Brief aus Brüssel

Die „Zeitenwende“ frisst ihren Erfinder

| 20. November 2024

In Brüssel hat die Scholz-Dämmerung begonnen. Der Kanzler hinterlässt ein bitteres europapolitisches Erbe – und das nicht nur in der Ukraine-Politik.

Eine Liebesbeziehung war es nie. Während Angela Merkel als deutsche Chefin der Europäischen Union und „Führerin der freien Welt“ gefeiert wurde, stand Olaf Scholz in Brüssel immer irgendwie am Rande.

Der Start seiner Amtszeit als Bundeskanzler wurde vom Ukraine-Krieg und vom EU-Sondergipfel in Versailles überschattet, den der französische Staatschef Emmanuel Macron mit größtmöglichem Pomp ausgerichtet hat.

Der nüchterne Hanseat Scholz revanchierte sich später bei Macron mit Fischbrötchen. Der deutsch-französischen Freundschaft hat dieses kulinarische Highlight allerdings nicht geholfen - die Beziehungen blieben unterkühlt.

Nun, da Scholz das Ende seiner „Fortschritts-Koalition“ angekündigt hat, weint ihm in Brüssel kaum jemand eine Träne nach. In der EU hat die Scholz-Dämmerung begonnen, alle warten auf den nächsten Kanzler.

Dafür gibt es viele Gründe. Nicht alle haben mit Scholz zu tun. Ein wichtiges Motiv ist der Frust über das „German vote“ – also die Unfähigkeit der Deutschen, europapolitische Entscheidungen zu treffen.

Das liegt nicht nur an Scholz’ Führungsschwäche, sondern auch und vor allem an der FDP. Die Liberalen haben bei wichtigen EU-Gesetzen immer wieder dazwischen gefunkt, so dass sich Deutschland am Ende enthalten musste. Das nervt.

Der FDP und ihrem geschassten Bundesfinanzminister Christian Lindner ist es auch zu „verdanken“, dass die EU nun wieder auf Austeritätskurs ist und halb Europa über die deutsche Schuldenbremse schimpft.

Lindner setzte eine unbrauchbare Reform der Schulden-regeln für den Euro durch, die selbst für Berlin zu restriktiv ist, nun aber dennoch in Kraft tritt. Dass Scholz das nicht verhindert hat, ist unverständlich.

Schließlich war er es, der – noch in der alten Regierung Merkel – dafür sorgte, dass die EU erstmals im großen Stil selbst Schulden aufnehmen kann. Ohne Scholz wäre der Corona-Aufbaufonds wohl nie zustande gekommen.

Doch als Kanzler hat er es nicht vermocht, auf diesem sozialdemokratischen Erfolg aufzubauen. Was seinerzeit als „Hamiltonian moment“ gefeiert wurde – der Einstieg in eine eigenständige europäische Fiskalpolitik – ist wirkungslos verpufft.

Unter Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) ist der Aufbaufonds zur politischen Manövriermasse geworden, eine stimulierende Wirkung entfaltet er nicht. Statt dem versprochenen „Aufbau“ droht nun der wirtschaftliche Niedergang.

Dass Scholz’ absehbarer Abgang in der EU keine Trauer auslöst, hat aber noch einen anderen Grund: die Ukrainepolitik. Dabei hatte der Kanzler da mal einen Lauf. Als er nach der russischen Invasion in der Ukraine die „Zeitenwende“ ausrief, klatschte Brüssel laut Beifall.

Die Nachrüstung der Bundeswehr und die Aufrüstung der Ukraine kam dem bellizistischen europäischen Zeitgeist entgegen. Allerdings setzte Scholz dann eigene Akzente - Nein zu einem schnellen NATO-Beitritt der Ukraine, Nein zur Lieferung des deutschen Taurus-Systems nach Kiew.

Gleichzeitig versäumte er es, seine Politik zu erklären und Verbündete in der EU zu suchen. Scholz’ Kurs in der Ukraine-Politik war zwar mit US-Präsident Joe Biden abgestimmt. Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und die Hardliner in Europa wollten mehr.

Nun wittern sie ihre Chance. Das Interregnum in Washington – Biden ist noch da, doch Donald Trump wirft seine dunklen Schatten voraus – nutzen die Vertreter einer harten Linie, um Scholz an den Rand zu drängen und neue Bündnisse ohne Deutschland zu schmieden.

Vor allem Polens rechtsliberaler Regierungschef Donald Tusk prescht vor. Er lädt zu Treffen einer selbst ernannten Ukraine-Freundesgruppe, Deutschland ist nicht dabei. Und er hat Scholz’ jüngstes Telefongespräch mit Kremlchef Wladimir Putin scharf verurteilt.

Nach den deutsch-französischen sind auch die deutsch-polnischen Beziehungen auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Nun sind es Tusk und Macron, die das Ruder übernehmen und die Ukraine noch mehr aufrüsten wollen. Scholz wirkt zunehmend isoliert – die „Zeitenwende“ frisst ihren Erfinder.

Es wäre jedoch falsch, die Krise an einer einzigen Person festzumachen. Die derzeit schwache deutsche Position in der EU ist eben auch auf Lindner zurückzuführen – und auf Wirtschaftsminister Robert Habeck, der die deutsche Wirtschaft in die Krise geführt hat und sich nun als Kanzlerkandidat feiern lässt.

Letztlich haben wir es aber mit einer verfehlten EU-Politik zu tun.

Die schädlichen neuen Schuldenregeln sind nur das Tüpfelchen auf dem i. Gescheitert sind auch die Wirtschaftssanktionen, die Russland stärken und Deutschland schwächen. Und da haben wir noch nicht einmal von der neuen, restriktiven China-Politik geredet, die einen der wichtigsten deutschen Märkte treffen wird.

Diese und andere Fehlentscheidungen schwächen Europa – und das zu einer Zeit, da immer mehr Ressourcen in Rüstung und Krieg gehen. Scholz hat immerhin versucht, das Schlimmste zu verhindern und eine gewisse soziale Balance zu wahren. Doch zugleich hat er den Kurs der EU-Kommission und die Wiederwahl von der Leyens unterstützt.

Das war vielleicht sein größter Fehler – neben dem viel zu späten Rausschmiss von Lindner. Von der Leyen wird die EU und Deutschland noch tiefer in die Krise führen. Die Sozialdemokraten tragen ihre Politik dennoch mit – wenn auch mit geballter Faust in der Tasche. Auch das gehört zu Scholz’ europapolitischen Erbe – es ist bitter.