Makroskop
Interview

"Das System optimiert sich betriebswirtschaftlich, aber nicht gesamtgesellschaftlich" – Reiners und Knieps über die Zukunft des Sozialstaats 

| 28. Oktober 2025

Zwei Sozialexperten ziehen Bilanz: Hartmut Reiners und Franz Knieps sprechen über die historischen Wurzeln des Sozialstaats seit 1945, warum Gesundheit und soziale Gerechtigkeit zusammengehören – und wie wir ein solidarisches Gesundheitssystem zukunftsfest machen.

Zwei Männer, ein gemeinsamer Blick auf das deutsche Gesundheitssystem – und eine Freundschaft, die über den Dienst hinausgeht. Franz Knieps und Hartmut Reiners haben auf höchster Ebene mitgewirkt: Knieps als Vorsitzender der Betriebskrankenkasse, Reiners im brandenburgischen Gesundheitsministerium. Heute treffen sie sich regelmäßig privat, um über ihre Erfahrungen zu diskutieren – leidenschaftlich und kritisch. Obwohl offiziell im Ruhestand, lassen sie das System nicht aus den Augen. Wir haben die beiden Experten im Doppelinterview getroffen.


Herr Reiners, Sie arbeiten gerade an einem Buch über die Geschichte der Sozialversicherung. Welche Reformen waren seit 1945 besonders einschneidend – und wer hat dabei gewonnen, wer verloren?

Hartmut Reiners: Nach 1945 ging es Deutschland ums nackte Überleben – Flüchtlinge, Hunger, zerstörte Städte. In der Sozialpolitik war zunächst der Lastenausgleich der Kriegsfolgen das bestimmende Thema.

Aber während man noch Schutt räumte, wurde vom Parlamentarischen Rat das Grundgesetz erarbeitet. Und da gab’s heftige Debatten: Sollen sozialstaatliche Ziele, wie in der Weimarer Verfassung, detailliert vorgegeben werden? Oder reicht ein allgemeines Bekenntnis?

Am Ende setzte sich der SPD-Politiker Carlo Schmid durch: Kein Sozialprogramm in der Verfassung, sondern nur das im Artikel 20 festgehaltene Prinzip: „Die Bundesrepublik ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Das war weise. Konkrete ökonomische und sozialpolitische Programme gehören ins Parlament nicht in die Verfassung, wie die unsinnige Schuldenbremse gezeigt hat.

"Konkrete ökonomische und sozialpolitische Programme gehören ins Parlament nicht in die Verfassung"

Franz Knieps: Richtig. Die Weimarer Verfassung war viel ambitionierter, aber auch unrealistisch. Sie bot konkrete Rechte zur Gestaltung der Arbeitswelt – schön und gut, aber was nützt das bei zehn Millionen Arbeitslosen? Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man pragmatischer sein. Man hatte gelernt, dass Verfassungslyrik keine Rente zahlt.

Wie konnte das Sozialversicherungssystem entstehen, wo doch die Väter des Grundgesetzes den Sozialstaat nicht konkret ausformuliert haben?

Reiners: Durch eine Reihe von Reformen beim Aufbau der Bundesrepublik. Der eigentliche sozialpolitische Neustart kam in den fünfziger Jahren. 1952 erarbeitete der Ökonom Gerhard Mackenroth einen Sozialplan für Deutschland. Seine Leitlinie: Alle Sozialleistungen werden aus der jährlichen Wertschöpfung bezahlt. Es gibt kein Sondervermögen für Solidarität. Das ist eine Art ökonomisches Naturgesetz – und ein klares Gegenargument zu kapitalgedeckten Ansparmodellen.

"Es gibt kein Sondervermögen für Solidarität"

Auf Mackenroths Paradigma basierte die Rentenreform von 1957 mit der Einführung der dynamischen Rente, also der Idee, dass Renten mit den Löhnen steigen. Das war ein sozialpolitischer Meilenstein.

Knieps: Und nicht zu vergessen: Ende der fünfziger Jahre wurde die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von Angestellten auf Arbeiter ausgeweitet. Das klingt heute selbstverständlich, war damals ein Riesenkampf. Die Werftarbeiter in Schleswig-Holstein haben dafür wochenlang gestreikt – mit Erfolg.

Wie ging es in den 60er-Jahren weiter?

Reiners: Wichtige sozialpolitische Maßnahmen waren hier: aktive Arbeitsmarktpolitik, Berufsbildung und BAföG. Das war eine sozialpolitische Aufbruchsphase, die auch von Sozialpolitikern der Union mitgetragen wurde. Zum ersten Mal ging’s nicht nur um Absicherung, sondern auch um Chancen. Die Bundesanstalt für Arbeit bekam die Aufgabe, Arbeitslosigkeit aktiv zu bekämpfen.

Knieps: Und die siebziger Jahre brachten Leistungsausweitungen: Studierende und Behinderte wurden in die Sozialversicherungspflicht einbezogen. Ende der achtziger Jahre führte der CDU-Minister Norbert Blüm die Absicherung der Betreuung von Schwerstpflegebedürftigen ein, aus der 1994 die Gesetzliche Pflegeversicherung als gemeinsames Projekt der CDU/CSU und der SPD entstand.

Aber organisatorisch blieb vieles rückständig. Erst in den neunziger Jahren wurde die aus dem Kaiserreich stammende berufsständische Gliederung der Krankenversicherung durch eine freie Kassenwahl ersetzt – unter großem Gejammer der Funktionäre.

Anfang der 70er-Jahre geriet das keynesianische Modell in eine Krise. Danach setzte ein neoliberaler Turn ein. Wann hat sich der im Sozialversicherungssystem niedergeschlagen?

Reiners: In den späten Siebzigern kam der Paradigmenwechsel. Stichwort „Kostendämpfungsgesetze“. Das waren zwar keine grundlegenden ordnungspolitischen Reformen, man folgte eher der Parole, die man heute auch immer wieder hört: "einnahmeorientierte Ausgabenpolitik".

Die wirkliche Zäsur kam dann Anfang der 2000er mit der Agenda 2010 – getrieben vom Glauben, man müsse die Lohnnebenkosten senken, um die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten.

„Ohne den Sozialstaat hätte die Wiedervereinigung nicht funktioniert“

Das war – frei nach Bärbel Bas – "Bullshit". Die Lohnnebenkosten, zu denen ja nicht nur die Sozialabgaben zählen, entsprachen per Saldo ebenso dem EU-Durchschnitt wie die gesamte Abgabenbelastung inklusive Steuern.

Die stark gestiegenen Sozialabgaben waren die Folge des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft, also Kosten der Einheit. Ohne den Sozialstaat hätte die Wiedervereinigung nicht funktioniert.

Was folgte dann auf die Agenda 2010 bis heute?

Knieps: Nach der Agenda 2010 gab es keine wesentlichen Leistungseinschränkungen, unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung der Regierungen. Das war eine Scheinstabilität, da die Beschäftigung ziemlich hoch war und viel Geld in die Sozialversicherungssysteme floss.

Doch es wurde teilweise sinnlos verpulvert, um Konflikte zu befrieden. Nie hat einer gesagt: "Jetzt müssen wir hier aber mal an die Strukturen in der gesundheitlichen und sozialen Versorgung ran!"

Wir haben völlig veraltete Krankenhausstrukturen und ein veraltetes System mit Einzelpraxen in der ambulanten Versorgung. An bestimmten Hilfsmitteln verdienen sich die Hersteller dumm und dusselig. Wenn ein Stück Schlauch für den Garten gebraucht wird, kostet er 30 Cent. Wenn man den gleichen Schlauch in ein Medizingerät einbaut, kostet er 30 Euro.

Der Gesundheitssektor ist personalintensiv: ärztliche Untersuchungen, pflegerische Tätigkeiten und Operationen lassen sich nur schwer automatisieren oder rationalisieren. Eine Ärztin, die eine Patientin untersucht, kann ihre Tätigkeit nicht beliebig durch Maschinen ersetzen. Deswegen steigt die Produktivität im Gesundheitssektor langsamer als beispielsweise in der Industrie. Trotzdem müssen sich Löhne von Ärzten oder Pflegekräften am allgemeinen Lohnniveau orientieren, was zu einem relativen Kostenanstieg führt. Wie können wir uns die steigenden Gesundheitsausgaben trotzdem leisten?

Reiners: Ja, es stimmt, der Gesundheitssektor ist als Dienstleistungsbereich arbeitsintensiv. Er hat eine höhere Steigerungsrate bei den Kosten als kapitalintensivere Branchen. In der medizinischen Behandlung verbieten sich Billigarbeitsplätze, wie sie in etwa der Gastronomie leider üblich sind.   

Das ist aber an sich kein Drama. Der Spruch, "wir könnten uns die Rundumversorgung der Krankenkassen nicht mehr leisten", ist Unsinn. Vor 40 Jahren kostete ein Farbfernseher durchschnittlich einen halben Monatslohn, heute ein deutliches besseres Gerät noch nicht einmal einen Wochenlohn. So kommt es zu Verschiebungen innerhalb der privaten Haushaltsbudgets – anteilig mehr für Gesundheit und weniger für materielle Konsumgüter.

"Die Privaten geben für die gleiche Behandlung durchschnittlich 30 Prozent mehr aus als die Gesetzlichen"

Für unsinnige Ausgaben sorgt das duale System von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die Privaten geben für die gleiche Behandlung durchschnittlich 30 Prozent mehr aus als die Gesetzlichen, ihre Verwaltungskosten sind doppelt so hoch.

Knieps: Genau. Bei uns machen außerdem Ärzte viele Dinge, die in anderen Ländern von anderen Gesundheitsberufen gemacht werden – also von Pflegekräften, Physio- und Psychotherapeuten und so weiter. Wir sind ein total arztdominiertes System.

Und die berühmte „Apparatemedizin“ – ist die ein Kostentreiber?

Knieps: Natürlich. Jede neue Technologie kostet anfangs viel. Aber sobald sie Routine wird, sinken die Preise. Als der Chirurg Christiaan Barnard in den 60er-Jahren das erste Herz verpflanzte, war es Zukunftsmusik, dass dies zur Routine werden könnte. Heute sind Herz- oder Lebertransplantationen eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Erst sind solche Eingriffe teuer, aber später werden sie zum Tagesgeschäft. Es treten Skaleneffekte auf, die das ganze billiger machen.

Das Problem ist: Für echte Innovationen gibt es kaum Preisgrenzen. Die Pharmaindustrie setzt ihre Preise durch – meist mit dem Argument, die USA zahlen ja auch so viel. Und Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land in Europa muss auch den teuersten Preis bezahlen.

Reiners: Und die Politik rennt ständig hinterher. Der 2003 eingeführte Gemeinsame Bundesausschuss, in dem die Verbände der Ärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser zusammensitzen, war zwar ein Fortschritt, weil er erstmals festlegt, was medizinisch evident ist. Aber die Medizinindustrie hat Gegenstrategien entwickelt. Sie ist den Krankenkassen immer einen Schritt voraus – ein ewiges Hase-und-Igel-Spiel.

Es gibt private und gesetzliche Krankenversicherungen. Leben wir damit in einer Zwei-Klassen-Medizin?

Knieps: Wenn, dann gibt es ein Mehrklassensystem. Der eigentliche Unterschied ist nicht, ob man privat oder gesetzlich versichert ist, sondern ob man sich im System auskennt. Wer Beziehungen hat, wer weiß, wie man mit Ärztinnen und Ärzten spricht, bekommt schneller Termine.

Reiners: Ganz genau. Ich bin als pensionierter Beamter privat versichert und habe erlebt, wie schwer es sein kann, auch in einem eigentlich bestens versorgten Viertel einen Facharzttermin zu bekommen. Viele Facharztpraxen sind „closed shops“: Sie haben ihre Stammklientel, die sie auch gut versorgen. Aber gleichzeitig nehmen sie keine neuen Patienten mehr auf.

Knieps: Hinzu kommen absurde Abrechnungslogiken. Das Quartalssystem zwingt zu unnötigen Arztbesuchen. Ich habe Diabetes – eigentlich müsste ich viermal im Jahr zum Arzt, obwohl einmal reichen würde. Aber das System belohnt Quantität, nicht Qualität.

"Der eigentliche Unterschied ist nicht, ob man privat oder gesetzlich versichert ist, sondern ob man sich im System auskennt."

Reiners: Auf dem Land kommt noch Unterversorgung dazu. In Berlin sollte es kein Problem sein, einen Arzttermin zu bekommen, auch wenn man oft lange warten muss, In etlichen ländlichen Regionen sieht das schon ganz anders aus, weil es dort überhaupt keine gut erreichbaren Facharztpraxen mehr gibt.

Mein Eindruck ist: Wer gebildeter und wohlhabender ist, lebt auch gesünder. Würden Sie das so unterschreiben?

Knieps: Absolut. Alle großen Public-Health-Studien zeigen das. Der Professor lebt im Schnitt zehn Jahre länger als der Schichtarbeiter. Das ist kein Zufall. Bildung, Einkommen, Wohnumfeld – das alles bestimmt, wie man lebt.

Reiners: …und auch, wie lange man gesund bleibt. Es gibt die sogenannte „Kompressionsthese“: Menschen mit höherem Sozialstatus bleiben bis ins hohe Alter relativ gesund und bringen die größten Behandlungskosten erst im letzten Lebensjahr, wo sie dann pflegebedürftig sind oder teure Operationen anfallen. Diese – ab, sagen wir mal, dem 80. Lebensjahr – prinzipiell zu unterlassen, ist jedoch aus ethischer Sicht inakzeptabel. Das muss im Einzelfall anhand medizinischer Kriterien entschieden werden.

Wenn Gesundheit auch sozialökonomisch bedingt ist, dann muss sich auch etwas in anderen Bereichen ändern, oder?

Knieps: Das stimmt. Gesundheitspolitik allein kann das nicht richten. Wir brauchen bessere Bildung, bessere Arbeitsbedingungen, gute Bezahlung und eine bessere Ernährungspolitik, weil die Sozialfaktoren entscheidend sind. Wir könnten viel mehr durch Änderung der Ernährungsgewohnheiten, durch eine Zuckersteuer, durch eine härtere Besteuerung von Alkohol und solche Sachen als durch Veränderungen im Gesundheitssystem bewirken. Aber das ist natürlich unpopulär. Es wird als freiheitseinschränkend angesehen.

Reiners: Japan zeigt, dass Kultur und Lebensstil mehr zählen als Budgets. Es hat weltweit die höchste Lebenserwartung und vergleichsweise niedrige Gesundheitsausgaben pro Kopf.

Knieps: Aber die Lebenserwartung in Japan sinkt, weil die westlichen Lebensgewohnheiten zunehmen.

Bedingt durch die Anti-Corona-Maßnahmen war die Welt zwei Jahre lang im Ausnahmezustand. Das soziale Leben wurde zugunsten des Gesundheitsschutzes stark eingeschränkt, teils auch während der Arbeitszeit durch Homeoffice und E-Learning. Wie beurteilt ihr das rückblickend – ging der Gesundheitsschutz zu sehr zu Lasten des sozialen und wirtschaftlichen Lebens?

Knieps: Ja, ganz klar. Ich habe damals zur Gruppe um den Internisten Matthias Schrappe gehört, die diese Maßnahmen von Anfang an sehr kritisch gesehen hat. In den sozialen Medien hat man sich über uns den Mund zerrissen – wir würden Verschwörungstheorien anhängen. Aber wir haben immer gefragt: "Wo ist eigentlich die Evidenz für das, was da gemacht wird?" Und bei vielen Maßnahmen gab es nun mal Evidenz für deren Schädlichkeit.

Warum hat man diese Maßnahmen dann trotzdem implementiert?

Knieps: Es gab ja keinen Masterplan Pandemie, keine wirklich erprobten Konzepte. Entscheidungen wurden unter großer Unsicherheit getroffen – das gestehe ich durchaus zu. Aber irgendwann hat sich die Politik in ihrer eigenen Blase verschanzt. Immer dieselben Wissenschaftler, immer dieselben Stimmen – und kaum jemand, der auf die sozialen Folgen geschaut hat.

Es war unverhältnismäßig, dass Menschen nicht zu sterbenden Angehörigen durften oder Kinder monatelang nicht in die Schule. Die sozialen Schäden wurden größtenteils ausgeblendet. Virologen haben entschieden, was zu tun ist, nicht etwa Kinderärzte, Psychologen oder Sozialarbeiter. Und so kam es, dass man Millionen Menschen in Isolation geschickt hat, ohne an ihre Lebensrealität oder die Diversität der Gesellschaft zu denken.

"Man hat im Grunde reagiert, als wäre alles wie 1919 bei der Spanischen Grippe"

Reiners: Ich sehe das ähnlich. Man hat im Grunde reagiert, als wäre alles wie 1919 bei der Spanischen Grippe. Dabei leben wir heute in einer ganz anderen Gesellschaft. Sie ist viel diverser und wohlhabender als vor 100 Jahren. Zum Beispiel lebte damals in einer Zwei-Zimmer-Wohnung nicht wie heute eine Person, sondern oft eine große Familie.

Wie erfolgreich wurden die Corona-Schutzmaßnahmen kommuniziert?

Knieps: Man kann es nicht anders sagen: Die Kommunikation war eine Katastrophe. Politiker und Experten, aber auch die Medien haben mit Angst gearbeitet. Man denke nur an die Bilder von Leichentransporten in Italien oder an Aussagen wie „Kinder sind Gefährder“ von Karl Lauterbach. Das hat die Leute verunsichert und gespalten.

Reiners: Und dadurch hat das Vertrauen gelitten. Das merkt man heute noch. Viele Menschen glauben der Politik oder den Medien nicht mehr, weil sie das Gefühl haben, man habe sie damals bevormundet. Das Misstrauen ist geblieben. In Skandinavien hat man es anders gemacht und keine Close-down-Strategie verfolgt. Diese Politik wurde hier als verantwortungslos dargestellt. Aber im Nachhinein sieht man, dass sie durchaus sachgerecht war.  

Wo liegen die größten Baustellen des Sozialversicherungssystems? Was muss die Politik unbedingt angehen?

Reiners: In der Rentenversicherung muss das vorrangige Ziel sein, Altersarmut zu verhindern. Dafür müsste man den Kreis der Sozialversicherten erweitern, also wie zum Beispiel in Österreich oder der Schweiz, wo alle Erwerbstätigen einzahlen. Die Behauptung von Friedrich Merz, das sei alles nicht mehr bezahlbar, ist Unsinn.

"Bezahlt werden muss die Alterssicherung immer, egal ob umlagefinanziert oder kapitalgedeckt"

Bezahlt werden muss die Alterssicherung immer, egal ob umlagefinanziert oder kapitalgedeckt. Der Preis für die von Merz und anderen geforderte Privatisierung der Altersvorsorge wäre eine wachsende Altersarmut.

Richtig große Baustellen liegen auch in der Pflege- und Krankenversicherung. Bei der Pflege habe ich noch etwas mehr Hoffnung. Die Reform unter CDU-Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe Mitte der 2010er-Jahre war zielgerecht und hat die Leistungen der Pflegeversicherung sachgerecht gestaltet. Aber die Finanzierung bleibt das Problem. Solange man das Dogma der „Sozialbremse“ hochhält, blockiert man sozial gerechte Lösungen.

Wie sieht's in der Gesundheitsversicherung aus?

Reiners: Im Gesundheitswesen ist das Ganze noch schwieriger: Die Strukturen sind völlig veraltet – starre Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung, zu viele Einzelpraxen, zu wenig Integration, keine gut funktionierende Notfallversorgung. Die Politik hat gegenwärtig keinen Mut, diese Grundsatzfragen anzupacken. Stattdessen kommen immer wieder die alten, längst widerlegten Ideen – Selbstbeteiligung, Leistungskürzungen, Budgetdeckelungen und so weiter.

Dazu kommt: Das System verändert sich auch von innen, gerade durch jüngere Ärztinnen und Ärzte, die keine Lust haben, Unternehmer zu sein. Viele wollen lieber angestellt arbeiten. Sinnvoll wäre es, wenn Kassenärztliche Vereinigungen Praxen aufkaufen und als medizinische Versorgungszentren (MVZ) betreiben würden – aber da stößt man auf ideologische Blockaden. Die Einzelpraxis ist ökonomisch wie medizinisch längst überholt.

Und die Rente?

Reiners: Was ihre Finanzierung angeht: Wenn alle Erwerbstätigen einzahlen würden – wie etwa in der Schweiz –, könnte man den Beitragssatz sogar senken. Das gilt erst recht in der Krankenversicherung. Eine Bürgerversicherung mit höherer Beitragsbemessungsgrenze könnte die Beiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung um mehrere Prozentpunkte reduzieren. Aber dafür braucht es politischen Willen – und den sehe ich gerade nicht.

"Wenn alle Erwerbstätigen einzahlen würden, könnte man den Beitragssatz sogar senken"

Und worin sehen Sie die großen Baustellen der Zukunft, Herr Knieps?

Knieps: Ich stimme Hartmut grundsätzlich zu. Aber: Große „Big-Bang“-Reformen funktionieren nicht. Das ist so eine Fantasie der Hauptstadtjournalisten – einmal alles umkrempeln und dann ist Ruhe. So läuft das in der Daseinsvorsorge nicht. Dann ist mit geschlossenem Widerstand aus den Reihen der relevanten Akteure zu rechnen – Ärzte, Kassen, Gewerkschaften, Arbeitgeber. Gegen alle gleichzeitig kann man nichts reformieren.

Wir haben viele Baustellen: den Zugang zum System, der regional und sozial immer ungleicher wird; überforderte Ärzte, die zu viel Bürokratie am Hals haben; zu viele stationäre Behandlungen, die anderswo ambulant laufen würden. Das System optimiert sich betriebswirtschaftlich, aber nicht gesamtgesellschaftlich. Wir haben keinen Ärztemangel, sondern ein Verteilungsproblem der Arztsitze und zu viele kleine Krankenhäuser mit Personal- und Qualitätsproblemen.

Was ist noch wichtig?

Knieps: Investitionen in Medizinische Versorgungszentren sind ein Thema – aber es ist zu einfach, da nur schwarz-weiß zu denken. Ich mag diese romantische Vorstellung vom Landarzt mit der Arzttasche oder vom kleinen Stadtkrankenhaus nicht. Wir brauchen professionelle, moderne Strukturen.

"Ich mag diese romantische Vorstellung vom Landarzt mit der Arzttasche oder vom kleinen Stadtkrankenhaus nicht."

Das Geld wäre da, die Ärzte- und Apothekerbank könnte das gut finanzieren, auch könnten die Pensionsfonds der Ärztekammern hier ihr Geld sinnvoll anlegen. Aber es fehl klarer politische Rahmen mit einem wirklichen Reformwillen.

Das System läuft auch oft ineffizient, weil die ökonomischen Anreize falsch gesetzt sind. Aber das kann man politisch steuern, zum Beispiel über die Vergütungsregeln. Man muss es nur wollen.