Debatte

Fossiler Antiimperialismus?

| 04. November 2023
IMAGO / ITAR-TASS

Wie können die afrikanischen Staaten ihre Souveränität gewinnen und sich von westlichem, russischem oder chinesischen Einfluss abkoppeln? Anders als Thomas Fazi denkt, ist die Kernfrage nicht, welche Energien Afrika zur Industrialisierung nutzt.

Im Jahr 1963 schrieb Kwame Nkrumah, der erste Präsident Ghanas:

„Wir haben hier in Afrika alles, was nötig ist, um ein mächtiger, moderner, industrialisierter Kontinent zu werden. Untersuchungen der Vereinten Nationen haben kürzlich gezeigt, dass Afrika keineswegs über unzureichende Ressourcen verfügt, sondern wahrscheinlich besser für die Industrialisierung gerüstet ist als fast jede andere Region der Welt.[1] […] Die wahre Erklärung für die Langsamkeit der industriellen Entwicklung in Afrika liegt in der Politik der Kolonialzeit. Praktisch alle unsere natürlichen Ressourcen, ganz zu schweigen von Handel, Schifffahrt, Bankwesen, Bauwesen usw., fielen in die Hände von Ausländern, die sich an fremden Investoren bereichern und die einheimische wirtschaftliche Initiative bremsen wollten, und sind dort geblieben".[2]

60 Jahre später hat sich die Situation nur wenig geändert. Im Gegensatz zu den asiatischen Staaten hat die Bevölkerung Afrikas kaum von der Einbindung in den globalisierten Weltmarkt profitiert. Das BIP-Wachstum liegt nur wenig über der Bevölkerungsentwicklung. Die afrikanischen Staaten sind formal unabhängig, real sind sie es nicht. Ihre Volkswirtschaften sind auf die Bedürfnisse der entwickelten Industriestaaten ausgerichtet, nicht auf ihre eigenen. Die Reichtümer werden in Form von Mineralien und cash crops exportiert, während Waren zur Deckung der grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung importiert werden müssen. Eine Studie aus dem Jahr 2017 stellt fest, „dass die afrikanischen Länder zusammengenommen Nettogläubiger gegenüber dem Rest der Welt sind, und zwar in Höhe von 41,3 Milliarden Dollar im Jahr 2015. Somit verlässt viel mehr Reichtum den ärmsten Kontinent der Welt, als ihm zugeführt wird."

Lumumba versus Mobutu

Wie kam es zu dieser Situation?

Die kleinen Schritte, die viele afrikanische Staaten nach Erlangung ihrer Unabhängigkeit auf dem Weg zur vollständigen nationalen und kontinentalen Souveränität machten, wurden abgeblockt. Nkrumah wurde 1966 durch einen vom Westen unterstützten Putsch entmachtet, fünf Jahre nachdem Patrice Lumumba als Premierminister der Demokratischen Republik Kongo abgesetzt, ermordet und später durch den Diktator Mobutu ersetzt worden war, der darauffolgend mehr als 30 Jahre lang den Kongo regierte. Er blieb nicht der einzige Diktator in Afrika. Jeder, der eine Strategie der nationalen Souveränität und des Aufbaus der kontinentalen Einheit verfolgte, wurde entweder abgesetzt, getötet oder beides ‒ bis hin zum Ende des libyschen Staatschefs Ghaddafi, der von Aufständischen gestürzt wurde. Unterstützt wurden diese von der NATO.

Die vom Westen protegierten Regierungen, die auf diese Putsche folgten, kehrten die begonnenen Politiken häufig um. So höhlten die Militärs des Nationalen Befreiungsrats von Ghana seit 1966 den Aufbau eines öffentlichen Bildungswesens und eines öffentlichen Sektors, in dessen Mittelpunkt die Industrialisierung und der kontinentale Handel standen, aus. Wohl überall in Afrika wurde die Strategie der Importsubstitution zugunsten des Exports billiger Rohstoffe und des Imports teurer Fertigprodukte verworfen. Der Kontinent geriet in eine Spirale aus Schulden und Abhängigkeit. Diese Situation wurde durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds, die während der massiven Schuldenkrise der 1980er Jahre in Gang gesetzt wurden, noch verschlimmert. In einem Forschungspapier des Think Tanks South Centre aus dem Jahr 2009 heißt es:

„Der Kontinent ist die am wenigsten industrialisierte Region der Welt, und der Anteil der afrikanischen Länder südlich der Sahara an der weltweiten Wertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes ist zwischen 1990 und 2000 in den meisten Sektoren sogar zurückgegangen".

Man muss festhalten, dass Afrika bis heute keine Agenda zur Beseitigung der Auslandsverschuldung hat. Die Last des Schuldendienstes ist zu hoch und eine Strategie zur Schaffung eines Klimas zur Förderung der industriellen Entwicklung oder der Finanzierung der Grundversorgung der Bevölkerung fehlt.

Die Ausbeutung der Energieressourcen Afrikas

Der Schlüssel zur Industrialisierung ist Energie. Um ihn erfolgreich zu verwenden, müssen die afrikanischen Staaten kooperieren. Die Lage heute: Trotz der reichlich vorhandenen fossilen Energievorräte und des riesigen Potentials zur Nutzung erneuerbaren Energien haben 55 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zur Stromversorgung, und diejenigen mit einem solchen Zugang müssen ständig mit Unterbrechungen rechnen. Schätzungen zufolge müssen für eine umfassende Stromversorgung in Subsahara-Afrika bis 2023 mindestens 300 Milliarden Dollar investiert werden. Bisher werden die vorhandenen Ressourcen vorwiegend für den Export genutzt. Stromnetze fehlen, nationale und länderübergreifende.

Im Zusammenhang mit dem Putsch in Niger, zum Beispiel, wurde der Weltöffentlichkeit bewusst, dass das Land der Hauptlieferant des Urans für die französischen Atomkraftwerke ist, während dort 80 Prozent der Bevölkerung keinen Stromanschluss haben. Ein anderes Beispiel ist Nigeria, ein wichtiges Erdölförder- und exportland. In Ermangelung einer eigenen Raffinerie, muss es jedoch Öl für den eigenen Gebrauch importieren. Nur wenige im Land profitieren vom Erdölboom, während große Bevölkerungsteile unter massiven, ihren Lebensraum zerstörenden Umweltschäden leiden.

Sind die erneuerbaren Energien nun die große Chance für die Entwicklung Afrikas? Im Zuge der Energiewende entdecken Europa und insbesondere Deutschland den afrikanischen Kontinent neu, vor allem zur Wasserstoffproduktion im großen Stil. Nach Ansicht der deutschen Regierung bietet die Produktion von grünem Wasserstoff große Chancen für Entwicklungs- und Schwellenländer: sie ermöglicht die wirtschaftliche Diversifizierung und schafft damit Energiesicherheit sowie Arbeitsplätze. Und Wirtschaftsminister Robert Habeck erklärte im Dezember 2022 in Namibia, dass Wasserstoffexporte nach Deutschland in erster Linie den Einwohnern des Landes zugutekommen sollten: „Das Letzte, was wir akzeptieren können, ist eine Art neuen Energieimperialismus,“ sagte er.

Laut einer Studie der Organisation Corporate Europe Observatory namens Germany’s Great Hydrogen Race sind die Projekte mit großen Problemen belastet: Es gäbe Landnutzungskonflikte und Menschenrechtsverletzungen, indem die Bewohner von ihrem Land vertrieben würden, die Wasserknappheit und die damit verbundenen Konflikte in den betroffenen Regionen verschärften sich. Die oftmals notwendigen Entsalzungsanlagen führten zur Verschmutzung von Meeresökosystemen. Die erschlossenen erneuerbaren Energien würden zur Wasserstoffproduktion für den Export genutzt, nicht für die heimische Entwicklung. Das wiederum führe zur verzögerten Dekarbonisierung, indem lokal weiterhin fossile Brennstoffe zur Energieerzeugung verwendet würden. Die Mega-Projekte beinhalteten zudem hohe finanzielle Risiken für die Staaten, was die Schuldenkrise verschärfen könnte. Die Bürger würden nicht an der Projektdurchführung und -planung beteiligt, der Nutzen der Projekte für die breite Öffentlichkeit sei gering. Zudem legitimierten diese repressive Regimes.

Von der „Bürde des weißen Mannes“ zu Netto-Null

Dass sie zu ihrem eigenen Guten ausgebeutet werden, ist für Afrikaner nichts Neues. Ob der „weiße Mann“ die „Bürde“ auf sich nahm, die „unwissenden“ und „unreifen Wilden“ auf die Höhe der westlichen Kultur und Wirtschaftsweise zu bringen, oder Ökonomen ihnen die Vorteile des freien Marktes und der Privatisierung staatlicher Leistungen verkündeten – alles lief unter dem Strich darauf hinaus, dass die Armut blieb und die westlichen „Philanthropen“ reicher wurden. Es wäre keine Überraschung, wenn es mit der Netto-Null-Botschaft genauso wäre.

Aber können die Afrikaner wenigstens zur Klimarettung beitragen? Es kommt darauf an, wovon man redet. Netto-Null ist zunächst eine einfache Rechenaufgabe: Die Summe der Treibhauseinleitung in die Atmosphäre muss der Summe der Entnahmen entsprechen. Man kann zum Beispiel im industriellen Norden weiter fossile Brennstoffe wie bisher nutzen, wenn anderswo die gleiche Menge CO2 aus der Erdatmosphäre entfernt wird. Damit stehen Techniken wie CO2-Abscheidung und Maßnahmen wie CO2-Kompensation, etwa in Form von Aufforstungsprojekten, wieder ganz oben auf der Tagesordnung.

Die CO2-Abscheidungs-Technik steckt noch in den Kinderschuhen. Und Afrika als Klimaretter für den fossilen Norden? Eine zynische Haltung der Industriestaaten wäre, dass sie Afrika unterentwickelt lassen. Afrika würde riesige Naturschutzgebiete ausweisen, die Bevölkerung würde abnehmen und Afrika würde ansonsten erneuerbare Energie im Wesentlichen für den Norden produzieren. Die Industriestaaten machen weiter wie bisher und Afrika rettet das Klima. Aber so viele neue Waldflächen, wie man zur Kompensation bei einem Weiter-so-wie-Bisher bräuchte, gibt die Erde nicht her. Zudem würde sich Afrika und seine Bevölkerung eine solche Rollenverteilung nicht gefallen lassen.

Wer keine eigene Vision hat, wird zum Teil der Vision anderer

Ob mit einem solchen Netto-Null-Konzept das gesetzte Klimaziel erreicht werden kann, ist also fraglich. Dass die Umsetzung der Strategie auf Kosten der Entwicklung Afrikas geht, steht zu befürchten. Ist es also ‒ mit Thomas Fazi ‒ wirklich als „anti-imperialistischer Sieg“ zu werten, wenn nun gegen den Willen des europäischen Parlaments in Ostafrika eine Öl-Pipeline gebaut wird?

Zur Wahrheit gehört auch, dass diese Pipeline für den Öl-Export bestimmt ist. Und ob die geplante Raffinerie gebaut werden wird, steht in den Sternen. Sie ist lokal wegen der damit verbundenen Umweltschäden stark umstritten. Zu 62 Prozent gehört sie dem französischen Energiekonzern Total und zu 8 Prozent dem chinesischen Staatskonzern China National Offshore Oil.

Natürlich ist es arrogant und heuchlerisch, wenn diejenigen Länder, die jahrhundertelang vom Kolonialismus und von kohlenstoffhaltigen Brennstoffen profitiert haben, es den anderen verwehren, das gleiche zu tun. Im Gegenteil: diese Länder tragen eine größere Verantwortung für den Übergang zu einem dekarbonisierten Energiesystem. Deswegen einigte man sich schon 1992 beim Umweltgipfel in Rio auf das Prinzip „der gemeinsamen, aber dennoch differenzierten Verantwortlichkeiten entsprechend den jeweiligen Fähigkeiten der einzelnen Länder sowie ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen.“

Sollten die afrikanischen Staaten also jegliches Konzept von Netto-Null als entwicklungsschädliche Ideologie verwerfen, ihre Entwicklungsinteressen in den Mittelpunkt stellen und ausschließlich auf die Entwicklung fossiler Energien setzen? So einfach ist es nicht. Denn das Problem des Klimawandels betrifft alle Länder, keines ist vor seinen schädlichen Auswirkungen gefeit. Und die Länder des Südens werden besonders stark unter den Auswirkungen leiden.

Trotz aller Beteuerungen und Konferenzen lassen die Fortschritte beim Klimaschutz weiter auf sich warten. Man kann drei Gründe dafür identifizieren: Erstens die Leugnung der Realität des Klimawandels durch rechtsgerichtete Kräfte. Zweitens der Widerstand derjenigen Teile der Energiewirtschaft, die ein ureigenes Interesse an der Fortführung kohlenstoffbasierter Brennstoffe haben. Drittens die Weigerung der westlichen Länder anzuerkennen, dass sie die Hauptverantwortung für das Problem tragen, und sich zu verpflichten, ihre Klimaschulden zurückzuzahlen, indem sie die Energiewende in den Entwicklungsländern finanzieren, deren Wohlstand sie weiterhin abschöpfen.

Erneuerbare Energien bieten die besseren Alternativen

Was bedeutet das für die afrikanische Energieversorgung?

Wenn es darum geht, wie die afrikanischen Staaten ihre Souveränität gewinnen und sich von westlichem, russischem oder chinesischen Einfluss abkoppeln können, dann ist die Kernfrage nicht, welche Energien Afrika zur Industrialisierung nutzt. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass, wie Fazi anzunehmen scheint, die Nutzung fossiler Energien immer die leichter umsetzbare Variante des Ausbaus der Energieversorgung ist.

Zwar mag es nachvollziehbar sein, wenn sich afrikanische Politiker nicht darauf verpflichten wollen, auf fossile Energien zu verzichten, während der Norden macht, was er will. Afrika wird Gas und Kohle nutzen. Wenn aber die afrikanischen Staaten klug sind, dann folgen sie dem Beispiel China, das zwar auf der einen Seite zur Zeit noch weiter fossile Energie einsetzt und sogar ausbaut, aber parallel die Erneuerbaren forciert, um 2060 CO2-neutral zu sein. Wer den Afrikanern einredet, dass der Klimawandel nur eine Marotte des Westens ist, wird sie langfristig auf das fossile Abstellgleis schieben und sie vom Rest der Welt abkoppeln.

Und warum Fazi auf Atomenergie setzt, bleibt unverständlich. Bei einer solch komplexen Technologie werden afrikanische Staaten ihre ökonomische Unabhängigkeit schwerer erreichen, weil sie dauerhaft auf Knowhow-Transfer aus den industrialisierten Staaten angewiesen sind. Auch hier – bei der Frage der technologischen Unabhängigkeit – bieten die Erneuerbaren bessere Perspektiven. Wenn afrikanischen Staaten es wollten, könnten sie schon heute Fabriken für die Herstellung von Solarmodulen aufbauen.

Zumal das aktuelle europäische Interesse zeigt, dass der Kontinent hervorragende Bedingungen für die Erzeugung erneuerbarer Energien bietet. Die vom Corporate Europe Observator identifizierten Mängel (siehe oben) sind entweder lösbarer technischer Natur (zum Beispiel Probleme der Meerwasserentsalzung), oder politischer Natur. Die Länder des globalen Südens müssen ihre eigenen Volkswirtschaften aufbauen, und dabei darauf achten, dass ihre Ressourcen für die nationale Entwicklung und nicht nur für die Export eingesetzt werden.

Entscheidend ist die zwischenstaatliche Kooperation. Erst seit 2008 gibt es eine panafrikanische Energiekommission. Dazu gehört die Erstellung und Umsetzung gemeinsamer Entwicklungspläne auf der Basis der Analyse des vorhandenen Potentials. Oder wie schon Kwame Nkrumah erkannte: Es kommt darauf an, dass die afrikanischen Gesellschaften aufhören, sich mit fremden Augen zu betrachten, ihre eigene Entwicklungs- und Zukunftsvision entwickeln, ihre Stärken erkennen und gegebene Spielräume maximal nutzen lernen.

Einfach ist das nicht, denn auch innerhalb dieser Staaten und zwischen ihnen gibt es starke Interessenskonflikte. Angesichts des wachsenden Einflusses von China und Russland als Konkurrenz zur westlichen Vormachtstellung sind die Bedingungen dafür jedoch besser als je zuvor. Kluge Staatsmänner wissen den Westen (wenn man denn ihn als Block betrachten darf), Russland und China im Interesse ihres Landes gegeneinander auszuspielen.

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[1] Nkrumah bezog sich dabei auf die "Special Study on Economic Conditions and Development, Non-Self-Governing Territories" (Vereinte Nationen, 1958), in der die immensen natürlichen Ressourcen des Kontinents aufgezeigt wurden.
[2] In seinem 1963 erschienenen Buch Africa Must Unite, Nkrumah vertiefte diese Sichtweise in seinem bemerkenswerten Buch Neo-Colonialism: the Last Stage of Imperialism (1965)