist der Hintergrund für das von China und Brasilien am Rande der UN-Vollversammlung initiierte Treffen zur Bekräftigung ihres „Gemeinsamen Vorschlags für Friedensverhandlungen unter Beteiligung von Russland und der Ukraine“ vom Mai 2024. Von den siebzehn Staaten, die an dem Treffen teilnahmen, unterzeichneten zwölf am 27. September ein gemeinsames Neun-Punkte-Kommuniqué. Unter anderem ist in dem Beschluss festgeschrieben, im Rahmen der Vereinten Nationen eine Gruppe von „Freunden für den Frieden“ zu bilden. Der Chef-Sprecher des Schweizer Außenministeriums, das Beobachter zu dem Treffen entsandt hatte, begrüßte den Vorstoß.

Der „Globale Süden“ braucht Frieden

Die Unterzeichner des Kommuniqués äußern ihre tiefe Besorgnis über die sich aus dem anhaltenden Konflikt ergebenden Eskalationsgefahren und dessen negative Auswirkungen auf viele Länder, einschließlich der Länder des globalen Südens. Die Notwendigkeit, konsequent für die Wahrung des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands einzutreten, ergäbe sich aus den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen – die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten und die Respektierung ihrer legitimen Anliegen –, so das Kommuniqué. Internationale Konflikte seien friedlich zu lösen, gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sollten beachtet werden, heißt es unter Berufung auf die 1955 von den blockfreien Staaten in Bandung formulieren Grundsätze der friedlichen Koexistenz weiter.

Ferner verweist das Kommuniqué auf die „Sechs-Punkte-Vereinbarung“ zwischen China und Brasilien über die politische Beilegung der Krise „und andere Initiativen zu diesem Zweck“. In Anlehnung an diese Vereinbarung rufen die zwölf Unterzeichner alle Staaten dazu auf, die diplomatischen und politischen Mittel zu unterstützen, die für eine umfassende und dauerhafte Lösung des Konfliktes durch die Konfliktparteien auf der Grundlage der UN-Charta förderlich sind.

Anders als die Sechs-Punkte-Vereinbarung fordert das Kommuniqué aber nicht ausdrücklich einen sofortigen Waffenstillstand. Die Unterzeichner rufen die Konfliktparteien zur Deeskalation auf und dazu, „das Schlachtfeld nicht auszuweiten und die Kämpfe nicht zu intensivieren“. Humanitäre Hilfe und der Schutz der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kinder, müsse verstärkt, der Austausch von Kriegsgefangenen (POWs) gefördert werden. Zudem dürften zivile Infrastrukturen – einschließlich friedlich genutzter Nuklearanlagen und anderer Energieanlagen – kein Ziel militärischer Operationen sein. Vom Einsatz oder der Androhung des Gebrauchs von Massenvernichtungswaffen, insbesondere von Atomwaffen sowie chemischen und biologischen Waffen sei ebenso abzusehen, wie die Weiterverbreitung von Kernwaffen zu verhindern.

Zustimmung aus der Schweiz und Ungarn – Ablehnung aus der EU

Vertreter dreier europäischer Staaten – Ungarn, Schweiz und Frankreich – nahmen an dem Treffen als Beobachter teil, andere waren laut der Nachrichtenagentur Ukrinform nicht eingeladen. Der Grund für die Einladung Frankreichs ist unklar, die Einladung Ungarns angesichts der sofort nach seiner Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft gestarteten diplomatischen Friedensinitiative Viktor Orbans dagegen nachvollziehbar. Das gleiche gilt für die Schweiz als Gastgeberin der vom ukrainischen Präsidenten Selenskij initiierten Friedenskonferenz in Bürgenstock.

Nicolas Bideau, Chefsprecher des Schweizer Außenministeriums, begrüßte die Initiative. Die Meinung der Schweiz über den im Mai veröffentlichten chinesischen-brasilianischen Plan habe sich geändert, seit der Verweis auf die in der UN-Charta begründete Pflicht aller Nationen zur Wahrung des Friedens aufgenommen wurde.

„Eine konkrete diplomatische Anstrengung, die von der chinesisch-brasilianischen Gruppe organisiert wird, könnte für uns von Interesse sein“, sagte Bideau. Hintergrund für diese Haltung ist möglicherweise, dass das Gipfeltreffen in Bürgenstock, zu dem Russland nicht eingeladen war, von einigen Außenpolitikexperten als Versuch des Westens gewertet wurde, Moskau zu isolieren, wie Reuters berichtet. Der chinesisch-brasilianische Sechs-Punkte-Plan unterstützt im Gegensatz dazu einen Friedensgipfel mit gleichberechtigter Beteiligung aller Parteien. Um dem Vorwurf zu begegnen, dass das Land von seiner jahrhundertealten Tradition der Neutralität abweiche, führt Bern Diplomaten zufolge nun Gespräche, um einen Gastgeber für einen Folgegipfel zu finden, vorzugsweise ein Land des „globalen Südens“.

Der ungarische Außenminister Peter Szijjártó kündigte nach dem Treffen an, dass sich Budapest der Initiative Friends for Peace anschließen werde. Das stieß auf deutliche Kritik des hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell, was nach der heftigen Reaktion der meisten EU-Mitgliedsstaaten auf Viktor Orbans Ukraine-Gespräche und der Resolution des EU-Parlaments zum Ukraine-Krieg nicht anders zu erwarten war.

Der ukrainische Fernsehsender Espreso berichtet, dass Borrell während eines Gesprächs beim Council on Foreign Relations in New York am 27. September anmerkte, es gäbe Anzeichen für eine nachlassende Einigkeit unter den europäischen Ländern. Einige EU-Mitgliedstaaten – „wenn auch vielleicht nur ein einziger, der nicht zu den mächtigsten gehöre“ – hätten begonnen, bei den Friedensverhandlungen eine Kapitulation in Erwägung zu ziehen. Auch wenn der Begriff „Kapitulation“ nicht ausdrücklich verwendet werde, so Borrell, liefe der Ansatz darauf hinaus. Dass zum ersten Mal ein EU-Mitgliedstaat an einem von China und Brasilien einberufenen Treffen teilnimmt, um auf einer von Präsident Selenskyjs Friedensplan abweichenden Grundlage über einen Frieden in der Ukraine zu diskutieren, sei einzigartig. Borrell äußerte sich zuversichtlich, dass solche Gefühle „nicht zu einer Pandemie unter den Mitgliedsstaaten führen werden.“

Selenskyj: Die chinesisch-brasilianische Initiative ist destruktiv

Wenig überraschend ist auch Selenskyjs harsche Ablehnung der Initiative, die er als „destruktiv“ bezeichnete. Er äußerte sich außerdem enttäuscht über die positive Reaktion der Schweiz, während er sich weiterhin weltweit um die Unterstützung seines in Bürkenstock vorgestellten 10-Punkte-Friedensplans bemüht, der den vollständigen Rückzug Russlands aus dem ukrainischen Gebiet von vor 2014 als Voraussetzung für jegliche Verhandlungen fordert. Auch US-Außenminister Antony Blinken äußerte sich skeptisch, vor allem zu den Motiven Chinas.

Harris schwindender Ukraine-Enthusiasmus, Trumps Verhandlungspläne

Selenskyj nutzte seine Reise zur UN-Vollversammlung in New York für Gespräche mit Joe Biden, Kamala Harris und Donald Trump. Unter anderem warb er für einen 5-Punkte-Siegesplan, dessen Einzelheiten er bei dem Treffen der Ukraine-Verteidigungs-Gruppe in Ramstein am 12. Oktober vorstellen wird. Bereits durchgesickert ist, dass der Plan den sofortigen Beitritt der Ukraine zur NATO beinhaltet sowie die Erlaubnis, Raketenangriffe ins Landesinnere Russlands durchführen zu dürfen.

Das dürfte allerdings in den USA auf wenig Begeisterung stoßen: Das Pentagon scheint Putins deutliche Warnung vor der von Selenskyj (wie übrigens auch dem neuen NATO-Chef Mark Rutte) geforderten Raketen-Eskalation nicht bloß für einen Bluff zu halten. Zudem verschieben sich angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten und dem als ernste Bedrohung wahrgenommenen Erstarken Chinas die außenpolitischen Prioritäten Washingtons. Während Biden immerhin versprach, noch vor den Wahlen alle im Frühjahr zugesagten Unterstützungsgelder freizugeben, bekräftigte Harris zwar, dass sie vorbehaltlos hinter der Ukraine stehe; dies aber ohne konkrete Zusagen. Donald Trump verkündete bei seinem Treffen mit Selenskyj wieder einmal seine Absicht, als Präsident so schnell wie möglich einen „Deal“ zur Beendigung des Krieges mit Putin einzufädeln, zu dem er ausgezeichnete Beziehungen habe. Auf die von Selenskyj geäußerte Hoffnung, dass Trump zu ihm bessere Beziehungen als zum russischen Präsidenten unterhalten würde, antwortete der: „You know, it takes two to tango.” 

Moskau: Zurückhaltende Verhandlungsbereitschaft, klare Forderungen

Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, dass er grundsätzlich jede Initiative zur Beendigung des Konflikts begrüßen würde, auch die von Donald Trump. Das Kommuniqué der Friends for Peace enthalte jedoch bisher nur Grundsätze, keine konkreten Vorschläge. Die von Putin im Juni formulierte grundsätzliche Haltung Moskaus: Nach den Erfahrungen im April 2022, als der russische Teilrückzug von den Gegnern als Schwäche ausgelegt worden sei, ist ein Waffenstillstand ohne vorherige klare Vereinbarungen ausgeschlossen. Verhandlungen seien nur auf Basis des im April 2022 erreichten Istanbul-Konsenses möglich, und wenn die beiden Kernpunkte des Konfliktes – NATO-Osterweiterung und die Rechte der russisch-sprachigen Bevölkerung – adressiert würden.

Putin unter Druck der BRICS-Staaten

Die Positionen Selenskyjs und Putins könnten also nicht weiter voneinander entfernt sein. Mit seinen Maximalforderungen spielt der ukrainische Präsident jedoch in die Hände des russischen Staatsoberhaupts. Dabei wäre eine Verhandlungslösung mittelfristig durchaus im Interesse Moskaus. Denn selbst wenn Russland eine Chance hätte, die Kapitulation der Ukraine durchzusetzen – was westliche Militärexperten bezweifeln –, müsste Moskau befürchten, dass der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung und die desolate wirtschaftliche Lage des Landes dazu führen, dass am Ende der so gewonnene Friede verloren geht.

Angesichts der jüngsten militärischen Erfolge und ausreichend vorhandener Ressourcen ist Moskau aktuell jedoch vermutlich eher daran interessiert, zunächst größere Teile der im Oktober 2022 nach irregulären Referenden zum – international nicht anerkannten – Staatsgebiet der russischen Föderation erklärten ukrainischen Gebiete unter Kontrolle zu bringen. Damit würden Fakten geschaffen, die nicht so leicht rückgängig gemacht werden könnten.

Allerdings steht Putin seitens der BRICS-Staaten unter dem Druck, so schnell wie möglich Frieden zu schließen. Trotz des vorgebrachten  Verständnisses für die russischen Sicherheitsbedenken wollen die BRICS vorrangig eine sich abzeichnende Blockbildung vermeiden und die Disruption des internationalen Handels infolge des Krieges und der Sanktionen beseitigen: „Wir rufen dazu auf, die internationale Zusammenarbeit in den Bereichen Energie, Währung, Finanzen, Handel, Ernährungssicherheit, Lebensmittelsicherheit und die Sicherheit kritischer Infrastrukturen zu verstärken, um die Stabilität der globalen Industrie- und Lieferketten zu schützen“, heißt es im Kommuniqué.

Bis jetzt kann Moskau argumentieren, dass Selenskyj seit Istanbul alle Verhandlungsbemühungen verhindert und auch nicht das Gesetz geändert hat, das ihm, solange Putin im Amt ist, Verhandlungen mit Russland verbietet.

Fortsetzung folgt in Kasan

Obwohl die Erfolgsaussichten der Friedensinitiative gegenwärtig gering erscheinen, wurde zumindest eine Plattform geschaffen, von der aus die Staaten des Globalen Südens ihrem Interesse an weiteren Verhandlungen aller Beteiligten und Betroffenen zu einer Lösung der Ukraine-Krise Ausdruck und Kraft verleihen können.

Außer Indien (und natürlich Russland) haben alle ursprünglichen BRICS-Mitglieder den Vorschlag unterzeichnet – ebenso mit Ägypten eines der neuen BRICS-Mitglieder, sowie mit Algerien, Bolivien, Kolumbien, Kasachstan und der Türkei etliche Anwärter. Deswegen steht zu erwarten, dass dieser ein wichtiges Thema beim BRICS-Gipfel-Treffen sein wird, der vom 22. bis 24. Oktober unter Vorsitz Russlands in Kasan stattfindet.

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Nachtrag vom 11.10.24:

Inzwischen sagte Selenskyj die für November geplante Friedenskonferenz ab. Das für den 12. Oktober geplante Rammstein-Treffen wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Zudem erklärte ein hochrangiger Beamter des US-Verteidigungsministeriums am Mittwoch, dass es keine Änderung der US-Politik gebe, die die Ukraine daran hindere, mit von den USA gelieferten Waffen Langstreckenangriffe auf Russland durchzuführen. Hintergrund könnte sein, dass die Biden-Administration alle die Ukraine betreffenden Entscheidungen erst nach den Wahlen treffen will. Es könnte aber auch das erste Anzeichen dafür sein, dass die Vereinigten Staaten jetzt das Ukraine-Buch schließen wollen, um sich ganz dem Nahen Osten und China zu widmen.