Zukunftsszenario

Wie Trump Europa befreien könnte

| 12. November 2024
IMAGO / Zuma Press

Auch wenn Trump eine isolationistische Politik verfolgen sollte, ist es unwahrscheinlich, dass er sich kurzfristig komplett von Europa und der Ukraine lösen wird. Langfristig jedoch bietet sich für Europäer die Chance, mehr strategische Autonomie zu erlangen.

Der schlimmste Albtraum der EU ist wahr geworden: Donald Trump kehrt ins Weiße Haus zurück. Seine Wiederwahl löste in vielen europäischen Hauptstädten Ungläubigkeit bis Entsetzen aus. Schließlich haben die meisten europäischen Staats- und Regierungschefs in den letzten vier Jahren die strategischen Interessen der EU zugunsten der Unterwerfung unter Bidens rücksichtslose Außenpolitik geopfert – und zwar überall, von China bis zum Gazastreifen. Das Ergebnis? Europa ist heute politisch, wirtschaftlich und militärisch stärker von den USA abhängig als jemals zuvor seit 1945.

Noch schwerwiegender ist, dass sich die europäischen Eliten von Washington in einen verheerenden Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine hineinziehen ließen und ihre Bürger dafür mit dem Zusammenbruch der Industrie und steigenden Preisen bezahlen – und das, obwohl der Konflikt in Osteuropa den Kontinent beispiellosen militärischen Risiken aussetzt, nicht zuletzt der Möglichkeit eines Atomkriegs. Trotz all dieser Opfer und des Eifers, den Wünschen des Pentagons nachzukommen, könnte Trumps isolationistische Neigung letztlich alles zunichtemachen.

Kurzfristige Folgen…

NATO-Expansionismus, wirtschaftliche und politische Abkopplung von Russland, Unterstützung von Selenskyjs Strategie eines Sieges um jeden Preis – all dies wurde im Namen des transatlantischen Bündnisses gerechtfertigt, mitunter auf Kosten europäischer Interessen.

Unter Biden bedeutete dies, eine aggressive Agenda zu verfolgen – eine Agenda, die darauf basiert, jeglichen Herausforderungen für die US-Hegemonie aggressiv entgegenzutreten – alles angeblich Teil eines existenziellen Kampfes zwischen Demokratie und Tyrannei.

Aber da Trump wieder das Sagen hat und seine Regierung wahrscheinlich eine isolationistische Ausrichtung einschlagen wird, besteht die Gefahr, dass all diese Opfer umsonst gewesen sind. Obwohl der designierte Präsident sich wahrscheinlich nicht ganz aus der NATO zurückziehen wird, hat er während des Wahlkampfs seine Skepsis gegenüber dem Militärbündnis zum Ausdruck gebracht. Unter anderem kritisierte er europäische Länder dafür, dass sie die Ziele für Verteidigungsausgaben nicht erreichen. Er schlug sogar vor, dass die USA NATO-Mitglieder nicht schützen würden, wenn sie sich nicht angemessen an den Rüstungsausgaben beteiligen.

Diese Aussicht beunruhigt das EU-Establishment vor allem deshalb, weil es jahrelang die erklärte „gegenseitig verstärkende strategische Partnerschaft“ von EU und NATO unterstützt hat – sowohl als Bollwerk gegen Russland als auch zur Sicherung der globalen Vorherrschaft des Westens. Ein geschwächtes Engagement der USA für die NATO bedroht daher die Grundlagen der neu entdeckten ideologischen Identität der EU: eine Erweiterung des amerikanischen Einflussbereichs.

Der potenzielle Abzug amerikanischer Waffen und Gelder aus Kiew würde die Fähigkeit der EU, den Stellvertreterkrieg in der Ukraine allein fortzusetzen, ernsthaft beeinträchtigen – insbesondere angesichts der angespannten Finanzlage und des trägen militärisch-industriellen Komplexes vieler Mitgliedstaaten. Trump selbst hat angedeutet, in diese Richtung zu gehen, und insbesondere Wolodymyr Selenskyj für seine Kritik an der Kriegsschuld Putins kritisiert.

Trump hat sogar angedeutet, er könnte einseitig einen Waffenstillstand und ein Friedensabkommen zwischen Russland und der Ukraine durchsetzen. Dies ist jedoch unwahrscheinlich: Russlands Sieg auf dem Schlachtfeld bringt Moskau in die Lage, mit Nachdruck auf so ein striktes Abkommen drängen zu können. Selbst Trump könnte Schwierigkeiten haben, dieses zu akzeptieren.

Wahrscheinlicher ist daher, dass die künftige republikanische Regierung weiterhin Waffen an Kiew liefert, aber Europa auffordert, die Rechnung zu bezahlen – eine Situation, die es dem Konflikt ermöglichen würde, weiter zu schwelen, selbst wenn Europa ärmer wird. Und das, obwohl selbst westliche Medien wie BBC oder The Economist inzwischen einräumen, dass der Krieg in der Ukraine verloren ist.

Dieses Szenario könnte vermieden werden: Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs verstehen würden, dass die Beendigung des Krieges in der Ukraine und die Normalisierung der Beziehungen zu Russland im höchsten wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interesse des Kontinents liegen. Wenn sie klug wären, könnten sie sogar Trumps instinktiven Isolationismus aufgreifen und selbst auf eine Einigung drängen.

Aber da dies die europäische Elite dazu zwingen würde, ihre Ukraine-Politik völlig umzukehren – und damit ihr eigenes Scheitern einzugestehen –, ist das ein unwahrscheinliches Szenario. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass eine solche Kehrtwende die Europäer dazu zwingen würde, die Sicherheitsbedenken Russlands endlich ernst zu nehmen.

Das wäre eine Wende, die das seit Jahren verfeinerte Anti-Moskau-Narrativ sofort untergraben würde. Angesichts der enormen wirtschaftlichen Belastungen, die die pro-Kiew-Haltung der EU für die Durchschnittseuropäer mit sich gebracht hat, wäre die daraus resultierende politische Gegenreaktion für die regierenden Parteien offensichtlich verheerend.

Über diese kurzfristigen Bedenken hinaus gibt es jedoch grundlegendere geopolitische Überlegungen. Zum einen würde ein Frieden mit Russland die europäischen Staats- und Regierungschefs dazu zwingen, endlich die multipolare Ordnung anzuerkennen, die heute auf der ganzen Welt existiert – eine Ordnung, in der ein freies und unabhängiges Europa als Brücke zwischen dem Westen und den aufstrebenden eurasischen Mächten des neuen Jahrtausends fungieren könnte. Zum anderen würde es sie dazu zwingen, zu erkennen, dass ihre Zukunft darin liegt, sich aus dem Würgegriff Washingtons zu befreien und dessen verzweifelte Versuche, seine Autorität zu bewahren, zurückzuweisen.

Doch selbst wenn Trumps aufkeimender Isolationismus als Chance und nicht als Bedrohung gesehen werden sollte, wird eine solch dramatische Neuausrichtung nicht stattfinden – zumindest nicht in nächster Zeit. Die meisten EU-Führungskräfte sind dem Transatlantizismus einfach zu sehr verhaftet – ideologisch, psychologisch und materiell –, um sich vollständig loszusagen, unabhängig davon, wer das Oval Office besetzt. Deshalb ist es zweifelhaft, dass Trumps Fokus auf eine „America First“-Politik die EU dazu drängen wird, eine größere strategische Autonomie anzustreben. Auf jeden Fall wäre eine „europäische NATO“ wahrscheinlich noch aggressiver gegenüber Russland als die Biden-Regierung, solange Menschen wie Ursula von der Leyen an den Brüsseler Schalthebeln der Macht sitzen.

Gleichzeitig ist es trotz Trumps isolationistischen Töne naiv anzunehmen, dass er Europa fallenlassen würde. Anders ausgedrückt: Trumps Wille, dass Europa für seine eigene Verteidigung aufkommt, bedeutet nicht, dass er einen geopolitisch selbstbewussteren Kontinent unterstützt. Man denke nur an die Bemühungen seiner Regierung, den Bau der Nord-Stream-Pipeline zu stoppen.

Jeder Schritt in Richtung einer größeren strategischen Autonomie Europas würde daher unweigerlich bedeuten, mit einem amerikanischen Gegenschlag fertig werden zu müssen. Es versteht sich von selbst, dass ein solches Programm Rückgrat, strategische Vision und intellektuelle Finesse erfordern würde – und nichts davon ist in der politischen Klasse Europas gerade ausreichend vorhanden.

Kurzfristig ist es daher am wahrscheinlichsten, dass die EU-Staats- und Regierungschefs versuchen werden, sich an eine Trump-Präsidentschaft anzupassen und unangenehme Konflikte zu vermeiden. Der Ton mag ein anderer sein, aber man kann davon ausgehen, dass sich die Europäer weiterhin den US-Interessen unterordnen werden.

… und langfristige Folgen

Trumps Sieg wird wahrscheinlich rechtspopulistischen Politikern auf dem gesamten europäischen Kontinent Auftrieb geben, von Viktor Orbán in Ungarn bis Giorgia Meloni in Italien. Dies wiederum könnte die etablierten Parteien weiter schwächen und letztlich die Neuausrichtung des Kontinents beschleunigen.

Die Stärkung des Nationalkonservativismus im Westen könnte langfristig jedoch schwerwiegende geopolitische Auswirkungen haben. Zunächst einmal macht Russlands Ablehnung der Auswüchse des Liberalismus es zu einem „natürlichen“ Verbündeten der westlichen Konservativen, insbesondere in einer Welt, in der die ideologische Spaltung zunehmend zwischen „Nationalpatriotismus“ und „Kosmopolitismus-Globalismus“ zu verlaufen scheint.

Darüber hinaus sollten Konservative, die den progressiven Universalismus in ihrem eigenen Land ablehnen und die kulturellen Besonderheiten ihrer Nation begrüßen, auch international gegen dieselben Ideen sein. Es wäre daher sicherlich klug, die Versuche Chinas, Russlands und anderer BRICS-Staaten zu unterstützen, die Achtung der zivilisatorischen Besonderheit und der traditionellen Werte aller Nationen zu fördern und gleichzeitig die EU und ihre liberal-universalistischen Ansprüche zu verwerfen.

In diesem Sinne könnte sich Trump noch als entscheidender, wenn auch unfreiwilliger Verbündeter bei dem Versuch der BRICS erweisen, eine „konservativere“ Weltordnung aufzubauen. Wahrscheinlich ist es das, was das technologisch-globalistische Establishment der EU am meisten fürchten sollte.