Brief aus Brüssel

Selenskyjs „Siegesplan“ und die kognitive Dissonanz

| 16. Oktober 2024

Die Ukraine ist militärisch in die Defensive geraten, in der Nato wird schon von einer Teilung des Landes gesprochen. Doch die EU gibt sich immer noch Illusionen hin.

Sage niemand, Europa habe nicht genug getan. Seit Beginn der russischen Invasion vor rund 1000 Tagen war die Ukraine das alles beherrschende Thema in Brüssel. Außenminister, Finanzminister und Staats- und Regierungschefs haben sich immer wieder mit dem laut EU-Jargon „rechtswidrigen, grundlosen und ungerechtfertigten Angriffskrieg“ befasst und milliardenschwere Hilfspakete geschnürt.

Auch beim jüngsten EU-Gipfel war die Ukraine wieder das erste Thema. Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde eigens nach Brüssel zitiert, um seinen „Siegesplan“ vorzustellen. Dass Brüssel dabei nur die dritte Geige spielt – erst war Selenskyj in Washington, dann präsentierte er seine Strategie in Berlin und Paris – schien niemanden zu stören. Die USA ist nun `mal Nummer eins, Europa folgt.

Auch, dass Selenskyjs Plan vor allem Forderungen an die Alliierten enthält, aber eine militärische oder gar diplomatische Strategie vermissen lässt, erregte in Brüssel keinen Anstoß. "Die Ukraine kann sich auf uns verlassen", sagte Kanzler Olaf Scholz. „Wir stehen an Ihrer Seite“, erklärte Ratspräsident Charles Michel. „Solange, wie nötig – as long as it takes.“

Doch diese Beteuerungen klingen hohl. Zum einen verfügt die EU gar nicht über die Mittel, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Sie handelt mit ungedeckten Schecks – wie beim Versprechen, einen Kredit über 35 Milliarden Euro zu gewähren. Die Konditionen sind immer noch nicht geklärt. Selbst der EU-Beitritt ist längst nicht in trockenen Tüchern. Weder die Ukraine noch die EU sind vorbereitet.

Zum anderen hat der offizielle Diskurs, den Selenskyj, Scholz & Co, pflegen, so gut wie nichts mit der Realität „on the ground“ zu tun. Die ukrainische Armee ist in die Defensive geraten, selbst die Invasion in der russischen Region Kursk hat sich als Strohfeuer erwiesen. Die Befreiung der besetzten Gebiete – und damit der militärische Sieg – ist keine realistische Option mehr.

Was noch möglich ist, hat der kürzlich ausgeschiedene NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Interview mit der „Financial Times“ geschildert. Darin zog er eine historische Parallele zum finnisch-russischen Winterkrieg 1939, an dessen Ende Finnland rund zehn Prozent seines Territoriums an Russland abtreten musste.

Auch die Ukraine müsse sich auf schmerzhafte Kompromisse einstellen, so Stoltenberg. Eine NATO-Mitgliedschaft sei zwar weiter drin – aber wohl nur entlang einer militärisch hochgerüsteten und abgesicherten Linie, die „nicht notwendigerweise die international anerkannte Grenze ist“. Im Klartext: nach einer Teilung des Landes.

„Land gegen Frieden“ – diese Formel kursiert schon seit einiger Zeit. Nicht nur in Brüssel, sondern auch in Washington und sogar in Kiew. Doch Selenskyj weigert sich, über diese Option auch nur zu reden. Die Abtretung von Gebieten an Russland stehe außer Frage, erklärte er bei der Vorstellung seines „Siegesplans“. Stattdessen müsse der NATO-Beitritt vorgezogen werden.

Doch dies lehnt sogar der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte ab. Einen vorgezogenen NATO-Beitritt während des Krieges wird es ebenso wenig geben wie grünes Licht für Angriffe auf Moskau oder andere weit entfernte Ziele mit westlichen Waffen. Die Idee, „Frieden durch Drohungen“ zu erreichen, wie es Selenskyj beim EU-Gipfel ausdrückte, ist abwegig. Er hat sich in Maximalforderungen verrannt.

Doch statt den ukrainischen Präsidenten auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, reden ihm die europäischen Staats- und Regierungschefs nach dem Munde. Statt eine nüchterne Analyse der militärischen Lage zu versuchen, die sie wohl zu ähnlich düsteren Schlüssen führen würde wie Stoltenberg, reden sie sich die Lage schön. Nicht einmal das Narrativ vom „Sieg“ wird infrage gestellt.

Das gilt leider auch für Scholz. Der Kanzler hat in Brüssel zwar klargestellt, dass er nicht von seiner Haltung abrücken werde: Nein zu einem schnellen NATO-Beitritt, Nein zur Lieferung von weit reichenden  „Taurus“-Marschflugkörpern. Doch Selenskyjs gefährliches Narrativ stellt er nicht infrage: „Die Ukraine kann sich auf uns verlassen“ - auch wenn wir ihren Kurs ablehnen.

Das führt zu kognitiver Dissonanz, um es milde auszudrücken. Es führt aber auch zu einer fehlgeleiteten, am Ende falschen Politik. Das wäre vielleicht noch zu entschuldigen, wenn es keine Alternativen gäbe. Doch es gibt Alternativen – sogar in der EU. So war Ungarns eigenwilliger Regierungschef Viktor Orban im Juli auf einer „Friedensmission“ in Kiew, Moskau, und Peking.

Die umstrittene Reise hat zwar nichts Greifbares ergeben. Doch die Vehemenz, mit der die EU-Staaten den Vorstoß des ungarischen Ratsvorsitzenden zurückgewiesen haben, zeigt, dass sie an einer anderen Politik gar nicht interessiert sind. Die EU hinter Selenskyj, das Signal zu einer Kursänderung könne nur aus Kiew kommen, heißt es in Brüssel. Noch ein Fall von kognitiver Dissonanz.

Denn in Wahrheit wird dieses überfällige Signal aus Washington kommen. Und zwar ziemlich bald. Bis zur US-Wahl sind es noch drei Wochen. Dann werden die Karten neu gemischt – für die Ukraine, aber auch für die EU.