Wie JD Vance zum Feind der Wall Street wurde
Donald Trumps Vize macht gegen eine Wall Street mobil, die die produzierende US-Wirtschaft zerstöre. Wer ist dieser James David Vance und woher kommt seine Kritik am Finanzkapitalismus?
„Meine Damen und Herren, wir sind damit fertig, die Wall Street zu bedienen.“ So fasste James David „JD“ Vance in seiner Antrittsrede auf dem republikanischen Parteitag im Juli in Milwaukee „Präsident Trumps Vision“ zusammen.
Ungeachtet der Frage, ob es sich dabei wirklich um Trumps Vision oder nicht vielmehr um die des jungen Vizepräsidenten handelt: Dass ein führender Republikaner eine klare Trennlinie zwischen rentenorientierter und produktiver Aneignung zieht, ist äußerst ungewöhnlich. Im Internet finden sich haufenweise kritische Anmerkungen des Senators aus Ohio über die bestehende rentenorientierte Wirtschaftsordnung und deren in seinen Augen verheerenden sozioökonomischen und moralischen Auswirkungen. In einem Interview am rande einer Veranstaltung der Zeitschrift Modern Age: A Conservative Review sagte Vance:
„Ich finde es bezeichnend, dass am Höhepunkt der Globalisierung [...] die Unternehmensgewinne massiv im Finanzsektor konzentriert waren und das Wachstum realer Produktivität kaum sichtbar war. [...] Leider haben wir in der modernen amerikanischen Wirtschaft viel zu viel sogenannte wirtschaftliche Aktivität in Form von Finanzrenten, Globalisierung und sekundären und tertiären Finanzprodukten, die nichts mit der realen Wirtschaft zu tun haben.“
Ein Teil der Antwort, so Vance, bestehe darin, Kapital in produktive Unternehmen in den USA zu investieren. Da sei die Art von Investition, die den Lebensstandard erhöht „und mit einem stabilen sozialen Gefüge vereinbar ist.“
In seinen fast zwei Jahren im US-Senat hat Vance zusammen mit der demokratischen Senatorin Elizabeth Warren aus Massachusetts einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf abzielt, von Managern großer gescheiterter Banken, wie die Sillicon Valley Bank, Entschädigungen zurückzufordern, um übermäßiger Risikobereitschaft einen Riegel vorzuschieben. Außerdem signalisierte er seinen republikanischen Parteikollegen, dass er keine Steuersenkungen unterstützen werde, die „den Spitzensteuersatz“ wie bei Trumps Steuerreform von 2017 senken. Er lobte Joe Bidens Kartellbeauftragte Lina Khan und stellte jüngst klar, dass er zwar die Zerschlagung von großen Monopolen unterstützt, jedoch kleine und mittlere Fusionen und Übernahmen zur Kapitalbeschaffung für produktive Investitionen befürwortet. Inspiriert vom „postliberalen“ Theoretiker Patrick J. Deneen spricht er sich sogar für eine Mitbestimmung im Unternehmenssektor aus.
Das „heilige Sakrament des Washington Konsensus“
Einer von Vances kühnsten Auftritten – wieder höchst ungewöhnlich für einen Senator der Grand Old Party – fand am 7. März 2023 während einer Anhörung des Senatsausschusses für Bankwesen, Wohnungsbau und städtische Angelegenheiten mit dem Chef der Federal Reserve, Jerome Powell, statt. Der 40-jährige Politiker stellte in Frage, was er als das „heilige Sakrament des Washington Konsensus“ bezeichnete – den starken Dollar – und fragte nach seinen möglichen Nachteilen. Doch das war nur der Auftakt. Anschließend stellte Vance nicht weniger als die gesamte dollarbasierte globale Währungsordnung infrage:
„Wir haben viele Finanzingenieure und viele Diversitätsbeauftragte, aber nicht viele Menschen, die etwas herstellen. Ich befürchte, dass der Status als Reservewährung und der Mangel an Kontrolle über unsere Währung dazu beitragen könnten. Ich würde gerne Ihr Meinung dazu hören.“
Die produktionsorientierte MAGA-Bewegung (Make America Great Again) besteht aus vier Köpfen: JD Vance fungiert als oberster Verantwortlicher, Steve Bannon als Chefideologe und Organisator der Basis, der Venture Capital Investor Peter Thiel als führender Finanzier und Don Trump Jr. als Bindeglied im inneren Kreis seines Vaters. Die makroökonomischen Probleme der USA sehen sie in der Staatsverschuldung, im Handelsdefizit, in der massiven Einwanderung, der neokonservativen Außenpolitik und im Reservewährungsstatus des Dollars. Diese Führung ist entschlossen, die Republikanische Partei zur "Partei der Arbeiterklasse" zu machen, erklärte der frisch gewählte MAGA-Senator Jim Banks vor kurzem gegenüber dem Wall Street Journal. Man wolle die internationale Ordnung zugunsten der Produzenten umkrempeln. Der Journalist Ian Ward von Politico führte eine Reihe ausführlicher Interviews mit Vance und stellte fest:
„Vance möchte eine ‚wirklich drastische Veränderung‘ der Funktionsweise der US-Wirtschaft, angefangen mit der Beseitigung der Handelsdefizite, einer deutlichen Begrenzung der Einwanderung und möglicherweise sogar einem Verzicht des Dollars als globale Reservewährung. Doch dies würde auch eine völlig neue Methode zur Messung der Wirtschaftskraft erfordern.“
Im Februar 2024 erklärte der Senator dem Fernsehmoderator Tucker Carlson, was diese „neue Methode zur Messung“ beinhaltet:
„Die Macht eines Landes bemisst sich nicht daran, wie viele Finanzderivate sein Finanzsektor schafft, sondern wie viele nützliche Dinge seine Wirtschaft tatsächlich produziert. [...] Das ist eine Anklage gegen diejenigen, die die einst größte Produktionsmacht der Welt in eine Dienstleistungs- und Finanzwirtschaft verwandelt haben.“
Kurz vor seiner Entlassung aus dem Bundesgefängnis am 29. Oktober 2024 sagte Bannon zu Vanity Fair: „Wenn Sie nicht bereit sind, sich mit der Wall Street und den Banken anzulegen, werden Sie nie etwas erreichen. Die Republikaner in all diesen ultraroten MAGA-Distrikten, die das nicht verstehen, werden angegriffen.“
„Menschen kommen zur Wahrheit auf unterschiedlichen Wegen“
Wie kam JD Vance zu diesen Ansichten? Es gibt keine Beweise dafür, dass er sie aus der Lektüre des fünften Abschnitts von Karl Marx' drittem Band von Das Kapital oder durch eine Auseinandersetzung mit Saint-Simons Werken gewonnen hat. Von John M. Keynes oder deutschsprachigen Kritikern der Rentierherrschaft wie Michael Flürscheim oder Silvio Gesell finden sich in seinem intellektuellen Werdegang keine Spuren. In einem 2020 erschienenen Artikel über seinen Weg zur katholischen Kirche merkte der evangelikal geborene Vance an, dass „Menschen auf unterschiedliche Weise zur Wahrheit finden.“ Sein Verständnis des Gegensatzes zwischen Rente und Produktion und seine praktischen Implikationen entwickelten sich, so scheint es, hauptsächlich aus der Erfahrung als Risikokapitalinvestor in seinen 30ern.
Von Peter Thiel lernte er bereits 2011, dass sich in den letzten vier Jahrzehnten, außerhalb der Software- und Finanzdienstleistungen, die Innovation verlangsamt hat, mit Stagnation in „greifbaren“ Sektoren wie Transport, Logistik, Energie, Medizin und Biotechnologie. Es dauerte nicht lange, bis der ehrgeizige Absolvent der Yale Law School den Grund dafür zu erkennen glaubte: Die hochinnovativen Produkte, in die er und seine Kollegen investiert hatten, haben nur begrenzte Marktchancen, solange ihre Hauptkunden – US-Produzenten – auf einen Pool billiger, eingewanderter Arbeitskräfte und günstiger importierter Komponenten angewiesen sind.
Nur höhere Löhne und fairer Wettbewerb (durch faire Löhne im Ausland, Zölle in den USA, Währungsanpassungen oder eine Kombination daraus), so schlussfolgerte er, würden Produzenten dazu anregen, in neue Technologien zu investieren. Darüber hinaus erlebte Vance aus erster Hand, wie „Big Tech“-Unternehmen wie Amazon, Google und Meta Innovationen unterdrücken und den Wettbewerb umgehen, um Rendite zu erzielen.
Als begeisterter Leser erweiterte Vance seine Perspektive durch die Lektüre und den persönlicen Austausch mit einer neuen Generation konservativer Denker – wie Steve Bannon, Patrick J. Deneen oder Christopher Buskirk – die alle den liberalen Überbau, der auf der dollarbasierten Finanzialisierung beruht, ablehnen. 2021 half er Buskirk bei der Gründung des Rockbridge Network, das Geld von Spendern wie der Familie Mercer und der „MAGA-Mafia der Tech-Industrie“ (New York Times) sammelt, um das intellektuelle und organisatorische Netzwerk der MAGA-Bewegung zu unterstützen. In seinem jüngsten Buch schreibt Buskirk:
„Die Finanzialisierung hat zu einer erheblichen Fehlallokation von Ressourcen geführt und Amerika ärmer gemacht. Unter anderem hat sie viele der klügsten und ehrgeizigsten Amerikaner dazu gebracht, ihr beträchtliches Talent in die Schaffung komplexer Mechanismen zur Gewinnabschöpfung aus der produktiven Wirtschaft zu stecken, anstatt neue Produkte zu entwickeln, die durch Verbesserung des Lebens Wohlstand schaffen. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen der Erfindung des Penicillins oder des Automobils und der Schaffung eines Finanzderivats zur Spekulation auf Hypotheken von Menschen mit zweifelhaften Kreditgeschichten.“
Trotz seiner kohärenten Vision bleibt unklar, ob der neue Vizepräsident und seine Verbündeten wirklich nur von nationalistischen Kategorien geleitet werden, oder ob sie diese lediglich zur Mobilisierung nutzen. So oder so werden sie früher oder später gezwungen sein, über „America First“ hinauszugehen und eine neue globale Steuerung anzustreben – konkreter: eine neue globale Währungsordnung sowie einen Plan zur Förderung des Wachstums in den Entwicklungsländern.