Zum 7. Oktober

Zivilisationsbrüche

| 10. Oktober 2024
IMAGO / Wolfgang Maria Weber

Will der Westen sich selbst und seine Werte behaupten, reicht der Kampf gegen den Islamismus und andere Extremismen allein nicht aus.

Am 7. Oktober jährte sich ein historischer Akt der Barbarei: Das Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung an den Grenzgebieten zum Gazastreifen. Die brutalen Abschlachtungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Entführungen nicht nur israelischer Zivilisten wurde damals von nicht wenigen bejubelt – von den Schlächtern, der Hamas, sowieso, aber auch von der Zivilbevölkerung in Gaza oder von arabischstämmigen Menschen in Europa.

Antisemitische Vorfälle häuften sich auch dort, wo sie angesichts der Geschichte des Holocausts am ungeheuerlichsten sind – in Deutschland. Die deutsche Polizei bewachte zeitweise in Mannschaftsstärke das Holocaust-Denkmal in Berlin. Und auch an diesem Montag, dem 7. Oktober 2024 kam es in Berlin zu Ausschreitungen und antisemitischen Parolen vor allem arabischstämmiger Jugendlicher.

Die frenetische Freude ob eines solchen Zivilisationsbruchs wie des 7. Oktober erinnert an einen anderen Terrorakt der Superlative: den 11. September 2001. Auch damals gingen Bilder um die Welt, die zeigten, wie in Teilen der arabischen Welt – auch in Gaza – der Tod tausender Menschen gefeiert wurde. Die Terroristen, die die beiden Flugzeuge in das Word Trade Center jagten, gelten bis heute für viele als Märtyrer.

Beobachter wie der Psychologe und Autor Ahmad Mansour und die Ethnologin Susanne Schröter weisen unermüdlich und zu Recht auf etwas hin, was viele noch immer nicht sehen wollen: Einen auch im Zusammenhang mit einer gescheiterten Migrationspolitik erstarkenden Islamismus in Europa, der zudem eine gefährliche Liaison mit der woken, akademischen Identitätspolitik eingegangen ist.

Dass sie dafür von ihren Gegnern des Rassismus beschuldigt werden, beweist nur, wie weit diese Entwicklung bereits vorangeschritten ist: Die auf den ersten Blick seltsame Melange aus Islamismus und des ihm Absolution erteilenden Wokismus hat längst den Gang durch die Institutionen angetreten. Was sie eint: der Hass auf den Westen, ja mehr noch – auf die westliche Zivilisation als solche. In Formaten des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks und in den Kulturhäusern der Republik findet dieses Gedankengut mitunter gefiltert Eingang in die öffentliche Wahrnehmung.

Der Soziologe Frank Furedi zeigt, wie sich ab den 1960er Jahren "eine legitime antikoloniale Kritik mit dem wachsenden Einfluss einer kulturkritischen Sensibilität der Zeit verflechtet." Der Antikolonialismus geriet in den Sog der westlichen Identitätspolitik und des Multikulturalismus. Es entstand eine neue Form des anti-westlichen Denkens und Kulturrelativismus, die auf den ideologischen Ressourcen basierte, die an westlichen Universitäten und Kulturinstitutionen entwickelt wurden.

Seine radikalsten Ausprägungen gehen bisweilen so weit, dass der islamistische Terror von nicht wenigen akademischen Linken als postkolonialer Befreiungskampf verklärt wird. In einem Beitrag der @columbia Students for Justice in Palestine auf X heißt es: „Wir sind Westler, die für die vollständige Auslöschung der westlichen Zivilisation kämpfen“. Mit dem nihilistischen Aufruf zur Zerstörung von allem, was die westliche Zivilisation geschaffen hat, geraten auch Disziplinen wie Mathematik oder Philosophie als „westlich“ und damit „unterdrückend“ an den Pranger der Identitätspolitik.

Die offene Flanke der Islamismuskritiker

Gleichwohl hat die Analyse von Schröder, Furedi und Mansour eine offene Flanke. Was wiederum sie nicht sehen wollen: Es gibt einen Nährboden für den Hass auf den Westen, den dieser selbst erzeugt. Hier geht es weniger um die koloniale Vergangenheit, die ausgiebig aufgearbeitet wird, als vielmehr um jene Zivilisationsbrüche, die auch er bis in die Gegenwart hinein selbst begeht.

Was viele längst vergessen haben: Es gab noch einen anderen 11. September als jenen im Jahr 2001. Knapp dreißig Dekaden zuvor, 1973, putschte zum gleichen Datum in Chile der General Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Der Coup wurde initiiert und unterstützt von den USA. In der Folgezeit wurden rund 38.000 Menschen inhaftiert und gefoltert, tausende Chilenen starben in den Lagern der faschistischen Militärdiktatur.

Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek, selbsterklärter Gralshüter der Freiheit vor der „Knechtschaft“, ließ 1978, als er es längst hätte besser wissen können, verlauten, dass diese „unter Pinochet deutlich größer als unter Allende war.“ Die Diktatur Pinochets – für Hayek eine notwendige Übergangsperiode auf dem Weg zur Verwirklichung persönlicher und wirtschaftlicher Freiheit.

Und auf den Zivilisationsbruch des 7. Oktober reagierte Israel seinerseits mit der völkerrechtswidrigen Einäscherung des gesamten Gazastreifens. Der Feldzug des IDF, der bisher nach verschiedenen Schätzungen etwa 40.000 Menschenleben gekostet hat, muss sich die hier vorsichtig gestellte Frage gefallen lassen, in welcher Verhältnismäßigkeit er steht.

So rührt der Hass auf Israel längst nicht nur aus traditionellem Antisemitismus. Seit Jahrzehnten praktiziert die israelische Regierung mithilfe militanter Siedler einen systematischen Landraub und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland. Der illegale Siedlungs- und Mauerbau schafft Fakten jenseits der Grenzen von 1967. Wie die israelische Tageszeitung Haaretz jüngst berichtete, unterstützt die Regierung Netanjahu die Vertreibung und Schikanierung der palästinensischen Bauern in der Westbank logistisch und finanziell.

Das ist die andere Seite eines komplexen Konflikts, den Schröter und Mansour außenvor lassen, wenn sie Israelkritik und Antisemitismus unter einen Hut zu werfen neigen. So wenig, wie es Rassismus ist, auf die zunehmende Macht des politischen Islam in Europa und die erschwerte Integration muslimischer Migranten hinzuweisen, ist es Antisemitismus, das militärische Vorgehen Israels und die illegale Siedlungspolitik in der Westbank anzuprangern.

Denn zur Wahrheit gehört auch: Solange der Nahostkonflikt ungelöst bleibt, wird der global erstarkende Islamismus immer neue Nahrung finden. Im illegal besetzten Ost-Jerusalem befinden sich die drittwichtigsten Stätten des Islams: der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee. Doch es sind die einfachen Attribuierungen von „gut“ und „böse“ auf beiden Seiten, die einen Diskurs unmöglich machen.

Und noch etwas kommt zu kurz: Das unkritische Selbstlob der „liberalen und freiheitlichen Gesellschaft“, das auch Mansour und Schröter dem politischen Islam stets als Kontrastfolie entgegenhalten. Fraglich aber bleibt, ob eine Zivilisation, die Freiheit zunehmend als anomische Ansammlung marktkonformer und hyperindividualistischer Menschen in urbanen Schmelztiegeln definiert, zunehmend multiethnischen Gesellschaften ausreichend Identifikation bieten kann.

Der neoliberale Glaube an die integrierende Kraft des Marktes – ein Erbe Hayeks – übersieht, wie seine gefeierte Entfesselung allerorts Werte, Tradition, Beschränkung und Mäßigung erodieren lässt. Der Verlust des sozialen Kitts trägt den Keim der Selbstzerstörung in sich. Es sind auch Muslime, die die seit den 1980er Jahren zunehmende Verelendung und Verwahrlosung in den sich deindustrialisierenden Staaten Europas zur Kenntnis nehmen. Viele, die ursprünglich nicht-praktizierend waren, wenden sich einem konservativen Islam auch deshalb zu, weil sie in ihm die einzige Firewall für ihre Kinder gegen steigenden Drogenkonsum, Vereinzelung und Orientierungslosigkeit sehen.

Die von Furedi beklagte Entzivilisierung hat viele Gesichter. Will die westliche Zivilisation sich selbst und ihre Werte behaupten, reicht es nicht, nur dem Islamismus und anderen Extremismen entgegenzutreten. Sie muss auch sich selbst und die Folgen ihrer Politik hinterfragen, ohne im Selbsthass ihre großen geistigen und kulturellen Errungenschaften zu verleugnen.